Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Gegenstand und Zielsetzung der Arbeit
2. Der Mythos des Auges
3. Die Bedeutung der Augen für die Charakterisierung
3.1. Coppelius/ Coppola
3.2. Klara
3.3. Olimpia
3.4. Nathanael
4. Das Augenmotiv im Zusammenhang mit Nathanaels Wahnsinn
4.1. Das Märchen von dem Sandmann
4.2. Die alchemistischen Versuche und der Tod des Vaters
4.3. Nathanaels Dichtung über seine Vorahnung
4.4. Das Perspektiv des Coppolas
4.5. Endgültiger Ausbruch des Wahnsinns
4.5.1. Erster Wahnsinnsanfall
4.5.2. Der Selbstmord Nathanaels
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Gegenstand und Zielsetzung der Arbeit
Das 1817 veröffentlichte Werk „Der Sandmann“ von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann handelt nicht von der Sagengestalt des Sandmannes, der mithilfe seines magischen Sandes liebevoll den Kindern Träume bringt.[1] Vielmehr handelt es von dem Protagonisten Nathanael, der in der Gestalt des Sandmannes seine größte Angst sieht, die Angst vor dem Verlust der Augen. Seine Kinderfrau erzählt ihm das schreckliche Märchen des Sandmannes, in welchem dieser mithilfe des Sandes brutal die Augen der Kinder raubt. Nathanael sieht sich seiner größten Angst ausgeliefert, die sich durch sein ganzes Leben ziehen wird, bis hin zu seinem Tod.
Die folgende Ausarbeitung wird sich mit einem der Motive in Hoffmanns Werk auseinandersetzen. Es wird erläutert, inwieweit die Augen eine besondere Rolle spielen und warum Nathanael so große Angst verspürt, diese zu verlieren. Zunächst wird allgemein auf den Mythos des Auges eingegangen, anschließend dargestellt, inwiefern Hoffmann die handelnden Personen mithilfe ihrer Augen charakterisiert. Dabei wird auf die Figuren Coppelius beziehungsweise Coppola, Klara, Olimpia und Nathanael eingegangen, weil sie in dem Werk als prägend für das Motiv der Augen gelten. Es wird kurz psychoanalytisch erklärt, warum Nathanaels Angst vor dem Augenverlust gleichgesetzt werden kann mit der Kastrationsangst. Im weiteren Verlauf wird genauer auf die Stationen des Lebens Nathanaels eingegangen, die prägend für seine Angst scheinen, die zum Schluss in zwei Wahnsinnsanfällen enden wird.
2. Der Mythos des Auges
In E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ gelten die Augen als zentrales Motiv für den Verlauf der Erzählung. Dazu werden neben den physischen Augen auch die künstlichen, wie die Brillen und das Perspektiv Coppolas, gezählt. Sie werden „zu einer Art Transformationsmedium“,[2] wodurch die Geschichte maßgeblich gesteuert und zum „eigentlichen Subjekt der Erzählung“[3] wird.[4] Augen gelten sowohl als „wichtigste(s) Sinnesorgan des Menschen“[5] als auch „als Spiegel der Seele“.[6] Das bedeutet, dass anhand der Augen die Menschlichkeit erkannt werden kann. Das Auge ist „das Organ des Lichtes und der Bewußtheit“,[7] weil die Welt wahrgenommen und ihr somit Realität gegeben wird.[8] Durch das Sehen kann die Außenwelt verstanden werden. Wenn man sie nicht sieht, versteht man sie nicht und wird blind gegenüber seiner Umwelt. Aus diesem Grund gelten die Augen „als Metapher für Erkenntnis schlechthin“.[9] Man denke nur an den Ausspruch „jemanden die Augen öffnen“, wodurch verdeutlicht wird, dass einem die Wahrheit über eine Tatsache kundgetan wird. Durch das Sehen entstehen gesellschaftliche Beziehungen, weil dabei ein „Austausch zwischen Innen und Außen“[10] entsteht.[11]
3. Die Bedeutung der Augen für die Charakterisierung
Da die Augen als die „Fenster der Seele“[12] gelten, liegt es nahe anhand dieser die Charaktereigenschaften der Figuren in Hoffmanns Werk zu beleuchten, weil sich in ihnen die wahren Gefühle und Befindlichkeiten des Trägers zeigen, ohne dass das Gegenüber getäuscht werden kann.[13] Vor allem bei der Darstellung des Automaten Olimpia scheint es wichtig ihren Augen eine besondere Rolle zuzuordnen, weil „mit den Augen die Automate eine Schein- Seele [erhalten].“[14]
3.1. Coppelius/Coppola
Im Kindesalter ängstigt sich Nathanael sehr vor Coppelius, den Freund des Vaters, in dem er den gefürchteten Sandmann sieht.[15] Coppelius wird mit „buschichten grauen Augenbrauen, unter denen ein Paar grünliche Katzenaugen stechend hervorfunkeln“ (SA 8, 23) beschrieben. Diese düstere Darstellung und die Tatsache, dass seine Augen leuchten, macht dem Rezipienten deutlich, dass er von Nathanael als böse und unheimlich empfunden wird. Sein zwielichtiger Charakter wird erkennbar, weil man sein Wesen aufgrund der verdeckten Augen nicht erkennen kann. Der Student Nathanael glaubt, dass der später auftauchende Coppola dieselbe Person sei, wie Coppelius, weil „Coppelius’ Figur und Gesichtszüge [...] zu tief in [sein] [...] Innerstes eingeprägt [sind], als dass hier ein Irrtum möglich sein sollte“ (SA 12, 4- 6). Allerdings kommen ihm auch Zweifel an seiner These auf (vgl. SA 15, 17- 18), weil Coppelius Deutscher und Coppola Piemonteser ist, aber ganz möchte Nathanael von seiner Vermutung nicht wegkommen (vgl. SA 15, 24). Sie lässt sich anhand der ähnlich klingenden Namen bestätigen. Denn „aus der Gestalt des ‚ S andmanns Coppelius’ [wird] der ‚ L andsmann Coppola’.“[16] Der Name der beiden verweist zusätzlich auf das Leitmotiv der Augen. Das italienische Wort „coppo“ bedeutet „Augenhöhle“ und „als Bindeglied dazwischen fungiert die ‚coppella’ die schwarze Höhlung des Schmelztiegels.“[17] Der Schmelztiegel deutet auf die alchemistischen Experimente hin, die Coppelius und Nathanaels Vater abends durchgeführt haben.[18] Bezeichnend ist auch, dass Coppola als „Wetterglashändler“ (SA 15, 17) auftaucht, wodurch die Geschichte erst ihren Lauf nimmt. Denn nur durch den Verkauf seines Perspektivs an Nathanael, erkennt er Olimpias wahre Gestalt nicht und verliebt sich in sie. In dem Streitgespräch zwischen Spalanzani und Coppola am Ende der Erzählung wird dem Rezipienten deutlich, dass die beiden für die Herstellung des Automaten Olimpia zuständig sein müssen. Coppola hat wohl ihre Augen und Spalanzani ihren Körper geformt (vgl. SA 30, 43- 31,1).
3.2. Klara
Schon ihr Name deutet auf ihre Persönlichkeit hin. Klara ist abzuleiten von dem lateinischen Wort „clarus“ und kann mit „klar, hell, leuchtend, glänzend, deutlich, verständlich“[19] übersetzt werden. Daraus lässt sich sowohl schließen, dass Klara einen „helle(n) Blick“ (SA 18, 33), der glänzend und leuchtend ist, hat als auch, dass sie „einen gar hellen, scharf sichtenden Verstand“ (SA 18, 30) hat. Ihre klaren Augen gelten als äußerliches Zeichen für eine klare Seele und klares Denken. Im Laufe der Handlung zeigt sich dem Rezipienten, dass Klara ihre Augen einzig als Wahrnehmungsorgan nutzt und somit ausschließlich die Realität sieht und nicht fantasiert. Ihre Augen werden mit „einem See von Ruisdael[20] [verglichen], in dem sich des wolkenlosen Himmels reines Azur, Wald- und Blumenflur, der reichen Landschaft ganzes buntes, heitres Leben spiegelt“ (SA 18, 16- 18). Die Beschreibung ihrer Augen ähnelt den „Qualitäten einer Muse.“[21] Zudem werden Klaras Augen mit einem Spiegel verglichen. Denn keiner kann sie ansehen, „ohne dass [...] aus ihrem Blick wunderbare himmlische Gesänge und Klänge entgegenstrahlen, die in [...] [das] Innerste(...) dringen“ (SA 18, 20- 21). Der Spiegel gilt als „unbestechliches Medium“[22], weil in ihm „Wahrheit von Schein“[23] getrennt und ausschließlich die Realität reflektiert wird. Wenn Nathanael in ihre Augen sieht, sieht er seine eigenen Ängste und Gefühle.[24] Als „reine Projektionsfläche“[25] gibt sie die Sichtweise des Betrachters wieder und wirft dadurch Nathanael auf sich selbst zurück, wodurch er sich vor seine Problematik, sich von der Angst und dem Bild des Coppelius zu lösen, gestellt sieht, welches er sich von ihm im Kindesalter gemacht hat. Denn mithilfe eines Spiegels kann man zwar etwas anschauen, wie mit einem Perspektiv, aber es bringt doch keine Erkenntnis.[26] Klara kann ihre Gefühle und ihre Stimmung nicht verbergen, denn „in Blick und Rede sprach sich dann ihre nicht zu besiegende geistige Schläfrigkeit aus“ (SA 20, 14- 15). Sie langweilt sich über Nathanaels Gedicht und nimmt ihn dabei nicht ernst. Dadurch entfernen die beiden sich immer mehr voneinander (vgl. SA 20, 19). Klara wird von Nathanael als „lebloses, verdammtes Automat!“ (SA 21, 38- 39) beschimpft aufgrund ihrer rationalen Art und, weil sie als „gefühllos“ (SA 18, 37) gilt.
3.3. Olimpia
Da Olimpia eine Maschine ist, besitzt sie keine menschlichen Augen. Sie wurde von Spalanzani zwanzig Jahre lang gefertigt und gilt als sein „beste(r) Automat“ (SA 31, 28). Coppola hat wahrscheinlich ihre Augen gefertigt (vgl. SA 30, 43) und hat versucht sie so echt wie möglich zu gestalten, damit sie nicht direkt als Automat erkannt wird und Nathanael derartig getäuscht werden kann.[27] Sie bekommt durch ihre künstlichen Augen eine „Schein-Seele“.[28] Als Nathanael Olimpia zum ersten Mal sieht, bemerkt er ihre starren Augen, die ihm wie künstliche erscheinen, weil er in ihnen „keine Sehkraft“ (SA 16, 3) erkennt. Allerdings wird er durch Coppolas Perspektiv getäuscht. Als er durch das Fernrohr sieht, scheint es ihm „als gingen in Olimpias Augen feuchte Mondesstrahlen auf“ (SA 24, 33- 34). Sie wird für ihn immer lebendiger, weil ihre künstlichen Augen ihm immer menschlicher vorkommen (vgl. SA 24, 35). Das bedeutet, dass sie etwas magisches an sich haben müssen. Nathanael wird von ihrem „Liebesblick“ (SA 29, 14) gebannt und kann „nicht los von [...] [ihrem] verführerischem Anblick“ (SA 25, 17), der für in trotz allem „ohne Lebensstrahl“ (SA 28, 43) scheint. Ihn stört es nicht, dass Olimpia nicht mehr sagt als „Ach, Ach“ (SA 30, 6), denn „der Blick ihres himmlischen Auges sagt mehr als jede Sprache“ (SA 30 19- 20). Indem Nathanael sich in sie verliebt, bringt er „seine Seele in ihre innere Leere“.[29] Auf diese Weise wird der Automat für ihn lebendig.[30] Olimpia wird wie Klara zu einer Art Spiegel für Nathanael, „der den männlichen Eros maßstabsgetreu wiedergibt“.[31] In ihr spiegelt sich sein „ganzes Sein“ (SA 27, 27- 28). Durch die Belebung Olimpias belebt er sich selbst, aber eigentlich wird in ihren künstlichen Augen nur seine eigene innere Leere und Leblosigkeit zurückprojiziert. Deswegen fühlt er sich nur von ihr allein „ganz verstanden“ (SA 30, 8- 9). Sie widerspricht ihm nicht und überdenkt sein Verhalten nicht rational im Gegensatz zur klugen Klara. „Olimpia lebt nur für ihn.“[32] Aus diesem Grund scheint es verständlich, dass Nathanael wahnsinnig wird, als er merkt, dass sie eine Maschine ist. Denn als sie ihre Augen bei der Auseinandersetzung zwischen Coppola und Spalanzani verliert, verliert sie auch die geglaubte Menschlichkeit (vgl. SA 31, 23- 24).
Der Name Olimpia deutet auf den Olymp hin, auf dem laut der griechischen Mythologie die Götter thronen und über die Menschen blicken und wachen.[33] Mithilfe Olimpias thronen Coppola und Spalanzani, die sie erschaffen habe, über Nathanael, weil sie ihn mit dem Automaten lenken und ihn in die Irre führen können.
[...]
[1] Vgl. Wahrig, Gerhard: Sandmann, S. 1096, Sp. 3.
[2] Kremer, Detlef: „Ein tausendäugiger Argus“, S. 70.
[3] Ebd.
[4] Vgl. ebd.
[5] Biedermeier, Hans: Auge, S. 42.
[6] Drux, Rolf: Der Sandmann, S. 60.
[7] Biedermeier, Hans: Auge, S. 44.
[8] Vgl. ebd.
[9] Drux, Rudolf: Marionette Mensch, S. 84.
[10] Gendolla, Peter: Die lebenden Maschinen, S. 22.
[11] Vgl. ebd.
[12] Zedler, Johann Heinrich: Auge, Sp. 2168. zit. nach: Drux, Rolf: Der Sandmann, S. 145.
[13] Vgl. Drux, Rudolf: Marionette Mensch, S. 84.
[14] Müller, Dieter: Zeit der Automate, S. 8.
[15] Vgl. Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann, S. 8, Z. 18- 19. Künftig zitiert mit Sigle SA, Seitenangabe und Zeilenangabe.
[16] Kremer, Detlef: „Ein tausendäugiger Argus“, S. 71.
[17] Ebd.
[18] Vgl. Freud, Sigmund: Das Unheimliche, S. 254, Anm. 1.
[19] Vgl. Hau, Rita: Pons, S. 162.
[20] Jacob Isaackszoon van Ruisdael war ein berühmter und hochgeschätzter niederländischer Landschaftsmaler aus dem 17. Jahrhundert (vgl. Grohn, H.W.: Ruisdael, S. 178- 180).
[21] Calian, Nicole: Auge – Perspektiv, S. 46.
[22] Kremer, Detlef: E.T.A. Hoffmann, S. 84.
[23] Ebd.
[24] Vgl. ebd.
[25] Utz, Peter: Das Auge, S. 274.
[26] Vgl. ebd.
[27] Vgl. Tepe, Peter u.a.: Interpretationskonflikte, S. 174.
[28] Müller, Dieter: Zeit der Automate, S. 8.
[29] Drux, Rolf: Der Sandmann, S. 61.
[30] Vgl. ebd.
[31] Kremer, Detlef: E.T.A. Hoffmann, S. 84.
[32] Matt, Peter von: Die Augen der Automaten, S. 85.
[33] Vgl. Hunger, Herbert: Zeus, S. 539.
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- Elisabeth Esch (Autor), 2011, Die Bedeutung der Augen in E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/187874
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