Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. The Generic City
2.1. Die Identitätsproblematik
2.2. Funktionsweisen der GC
3. Houston, TX
4. Diskussion
1. Einleitung
Ziel dieser Arbeit ist eine Darstellung und Diskussion der Generic City. Die generische Stadt ist ein neuer Stadttypus, der auf ein von Rem Koolhaas entwickeltes Konzept rekurriert. Eingangs möchte ich aber kurz eine gewisse Befangenheitsproblematik erwähnen: der Autor dieser Arbeit wuchs in einer Stadt auf, wie sie „alteuropäischer“ kaum sein könnte. Die homogene Bausubstanz und der schachbrettartige Grundriss meiner Heimatstadt könnte kaum eine stärkere Antithese zur Generic City bilden. Ob diese Tatsache nun ein Handicap oder ein Vorteil bei den folgenden Betrachtungen ist, sei dahingestellt. Genau diese Frage aber wird in der Diskussion eine gewisse Rolle spielen, wenn es darum geht die Konzepte von Koolhaas und Sieverts („Zwischenstadt“) gegeneinander zu setzten und zu diskutieren.
Bezüglich seiner Prägung erlebte Rem Koolhaas beide Stadttypen, da er seine Jugend sowohl in Amsterdam wie auch in einigen Großstädten des asiatischen Kontinents verbrachte. Nach eigener Aussage waren die Erfahrungen in Asien stark prägend. So wendete sich der gehbürtige Holländer nach seinem Architekturstudium erst einmal der Theorie zu und verfasste in den 70er Jahren mit der soziokulturellen Studie „Delirious New York“ einen zum Klassiker avancierten alternativen Blick auf die Entstehungsgeschichte der Stadt New York. Inzwischen ist Rem Koolhaas zu einem der anerkanntesten Architekten weltweit avanciert, hat dabei aber nie seine Anfänge als Theoretiker vergessen. So entstanden im Rahmen seiner Lehrtätigkeit an der Harvard University als Ergebnis seines „Project on the City“ die Studien „Pearl River Delta“ und „Shopping“. Die Studie des Pearl River Delta behandelt eine konkrete Ansammlung von Generic Citys, nämlich die momentan größte Entwicklungszone in China, die Region nördlich von Hong Kong. Steht bei der Pearl River-Studie der empiristische Aspekt im Vordergrund, ist sein Essay „The Generic City“ aus dem Buch „S, M, L, XL“ stark theoretisch gehalten und daher besser qualifiziert für die Abhandlung im Rahmen einer Hausarbeit.
Die verwendete deutsche Übersetzung, in der Architekturzeitschrift Arch+ erschienen, übersetzt „The Generic City“ mit „Die eigenschaftslose Stadt“. Ich werde allerdings die englische Originalbezeichnung beibehalten (und auch mit der Wort-kreation generisch sogar „eindeutschen“) und möchte dies kurz begründen. Ich halte die deutsche Übersetzung für unzureichend und eventuell sogar falsch. Unzureichend, weil sie nur auf einen möglichen Aspekt von „generic“ fokussiert. Hier zeigt sich in meinen Augen bereits die ablehnende Haltung gegenüber dem Konzept der Generic City, wie sie in Europa wohl vorherrschend sein dürfte. Eventuell sogar falsch, weil der Begriff „generic“ verschiedene Bedeutungen haben kann. So könnte man generic beispielsweise auch im Sinne der pharmazeutischen Verwendung verstehen. Generika sind Medikamente, die die exakten Eigenschaften eines Marken-präparats haben, dabei aber billiger sind (bekanntestes Beispiel: Aspirin vs. ASS ratiopharm). Ein derartiges Verständnis von generic würde insbesondere das Effizienzmoment der Generic City adäquat wiederspiegeln. Klingmann und Oswalt haben in ihrem Text „Formlosigkeit“ darauf hingewiesen, dass sich das englische Wort generic aus dem lateinischen Wortstamm „gener-“ bzw. „genus“ ableitet. Dieser Wortstamm kann die Bedeutungen Geburt, Art oder Klasse annehmen. Als Charakterisierung von Produkten bedeutet generic dann folgerichtig die Tatsache, dass diese nicht durch ein spezielles Handelszeichen geschützt sind, eben Generika sind. Interessant ist hierbei, dass ein solches Produkt damit keinen übergeordneten Repräsentationsanspruch erzeugen kann und will.[1] (Zu dieser Fragestellung im inhaltlichen Teil mehr.) Der Blick in den Websters Dictionary fördert eine weitere mögliche Bedeutung von generic zu Tage. Das „Generische“ ist hier dasjenige, welches unterschiedlichen Erfordernissen (hinsichtlich Verwendung, Form oder Größe) angepasst werden kann und damit auch umfassend breitenwirksam oder vielseitig anwendbar ist. Generic hat also bereits nach diesen allgemeinen Definitionen zwei verschiedene Charakteristika oder eben Eigenschaften vorzuweisen. Es als „eigenschaftslos“ zu übersetzen ist daher schlichtweg falsch. Im Folgenden sollen nun die speziellen Eigenschaften der Generic City dargestellt werden, um sie abschließend einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
2. The Generic City
„Schließen sie die Augen und stellen sie sich eine Explosion in Beige vor! “[2]
Das Eingangszitat soll die Schwierigkeit einer genauen inhaltlichen Definition der generischen Stadt verdeutlichen. Die Frage wie die generische Stadt aussieht, wo sie genau zu lokalisieren ist und wo ihre genauen Grenzen sind, soll deshalb bewusst offen gelassen werden. Genau wie die Imaginierung einer beigen Explosion ein hochgradig subjektiver Vorgang sein dürfte, ist vielleicht auch die Form der generischen Stadt hochgradig subjektiv. Was dazu gehört und was nicht, wie sie empfunden und beurteilt wird, diese Festlegungen hängen eventuell hauptsächlich davon ab, welches Bild sich die Menschen von ihrem jeweiligen Siedlungsgebiet gemacht haben. Daher sollen formelle und mengendefinitorische Aspekte in dieser Arbeit weitestgehend ausgeblendet werden, auch wenn sie sich im Abschnitt der Exemplifizierung am Beispiel der Stadt Houston teilweise nicht vermeiden lassen werden.
Sehr wohl zu definieren ist hingegen der Entstehungskontext und die Funktionsweise der generischen Stadt. Der Entstehungskontext ist eine Situation, die maßgeblich von einer Identitätsproblematik der alten Stadt und der erfolgreichen Lösung selbiger geprägt ist (siehe 2.1.). Die Funktionsweise der generischen Stadt ist stark heterogen strukturiert. Deshalb werden nur einige wenige, dafür aber umso wichtigere Aspekte in Teil 2.2. schlaglichtartig beleuchtet.
2.1. Die Identitätsproblematik
„Die generische Stadt ist die Stadt, die dem Würgegriff des Zentrums, der Zwangsjacke der Identität entkommen ist. “[3]
Diese Behauptung bedarf einer genaueren Untersuchung. Denn sie setzt voraus, dass das Zentrum eine oder vielleicht sogar die einzige Quelle von Identität ist, und das Identität einer Zwangsjacke gleichkommt. Koolhaas gelangt zu dieser Ein-schätzungen, da er einen bestimmten, von ihm selbst definierten Stadtbegriff mit einem ebenso speziellen Identitätsbegriff verzahnt.
Die Vorstellung von Stadt, so die Behauptung, wie sie vorwiegend und konventionell existiert, ist größtenteils aus einer Vorstellung bezüglich des jeweiligen Zentrums determiniert. Die Bilder von New York sind geprägt von Manhattan und seinen zentralen Distrikten, nicht etwa von den ausfransenden Suburbs des Umlands. Auch eine alteuropäische Stadt wie beispielsweise Florenz bezieht seine Identität aus den in zentraler Lage versammelten Sehenswürdigkeiten und nicht etwa aus den umgrenzenden Wohngebieten. Moderne, also generische Städte hingegen verfügen über kein Zentrum im traditionellen Sinne mehr. Dies führt zumeist zu dem einstimmigen Lamento, sie seien überall gleich, gesichtslos und hochgradig konvergent. Diese willkürlich postulierte Konvergenz führt dann zwangsläufig dazu, einen angeblich schmerzhaften Identitätsverlust zu konsternieren. Koolhaas dreht diese konventionelle Sichtweise komplett um und behauptet: Das Fehlen eines Zentrums ist eine bewusste und gewollte Strategie der generischen Stadt, die einen bestimmten Sinn und Zweck erfüllt.[4] Was erlaubt ihm ein derartiges Urteil? Zur Beantwortung muss zunächst der Identitätsbegriff Koolhaas’ genauer verstanden werden.
Identität im traditionellen Sinne, so Koolhaas, wird zumeist von physischen Substanzen, von Geschichtlichem und von den Kontexten eines Siedlungsgebiets generiert. Identität wird also primär aus der Vergangenheit generiert. Jedoch offenbart sich hier eine quantitative Problemstellung: die Vergangenheit wird zu klein, um bei dem exponentiellen Stadtwachstum moderner Städte noch allen Einwohnern genügend Identitätsfläche zu bieten. Deshalb entwickelt die generische Stadt eine Gegenstrategie, und wendet sich schlichtweg von der Vergangenheit als Identitätsquelle ab. Es gibt aber auch qualitative Gründe für dieses Verhalten. Identität hat immer auch ein begrenzendes Moment. Je mehr Identität an einem Ort existiert, desto weniger Raum ist für Veränderung, Interpretation und Wiederspruch gegeben. Die Beobachtung, dass Identität schlichtweg zu unflexibel für die heutigen Erfordernisse an eine moderne Stadt ist, liefert einen weiteren Faktor für die bewusst forcierte Vermeidung von identitätsstiftenden Momenten in der generischen Stadt. Ein weiteres, begrenzendes Moment kommt hinzu, wenn man davon ausgeht, dass Identität stark zentralisierend wirkt.[5] Wenn man diese drei Identitätsproblematiken anerkennt, also die Charakteristika „zu klein“, „zu statisch“, „zu zentralistisch“, wird das fortlaufende Auseinanderbrechen von Kernstadt und Suburb verständlich. Zu Beginn der Suburbanisierung reicht der Identitätsspender Zentrum für die Peripherie noch aus, mit stetigem Wachstum aber bricht dieses Verhältnis auseinander, die Peripherie emanzipiert sich, um überhaupt noch weiter wachsen zu können.
[...]
[1] Vgl. Klingmann, Oswalt 1998.
[2] Koolhaas 1996, S. 10.
[3] Koolhaas 1996, S. 2.
[4] Vgl. Koolhaas 1996, S. 1.
[5] Vgl. Koolhaas 1996, S. 1.