Viele Analysen von Novellen wie "Der Findling", "Das Erdbeben in Chili" oder "Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik" spiegeln sowohl das Bestreben wider, Heinrich von Kleists Behandlung des Katholizismus in jenen Werken autobiographisch zu erklären, als auch die Tendenz, eine strikte Trennung von positiver und negativer Darstellung jener Glaubensrichtung je nach Text erkennen zu wollen. Im "Erdbeben" wird vorrangig Kritik an heuchlerischen Kirchenrepräsentanten und -anhängern gesehen, während in "Die heilige Cäcilie" die katholische Kirche und ihr Glauben angeblich glorifiziert werden.
Diesen Tendenzen kann im vorliegenden Essay nicht völlig widersprochen werden; der Klerus im "Erdbeben" ist vordergründig korrupt und heuchlerisch, und die Kirche in "Die heilige Cäcilie" setzt Blasphemie und Verwüstung bewunderungswürdige Stärke entgegen. Jedoch ist bei genauer Analyse von "Erdbeben" und "Cäcilie" weder eine völlige Abneigung gegen den Katholizismus noch eine kritiklose Zustimmung zu seinen Institutionen erkennbar. Vielmehr gibt es einige Parallelen zwischen den jeweiligen Darstellungen der katholischen Kirche in beiden Novellen. Um neben den Unterschieden auch diese Gemeinsamkeiten herauszufinden, werden im Folgenden die Bilder des Katholizismus in "Das Erdbeben von Chili" und in "Die heilige Cäcilie" untersucht und verglichen.
Die Darstellung des Katholizismus in Heinrich von Kleists Das Erdbeben in Chili und Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik
Die Haltung des Protestanten Heinrich von Kleist zur christlichen Kirche im Allgemeinen und zum Katholizismus im Besonderen ist ein umfangreich beleuchtetes Feld in der Literaturforschung. Dies ist keinesfalls verwunderlich, scheint der Dichter doch im Zuge seiner Kant-Krise oder der generellen Abwendung von den Wissenschaften einen absoluten Wandel in seinem Verhältnis zum Katholizismus vollzogen zu haben. Vergleicht Kleist in einem Brief vom 14. September 1800 die katholische Religion noch mit der „Sklaverei“, stellt er jene Lehre in einem anderen Schreiben vom 21. Mai 1801 schon über den Protestantismus: „Ach, nur einen Tropfen Vergessenheit, und mit Wollust würde ich katholisch werden“ (Sembdner II, 562/ 651). Viele Analysen von Novellen wie Der Findling, Das Erdbeben in Chili oder Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik spiegeln folglich sowohl das Bestreben wider, Kleists Behandlung des Katholizismus in jenen Werken autobiographisch zu erklären, als auch die Tendenz, eine strikte Trennung von positiver und negativer Darstellung jener Glaubensrichtung je nach Text erkennen zu wollen. Im Erdbeben wird vorrangig Kritik an heuchlerischen Kirchenrepräsentanten und -anhängern gesehen (vgl. Paulin 39), während in Die heilige Cäcilie die katholische Kirche und ihr Glauben angeblich glorifiziert werden (vgl. Hall 221).
Diesen Tendenzen kann in diesem Essay nicht völlig widersprochen werden; der Klerus im Erdbeben ist vordergründig korrupt und heuchlerisch, und die Kirche in Die heilige Cäcilie setzt Blasphemie und Verwüstung bewunderungswürdige Stärke entgegen. Jedoch ist bei genauer Analyse von Erdbeben und Cäcilie weder eine völlige Abneigung gegen den Katholizismus noch eine kritiklose Zustimmung zu seinen Institutionen erkennbar. Vielmehr gibt es einige Parallelen zwischen den jeweiligen Darstellungen der katholischen Kirche in beiden Novellen. Um neben den Unterschieden auch diese Gemeinsamkeiten herauszufinden, werden im Folgenden die Bilder des Katholizismus in Das Erdbeben von Chili und in Die heilige Cäcilie untersucht und verglichen.
Im Erdbeben in Chili dominieren der katholische Glaube und mit ihm seine Institutionen und Würdenträger das Leben der Figuren in jedem Moment der Erzählung. Einerseits greifen sie in das Rechtswesen Chilis ein: Josephens Vater findet im „Karmeliterkloster“ die Antwort auf die Sünde seiner Tochter (EC 51), anstelle eines Staatsangestellten veranlasst der Erzbischof den Prozess der „junge[n] Sünderin“ (EC 51), und dessen Überstimmung hinsichtlich der Abmilderung Josephens Strafe bedarf ausdrücklich eines „Machtspruche[s] des Vizekönigs“ (EC 52). Die Bedeutung der katholischen Kirche als Garant für Recht und Ordnung in St. Jago ist so groß, dass mit der Verzweiflung der Mönche und ihrer Verkündung der Apokalypse auch der weltliche Herrscher Chilis seine Macht in den Augen seiner Untertanen verliert („es gäbe keinen Vizekönig von Chili mehr!“, EC 59). Die kritiklose Unterwerfung St. Jagos Bürger unter das Urteil der Kirche, welche sich in deren Zustimmung zu der Hetze des Priesters gegen Jeronimo und Josephine widerspiegelt, ist umso erstaunlicher, da nicht wenige der Überlebenden noch wenige Stunden vor den Ausschreitungen in der Kirche einen idyllischen Zustand und friedliches Zusammenleben ohne eine leitende Institution erleben: „Auf den Feldern“ werden die Protagonisten nicht nach ihrer Herkunft gefragt, obwohl sie neben „Matronen und Bäuerinnen“ eben auch von „Klosterherren und Klosterfrauen“ umringt sind (EC 60).
Clifton D. Hall und Denys Dyer schreiben jeweils, die Kirche rufe das Schlechteste in Chilis Bürgern hervor (vgl. Hall 221, Dyer 20), und in weiten Teilen kann dieser Einschätzung zugestimmt werden. Im Kirchenstaat Chili handelt Josephens Bruder völlig unchristlich und stürzt seine Schwester wissentlich, mit „hämische[r] Aufmerksamkeit“, ins Unglück (EC 51), „Matronen und Jungfrauen“ sind „entsetzt“ ob der Verkürzung Josephens Leiden durch Enthauptung statt Feuertod (EC 52), und schließlich wird der kleine Philippen am Ende „an eines Kirchpfeilers Ecke“ zerschmettert (EC 67). Gerade dieses Bild, wie auch das Nichteingreifen des Chorherrn während der Ausschreitungen, lässt sich als Metapher eines Katholizismus deuten, der zwar kein aktives Unrecht begeht, aber den unrechten Mord seiner von ihm auserkorenen Feinde stillschweigend hinnimmt. Doch so wie der Katholizismus das Schlechteste in St. Jagos Bürgern zu Tage bringt, ist er auch in ihren ehrenhaften Handlungen zu erkennen. Die „wechselseitige Hilfe“ der Überlebenden des Erdbebens (EC 60), Josephens Bereitschaft, Don Fernandos Sohn zu stillen (EC 58) wie auch die Adoption Philipps durch Don Fernando und Donna Elvire, der kein Zögern vorangeht, drücken nicht nur eine „Rousseausche Gesellschaftsutopie“ aus (Appelt, Grathoff 26), sondern sind vor allem Musterbeispiele christlicher Nächstenliebe. Auch die Hauptfiguren, besonders Jeronimo, sind vom katholischen Glauben durchgehend und positiv beeinflusst. Für ihn ist gerade der Katholizismus die einzige Konstante in dem Chaos aus Verzweiflung ob Josephens Hinrichtung, dem Erdbeben und der Angst um seine Verlobte. Zwar hadert er mit jedem Rückschlag erneut mit seinem Glauben, was eher gegen ihn als gläubigen Christ als gegen den Katholizismus spricht aber, dennoch bleibt er ihm Zuflucht in angespannten Situationen. Vom „Bildnisse der heiligen Mutter Gottes“ erhofft er sich Rettung (EC 52), aus dem Inferno der Stadt entkommen, senkt er sich im Gebet „so tief, daß seine Stirn den Boden berührt[…]“ (EC 54), und beim Anblick der unversehrten Josephe und seines Sohnes entfährt ihm die Apostrophe „Oh Mutter Gottes, du Heilige!“ (EC 55). Die Kirche im Erdbeben mag ein zweifelhaftes Bild abgeben, doch es ist gerade der durch sie vermittelte Glaube der ihren Anhängern Zuflucht und Stütze angesichts der Katastrophe ist.
Neben der katholischen Kirche als korrupter und willkürlicher Institution werden auch ihre Rituale kritisiert – mit eher spöttischem Unterton. Kleist darf sehr wohl Ironie unterstellt werden, wenn er Josephens Mutterwehen während des Festes zu Christi leiblicher Gegenwart („Frohnleichnamsfeste“), noch dazu vor den Augen züchtiger Nonnen und Novizen vor der Kathedrale beginnen lässt (EC 51). Vor allem der Initiator der Hinrichtung Josephens, der Erzbischof, wirkt lächerlich, lässt der Autor den Erzähler doch darauf hindeuten, dass „die Dächer der Häuser“ für bessere Sicht auf das sarkastisch als „Schauspiel“ bezeichnete Ereignis abgetragen werden würden, um dann, durch Pervertierung eines christlichen Begriffes für Nächstenliebe („schwesterlich“), auf die selbstgerechte Entrüstung der „frommen Töchter“ hinzuweisen (EC 52). Die Vermutung Clifton D. Halls, Kleist störe sich mehr an den Bräuchen der Kirche als am Katholizismus selbst (Hall 218), lässt sich am Auftritt des Chorherren belegen: Durch seine Selbstinszenierung gerät die Messe im Erdbeben zum geheuchelten Schauspiel, das tatsächliche christliche Werte vermissen lässt. Die „musikalische Pracht“, das in der „Abendsonne“ glühende Kirchfenster und die vom Erzähler beteuerte „Inbrunst“ der Gläubigen erwecken durchaus den Eindruck von echter Schönheit und wahrhaftiger Andacht. Diese Kulisse dient als Hintergrund, vor dem der Prälat verloren und lächerlich wirkt: Der „Festschmuck“ vermag nicht über die Inhaltslosigkeit seiner Predigt hinwegzutäuschen, welche sowohl durch das umherschlotternde Chorhemd, als auch durch die Reduzierung seiner Ausführungen auf „Lob, Preis und Dank“ oder einfach „priesterliche Beredsamkeit“ durch den Erzähler entblößt wird (EC 63).
Dennoch, so stark katholische Repräsentanten und Bräuche als Personifikationen oder Allegorien für Willkür, Unrecht oder Heuchelei strapaziert werden, so allgegenwärtig sind Güte und Mitgefühl des Katholizismus, vertreten durch die Äbtissin. Immer wieder wird in der Forschung auf die indirekte Kritik Kleists an der Kirche durch den Tod des Erzbischofs verwiesen (Dyer 21), doch auch die Äbtissin, nur wenige Zeilen zuvor, wird mitsamt „ihren Klosterfrauen […] schmählich erschlagen“ (EC 56). Innerhalb der Erzählung sind beide Figuren von gleich großer Bedeutung: Beide sind hohe Vertreter ihres Glaubens und personifizieren jeweils das Ende einer Skala zwischen unbarmherziger Verteidigung des Kirchengesetzes und milder Auslegung desselben im Sinne unbedingter Nächstenliebe. Die Rolle der Äbtissin in der angedeuteten Verhandlung um Josephens Todesurteil ist nicht zu unterschätzen. Im Erstdruck der Novelle lässt Kleist sie noch den „geheimen Wunsch“ hegen, Josephe zu schonen (im Morgenblatt vom 10-15. September 1807, Nr. 217-221, vgl. Grathoff 1986), in den späteren Editionen ist diese Stelle aber in „Wunsch“ geändert worden (EC 51). Kleist betont also, dass die Äbtissin nicht nur einen unausgesprochenen Gedanken hat, sondern sich aktiv für die Sünderin einsetzt. Die katholische Kirche in Chili denkt also nicht nur „in terms of punishment and sentence“, sondern auch, repräsentiert durch die Mutter Oberin, nach den Prinzipien von Nächstenliebe und Mitleid. Wie schlecht kann das Bild des Katholizismus im Erdbeben also sein, wenn er den Bürgern St. Jagos Stütze und Zuflucht in schrecklichen Situationen ist und von so mutigen Figuren wie der Äbtissin hochgehalten wird?
Während die katholische Kirche im Erdbeben im öffentlichen und privaten Leben omnipräsent ist, steht sie in Die heilige Cäcilie nicht nur der Bilderstürmerei, sondern auch einem um sich greifenden Protestantismus und folglich der Ablehnung des Staates und der Bevölkerung entgegen. Der „kaiserliche Offizier“, als Vertreter der Staatsgewalt, macht keinen Hehl aus seiner Feindschaft zum „Papsttum“ (HC 129), das Kloster selbst wird im Zuge des Westfälischen Frieden säkularisiert (HC 131), und „mehr denn hundert […] Frevler, von allen Ständen und Altern“ nehmen bedenkenlos am kriminellem Unternehmen der Bilderstürmerei teil (HC 130). Kleist präsentiert die katholische Kirche also in einer defensiven Rolle, die sich gegen kriminelle Auswüchse eines Glaubensstreites verteidigen muss und paradoxerweise kein dekadentes Machtsystem darstellen soll, sondern dieses bekämpft. Das heldenhafte Bild jenes Katholizismus ist vor allem durch die Erzähler („wir“ HC 137) geprägt. Feinden des Klosters begegnen sie mit Verachtung (die vier Brüder und ihre Anhänger seien „gotteslästerlich“ HC 129, „Frevler“ HC 130 und „gottverdammt[…]“ HC 131), dessen oberster Repräsentantin aber mit Verehrung (die Äbtissin sei „von stillem königlichem Antlitz“ HC 138), und eine „fürstliche Dame“ HC 139). Denys Dyers Behauptung, die Erzählinstanz bleibe „more or less objectively in the background“ (Dyer 101) erweist sich als mehr oder weniger falsch, und vor dem Hintergrund der Haltung der Erzählinstanz, und der negativen Darstellung der Feinde des Katholizismus wirkt jener freilich heldenhaft.
Neben der Faszination des Wunders um Schwester Antonia, dem Papst oder dem Erzbischof, welche in dieser Arbeit nicht näher betrachtet werden können, ist es vor allem die Äbtissin, durch welche, anders als im Erdbeben, Kleist die katholische Kirche mit den edelsten Eigenschaften verbindet. Inmitten von relativ hilflosem und verängstigtem Kirchenpersonal („ein alter, siebenzigjähriger Klostervogt“ HC 129, „Nonnen, die sie unter Zittern und Beben umring[en]“ HC 130) beweist die Äbtissin Führungsstärke („mehr als jemals auf ihrem Willen beharrend“ HC 129) und Mut, wenn sie der bevorstehenden Verwüstung „unerschütterlich“ entgegensteht, obgleich sie bereits mit einer Gefahr rechnet, die mindestens „Leib und Leben“ des Klostervogtes fordern kann (HC 130).
Allerdings entpuppt sich die Äbtissin bei genauerem Lesen als nicht weniger geheimnisvoll als die Heiligenlegende selbst. Besonders Gordon Birrells Annahme, Die heilige Cäcilie sei „a prototype oft the modern detective story“ (Birrell 73) führt den Leser statt zur kritiklosen Anbetung der Mutter Oberin eher an deren Abgründe. Während die Erstveröffentlichung von Cäcilie im November 1810 in den Berliner Abendblättern 40 bis 42 nur aus dem ersten, die „Legende“ enthaltenden Teil, bestand, fügte Kleist erst 1811, im zweiten Band der Erzählungen veröffentlicht, die Investigation durch die Mutter zum Mysterium um ihre Söhne hinzu (vgl. Dyer 93). Der Autor gibt der Mutter damit die Funktion einer Art Detektivin, die, mit einem Brief bewaffnet, durch Aachen zieht, um „Personen […] auszumitteln“ (HC 131), also das Gericht, die „Vorsteher“ des Irrenhauses (HC 132), Veit Gotthelf, durch dessen Bericht den Wirt und Freunde ihrer Söhne, und schließlich die Äbtissin nach der Ursache für die Wandlung der vier Brüder zu befragen. Nach den Regeln eines Kriminalromans ist es deshalb vielleicht nicht verdächtig, aber mindestens fragwürdig, dass die Äbtissin die Mutter bereits erwartet und über ihre Schritte in Aachen unterrichtet ist, dieses Wissen aber weder vor der Mutter offenbart, noch ihren Ordensschwestern vom Erwarten der Niederländerin berichtet: In erstaunlich kurzer Zeit ist die Äbtissin von der Existenz und Bedeutung des Briefes unterrichtet und scheint den Bürgermeister in ihre Ahnung, die Mutter zu erwarten, eingeweiht zu haben, da sie durch ihn von deren „Ankunft in der Stadt“ hört, während ihr nächstes Umfeld, zu dem die Klosterschwester gehört, nur „zufällig“ von deren Identität erfährt (HC 138). Die katholische Kirche in Die heilige Cäcilie ist also nicht nur „radiantly white“ (Hall 222), sondern auch verschlagen.
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- Arbeit zitieren
- Franz Kröber (Autor:in), 2011, Die Darstellung des Katholizismus in Heinrich von Kleists "Das Erdbeben in Chili" und "Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/189272
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