Leseprobe
INHALT
1. Einleitung
2. Dazwischen daheim
2.1 Migration und Identität
2.2 Kurzer geschichtlicher Überblick der Einwanderung im Rahmen der Anwerbeabkommen
3. Migration und Kino in Deutschland
3.1 Türkenbild aus Deutschensicht
3.2 Vom Gastarbeiterkino zum deutsch-türkischen Kino der Gegenwart
4. Filmanalyse „Gegen die Wand“ (Fatih Akin, 2004)
4.1 Der Regisseur Fatih Akin
4.2 Filmdaten
4.3 Filmanalyse
4.3.1 Inhaltsanalyse
4.3.2 Figurenanalyse
4.3.2.1 Sibel
4.3.2.2 Cahit
4.3.2.3 Sibels Bruder Yilmaz
4.3.3 Normen- und Werteanalyse
4.3.4 Filmästhetische Aspekte
5. Fazit
Literaturverzeichnis
1. EinLEITung
Es war 1961, als die Bundesrepublik Deutschland beschloss, auch türkische Arbeitskräfte ins Land zu holen. Die meisten der so genannten Gastarbeiter planten für ein paar Jahre im fremden Deutschland zu arbeiten, um dann wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Doch ein Großteil der Einwanderer blieb. Auch wenn immer wieder Diskussionen über mangelnde Integration und Parallelgesellschaften aufkommen, wurde Deutschland zur Heimat für viele dieser Einwanderer und noch mehr für die Deutschtürken der zweiten und dritten Generation, die bereits in Deutschland geboren wurden. Und so sind in allen alltäglichen sowie kulturellen Bereichen die Einflüsse türkischer Einwanderer und deren Nachkommen zu finden. Sei es in der Esskultur (Döner Kebab) oder seien es türkischstämmige Schriftsteller wie Feridun Zaimoglu oder deutsch-türkische Filmemacher wie Fatih Akin, dessen Film „Gegen die Wand“ bei der Berlinale 2004 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde.
Diese 50 Jahre bedeuten auch fünf Jahrzehnte des Miteinanders und ebenso fünf Jahrzehnte der Bilder dieses Miteinanders. Die ersten Versuche, filmisch mit den Einwanderern umzugehen, waren häufig von der Darstellung des Gastarbeiters als Opfer des Industriekapitalismus oder auch von Klischees, wie der unterdrückten türkischen Frau, bestimmt. Der Versuch des Zusammenlebens ist in diesen Filmen fast immer zum Scheitern verurteilt. Hier stellen noch vorwiegend deutsche Filmemacher, wie Fassbinder, eine Art Sprachrohr für eine gesellschaftliche Randgruppe dar, die über keine Lobby verfügte.
In den 1990er Jahren übernahm die Generation der in Deutschland geborenen Einwandererkinder zunehmend selbst Regie. Zu dieser Generation gehören Filmemacher wie Thomas Arslan, Filippos Tsitos und eben Fatih Akin.
Das Thema Migration spielt zwar immer noch eine mal größere mal weniger große Rolle, doch stellt das Leben zwischen den Kulturen für diese Generation kein Problem mehr dar.
In der „Zeit“ schreibt Katja Nicodemus, dass diese Filme von einer Perspektive erzählen, „die in einer globalisierten, von Migrantenbewegungen geprägten Welt so millionenfach normal geworden ist, dass man eigentlich kein Wort mehr darüber verlieren möchte.“[1]
2. Dazwischen daheim
2.1 M igration und Identität
Der Begriff Identität umschreibt die Eigenheiten des Wesens vom Menschen, welches sich während der Individuation herausbildet. Die Identität kann eine statische Konstruktion oder aber ein sich über die Lebenszeit wandelnder Prozess der Entwicklung sein.
Für den einzelnen Menschen ist Identität das Bewusstsein darum, was ihn eigentlich ausmacht, also wer er ist und in welche Richtung er sich entwickeln möchte. Kurz: »Identität ist die Quelle von Sinn und Erfahrung für die Menschen.«[2] »Identität ist [dabei] ein offener Prozess des Aushandelns zwischen dem Selbstbild, das der Einzelne von sich entwirft, und dem Bild, das sich seine sozialen Handlungspartner in wechselnden Zusammenhängen von ihm machen.«[3]
Während des Migrationsprozesses müssen Migranten ihre Identität anpassen und neu gestalten. Viele Eindrücke bei der Ankunft, im Arbeits- und Alltagsleben, sowie Erwartungen vor der Ausreise gilt es zu verarbeiten.
Die Identität bei Menschen mit Migrationshintergrund wird häufig zwischen den Kulturen der Herkunftsländer und der Aufnahmegesellschaft gebildet. Hier spricht man vom so genannten „dritten Raum“[4]
Die Relation von Migranten zur Aufnahmegesellschaft und der Grad der Integration wirken sich ebenfalls au die Identitätskonstruktion aus. Bislang herrschte in der Forschung die Meinung, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund, die in Deutschland aufgewachsen sind, sich aufgrund der unterschiedlichen Sozialisationsmechanismen in den Herkunftsfamilien und anderen Bezugsgruppen, zum Beispiel in Schulen, Vereinen und so weiter, in einer Identitätskrise befinden müssten. Ülger Polat widerspricht dieser These und behauptet, dass „die Ich- bzw. soziale Identität von Menschen, sowie Kultur einem ständigen Wandel unterliegen.“[5] In diesem Zusammenhang wird von bikultureller Identität gesprochen. Junge Migranten finden sich in Herkunftskultur und der Kultur der Aufnahmegesellschaft zurecht und verbinden in ihrer Identität Elemente beider Kulturen. Hier wird häufig der Begriff Hybridität verwendet. Dabei handelt es sich um die Vermischung beider Kulturen ohne klare Abgrenzungen.
Dies zeigte sich auch in einer Befragung, die ich zum Thema unter Menschen mit türkischem Hintergrund in Deutschland durchgeführt habe. Die Teilnehmer gehörten der zweiten und dritten Generation in Deutschland an. 59 % der Befragten gaben an, dass sie Deutschland als ihre Heimat ansehen, wobei sich jedoch 44 % von den Deutschen ausgegrenzt fühlen. Werden die Teilnehmer auf ihre türkische Herkunft reduziert, statt als differenzierte Persönlichkeiten angesehen zu werden, reagieren sie zu einem großen Teil widersprechend mit dem Argument, genauso Deutscher zu sein, wie Mitbürger ohne Migrationshintergrund. Fast ein Viertel gab an, dass ihre Herkunftsfamilie versucht hat, sie vor den Einflüssen der deutschen Kultur zu bewahren, während über 30 % schrieb, dass ihre Familien selbst stark durch die deutsche Kultur beeinflusst wurden.
Die Menschen, welche bereits in dritter Generation in Deutschland geboren sind, vermissen häufig eine eindeutige Identität. Sie sind zwar türkischer Abstammung, kennen aber die Türkei nur als Urlaubsland, in dem sie sich teilweise fremd fühlen. Es gibt noch familiäre Verbindungen mit der Türkei, das Leben findet aber in Deutschland statt. Deutschland jedoch kann Migranten häufig keine Identität bieten, aufgrund des Mangels an entsprechender Migrations- und Integrationspolitik. Somit kann es bei Migranten zu Identitätskrisen kommen.[6]
Häufig wird von Seiten der Aufnahmegesellschaft türkischstämmigen Migranten aufgrund der mit ihrer Herkunft einhergehenden traditionellen Werte- und Erziehungsvorstellungen, in denen sie verhaftet seien und blieben, die Möglichkeit abgesprochen, sich in Deutschland zu emanzipieren und ein individuelles, selbstbestimmtes Leben zu führen.[7]
Jedoch beweist ein erheblicher Teil gerade der dritten in Deutschland lebenden Generation von türkischstämmigen Migranten, dass sie sehr wohl zu autonomer Handlungsfähigkeit und -kompetenz fähig sind. Individuelle Handlungsstrategien werden unterstützt durch die aktive Auseinandersetzung mit traditionellen, kulturellen Werten. Dies fördert die Entscheidungsfreiheit und den Bildungsaufstieg von jungen Migranten und hilft gleichzeitig die enge familiäre Bindung zu erhalten und mit eigenen Werten in Einklang zu bringen.[8]
Hinsichtlich der dritten Generation lässt sich klar sagen, dass es nicht den türkischen Migranten gibt. Genauso wenig existiert eine homogene dritte Generation, die sich verallgemeinernd beschreiben ließe. Sieht man diese dritte Generation weiterhin pauschal als eine verlorene Generation an, zeugt das von einer eurozentrischen Sichtweise, da die Herkunftskultur der Migranten abgewertet wird und gleichzeitig paternalistischen Perspektive, da Frauen in den endlosen Kopftuch- und Ehrenmorddebatten als nicht handlungsfähige Opfer betrachtet werden. Angebracht wäre es, eine öffentliche Meinung zu schaffen, die die Reduktion auf Stereotype erschwert und dazu zwingt, die Heterogenität und Vielfältigkeit der Lebensentwürfe und des Alltags von türkischstämmigen Mitbürgern anzuerkennen.[9]
2.2 Kurzer geschichtlicher Überblick der Einwanderung im Rahmen der Anwerbeabkommen
„Im Jahre 1966 kam mein Vater, Mustafa Akin, 22 Jahre alt, nach Deutschland, um als Gastarbeiter sein Glück zu suchen. (…) Zwei Jahre wollte er in Deutschland bleiben, Geld sparen, um sich einen Motor für sein Boot zu kaufen, und sich dann in der Heimat eine sichere Existenz aufbauen. (…) Die zwei Jahre kamen und gingen, und Vater entschied, in Deutschland zu bleiben, vielleicht noch ein Jahr oder weitere zwei Jahre.“[10]
So wie Fatih Akins Vater erging es unzähligen so genannten Gastarbeitern in Deutschland. Viele sind gekommen, um ein paar Jahre zu bleiben, zu arbeiten und Geld zu sparen, das sie schließlich nach der Rückkehr in die Heimat dazu nutzen wollten, sich selbständig zu machen oder ein Haus zu kaufen.
Der Großteil aber ging nicht zurück sondern blieb. Viele lebten über die Jahre in einer Art Provisorium und kamen nie wirklich an – nur physisch.
Die Geschichte der Arbeitsemigration, während der zahlreiche Arbeitskräfte zunächst aus Italien, später dann auch aus Griechenland, Spanien, Portugal, Nordafrika und eben der Türkei kamen, beginnt 1955. In diesem Jahr schließt Deutschland das Anwerbeabkommen mit Italien und holt erste italienische Arbeitskräfte ins Land, vor allem aus dem Süden des Landes.
1960 folgen Abkommen mit Griechenland und Spanien, 1961 mit der Türkei, 1963 mit Marokko, 1964 mit Portugal. Die Aufenthaltsdauer für Türken war zunächst nur auf zwei Jahre beschränkt. 1964 wird diese Restriktion aus der Anwerbevereinbarung gestrichen. Weitere Länder, mit denen Deutschland Abkommen abschließt sind Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). In den Jahren 1965-1971 wächst der Ausländeranteil an deutschen Schulen von 35.000 auf 159.000 Schüler. Im Jahr 1968 steigt die Anzahl ausländischer Beschäftigter in Deutschland von 991.300 auf 2.595.000. Die Gruppe der Italiener stellen hierbei noch das größte Kontingent. Es folgt jedoch eine verstärkte Anwerbung aus Jugoslawien und der Türkei.
1971 wird die Arbeitserlaubnisregelung geändert. Ab sofort dürfen ausländische Arbeitnehmer, die länger als fünf Jahre in Deutschland gearbeitet haben, eine besondere Arbeitserlaubnis erhalten.
Im Jahr 1972 stellen bereits die Türken das größte Ausländerkontingent in Deutschland. Während des Höhepunktes der Zuwanderung wurde 1973 das „Aktionsprogramm für Ausländerbeschäftigung“ erlassen, um die Ausländerzahl beschränken zu können. In westdeutschen Fabriken kam es zu Streiks türkischer Arbeiter. Am 23.11.1973 beschloss die Bundesregierung schließlich einen Anwerbestopp.[11] [12]
3. MIGRATION UND KINO IN DEUTSCHLAND
3.1 Türkenbild aus Deutschensicht
Eine unvoreingenommene und völlig vorurteilslose Wahrnehmung anderer gibt es in Realität nicht. Vielmehr prägen diverse Deutungsmuster, die gesellschaftlich und historisch geprägt sind, die Wahrnehmung von Menschen, die als fremd bezeichnet werden. Die Muster bewegen sich zwischen Exotisierung und Xenophobie. In beiden Fällen jedoch äußert sich die Wahrnehmung durch Vorurteile, Stereotypen und Klischees.
Genauso wenig wie es eine homogene türkische Gemeinschaft gibt, auf die alle Stereotypen oder Klischees zutreffen, gibt es den einen deutschen Blick, denn auch eine einheitliche deutsche Kultur existiert nicht.
In der Darstellung türkischstämmiger Migranten in Literatur und Film finden sich häufig gewisse Vorstellungen, wie die Kopftuch tragende türkische Frau oder patriarchalisch geprägte männliche Familienmitglieder, die mit allen Mitteln die Familienehre verteidigen. Solche Stereotypen sind teilweise ins kollektive gesellschaftliche „Wissen“ eingegangen.
Momentan liegt die Zahl türkischstämmiger Bürger in Deutschland bei etwa 2,5 Millionen Menschen. Das Bild, das die Mitglieder der Aufnahmegesellschaft von der größten Minderheit in Deutschland haben, ist jedoch nur zum Teil durch direkte Kontakte zu Angehörigen dieser Gruppe geprägt.
Ein wichtiger Bestandteil des Türkenbildes aus deutscher Sicht ist der Orientalismus nach Edward W. Said. Er geht davon aus, dass der Orient nicht real ist, sondern eine Konstruktion des Westens; so gesehen die europäische Projektion des Anderen. Typisch für den orientalischen Menschen seien demnach „seine Sinnlichkeit, seine Tendenz zum Despotismus, seine abweichende Mentalität, seine Gewohnheit, ungenau zu sein, seine Zurückgebliebenheit.“[13]
[...]
[1] Nicodemus, Katja: Ankunft in der Wirklichkeit, in „Die Zeit“ vom 29.02.2004
[2] Manuel Castells, Die Informationsgesellschaft II: Die Macht der Identität, Opladen: Leske + Budrich 2002, S.8
[3] Thomas Meyer, Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 41
[4] Hepp, Andreas / Thomas, Tanja / Winter, Carsten 2003:S.11
[5] Polat, Ülger: Soziale und kulturelle Identität türkischer Migranten der zweiten Generation in Deutschland. Hamburg: Dr. Kovaç Verlag, 1998: S.37
[6] Der deutsch-türkische Gegenwartsfilm im Genre-Vergleich. Melodram, Komödie, Dokumentarfilm und deren Möglichkeiten und Grenzen in der Aufbereitung der Thematiken von Migration, Integration und multikultureller Gesellschaft.“ Martina Hartl, Universität Wien 2009, S.60
[7] Dossier „Die Dritte Generation, Berlin, Heinrich Böll Stiftung, 2010; Direktlink: http://www.migration-boell.de/web /integration/47_2679.asp S.20
[8] Dossier „Die Dritte Generation, Berlin, Heinrich Böll Stiftung, 2010; Direktlink: http://www.migration-boell.de/web /integration/47_2679.asp S.24
[9] Gölbol, Yeliz: Lebenswelten türkischer Migrantinnen der dritten Einwanderergeneration, S.24-25 in: Dossier „Die Dritte Generation, Berlin, Heinrich Böll Stiftung, 2010; Direktlink: http://www.migration-boell.de/web /integration/47_2679.asp
[10] Akin, Fatih: Im Clinch: Die Geschichte meiner Filme, 2011, S.9
[11] Internetseite der Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration: http://www.integrationsbeauftragte.de/; Stand: 08.01.05
[12] Hisashi Yano: Migrationsgeschichte. In: Carmine Chiellino (Hrsg.):Interkulturelle Literatur in Deutschland: ein Handbuch. Weimar: Metzler 2000.
[13] Said, Edward W.: Orientalismus. Frankfurt am Main; Berlin; Wien: Ullstein, 1981, S.230