Das Bild des Bösen untergräbt das Böse - Die Darstellung des Bösen in 'M – Eine Stadt sucht einen Mörder'


Seminararbeit, 2010

22 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhalt

1.Einleitung

2.Das Böse – Die Darstellung des Täters
a)Wie und wodurch charakterisiert sich der Mörder Hans Beckert?
b)Welche Motive unterstreichen die Charakterdarstellung?

3.Das Bild des Bösen - Der Schatten des Täters
a)Die Stadtbevölkerung
b)Die Polizei
c)Die Kriminellen

4.Genrespezifik und Einflüsse

5.Schlussbemerkung

6.Filmquelle

7.Literaturverzeichnis

1.Einleitung

Gut und Böse, Ordnung und Chaos, Gesetz und Verbrechen, Vernunft und Gewalt – Das ist der Rahmen des Kriminalfilms und die Überschreitung gesellschaftlicher Normen seine Ausgangslage. Während des Handlungsverlaufs wird also ein Verbrechen aufgeklärt. Die Faszination für diese Thematik kann man mit dem heimlichen Bedürfnis des Zuschauers nach einem Ausbruch aus der Ordnung zu erklären suchen, dem Begehren nach Unerlaubtem, der Gefahr und der damit erzeugten Erregung. Der Zuschauer kann nach mimetischem Prinzip Fantasien ausleben und mit Handlungsträgern mitfühlen, um am Ende festzustellen, dass sich eine Grenzüberschreitung nicht lohnt. Doch ist es wirklich so einfach?[1]

Für Regisseur Fritz Lang bot das „[…] Kriminalfilmgenre die Möglichkeit der Kritik an bestimmten Aspekten des Lebens, die es wirklich gibt. Ihn interessierte der Mensch und insbesondere die Frage ‚what makes him tick‘“[2]. Mit M – Eine Stadt sucht einen Mörder, 1931 erschienen, hat er ein Werk geschaffen, das gern, immer in Begleitung von Superlativen, zu den Meilensteinen der Filmgeschichte gerechnet wird.

Die Darstellung des Täters und das Bild von ihm, welches sich in der konstruierten Öffentlichkeit manifestiert, stehen im Interesse dieser Arbeit. Die zentrale Frage lautet also:

Wie gestaltet sich das Böse in M ?

Der erste und ausführlichste Teil widmet sich dem Mörder selbst, seinem Charakter und wie sich dieser im Film entfaltet und motivisch untermalt wird.

Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich mit dem Bild vom Bösen, den Vorstellungen vom Mörder, welche sich in der Filmbevölkerung entwickeln. Dass hier beides bewusst voneinander getrennt betrachtet wird, ist der Intention zu schulden, das Böse und das Bild des Bösen nicht im wirkungsorientierten Wechselspiel der dramaturgischen Vorgabe, sondern für sich stehend zu fokussieren. Allerdings nicht, ohne zu schildern, auf welche Weise sie sich bedingen und auf den Zuschauer wirken.[3]

Abschließend wird versucht den Film in das Genre einzuordnen und gewisse Bezüge anzureißen.

2.Das Böse – Die Darstellung des Täters

„Nach den epischen Monumentalfilmen, wie Metropolis oder Die Nibelungen, bzw. die mythisch-phantastisch angehauchten Werke Dr. Marbuse, der Spieler bzw. Die Frau im Mond, sollten nun der Mensch und seine inneren Beweggründe in den Mittelpunkt gerückt werden […]“[4].

M sollte die typischen Elemente des Verbrechens künstlerisch und dokumentarisch umreißen. Fast wie bei einem soziologischen Experiment im Brecht‘schen Sinne wird versucht einen komplizierten Tatbestand in seine elementaren, vielfältigen emotionalen und rationalen Bestandteile zu zergliedern.[5] Doch dieser selbstauferlegte Anspruch an Realitätsnähe und die Beleuchtung der psychologischen Seite des Verbrechens erforderte eine ganz neue Methode der Vorbereitung und Umsetzung. Lang stellte daher im Vorfeld der Dreharbeiten gemeinsam mit seiner Frau und langjährigen Dramaturgin Thea v. Harbou umfassende Recherchen an. Sie besuchten Berlin und nahmen unter anderem Kontakt mit Kriminalisten, Verteidigern, Richtern, Psychologen und Psychoanalytikern auf. Zudem beschäftigten sie sich mit Zeitungsartikeln und aktuellen Kriminalfällen.[6] Besonderes Interesse weckten dabei die Fälle zweier Massenmörder: der, des Metzgers Fritz Haarmann und der des, unter dem Namen Vampir von Düsseldorf bekanntgewordenen, Peter Kürten.[7] Haarmann wird sogar im Film namentlich erwähnt, was die Grenze zwischen Realität und Fiktion aufweicht.

Neben den genauen und wirklichkeitsgetreuen Vorbereitungen erschweren jedoch auch gewisse Eigenheiten des Films die Darstellung von Beweggründen.

„Der Film als ein audiovisuelles Medium tendiert zum Sichtbaren, zum Äußerlichen und muß einen besonderen Aufwand betreiben, um Inneres – Gedanken, Gefühle, mentale Zustände usw. einer Person – zu gestalten. […] Um so größer ist insofern auch die Bedeutung der […] tatsächlich eingesetzten Figuren.“[8]

Peter Lorre gibt dem Kindermörder Hans Beckert sein Gesicht. Die Figur des Kindermörders ist seine erste filmische Hauptrolle, die ihm sogleich durch herausragende Darbietung ein Denkmal setzte.

Das Verständnis, das sich vom Bösen herausbildet, wird im Film nach und nach entwickelt und beständig modifiziert. Zu Beginn begegnet der Zuschauer zunächst dem Bild des Bösen und dieses konzipiert und suggeriert einen Erwartungshorizont. Aus latenter Bedrohung und mütterlicher Besorgnis formt sich eine Angst vor dem nicht greifbaren Bösen.[9] Es stellt sich eine Neugierde und Dramatik ein, die zu fragen scheint: Wer ist der Mörder?[10] Selbst der Filmtitel weckt eine solche Haltung. Mit diesen ersten Vorstellungen, die sich schnell in Einklang mit der vorherrschenden Stimmung der Stadt bringen kann, beginnt man dem Handlungsverlauf zu folgen.

a)Wie und wodurch charakterisiert sich der Mörder Hans Beckert?

Vollkommen in die bedrückende Atmosphäre eingetaucht, sieht man die kleine Elsie Beckmann spielend auf ihrem Nachhauseweg. Sie verweilt an einer Anschlagsäule. Ein Fahndungsplakat, auf das, durch Heranzoomen der Kamera, die Aufmerksamkeit gelenkt ist, berichtet von zwei verschollenen Kindern und, dass das Verschwinden wahrscheinlich mit ungeklärten Morden des Vorjahres in Verbindung steht. Zugleich sind 10000 Mark Belohnung ausgestellt. Die Frage „Wer ist der Mörder?“[11], in großen Lettern abgedruckt, wird nun sogar explizit gestellt. Es wird bewusst suggeriert, dass der Film dem gleichen Interesse folge, wie der Zuschauer – die Aufklärung der Morde und die Verhaftung des Übeltäters. Es handelt sich also um einen Kindermassenmörder, einen Verbrecher niederträchtigsten Kalibers. Dass er noch immer nicht gefasst wurde, legt nahe, er sei besonders gerissen.

Elsie spielt noch immer mit ihrem Ball, als sich ein Schatten ins Bild und damit auf das Plakat schiebt – ein Moment des Grauens, in dem sich schreckliche Vorahnungen aufdrängen. Man vernimmt eine unerwartet hohe und melodische Stimme: „Du hast aber einen schönen Ball.“[12] Der Schatten beugt sich langsam nach vorn und fragt lüstern und zugleich schmeichelnd freundlich: „Wie heißt du denn?“[13] [14] Elsie antwortet in naiver Höflichkeit.

Schon zuvor haben wir im Film eine Frau kennengelernt und sie beobachten können, wie sie liebevoll Essen vorbereitet. Direkt nach Elsies Antwort wird sie wieder eingeblendet und hat mit besorgter Miene die Uhr im Blick. Wer es noch nicht ahnte, dem wird spätestens nun offenbar, dass es sich um Elsies Mutter handeln muss. Die Assoziation drängt sich, durch den schnellen Schnitt und die Einklammerung der Nachhauseweg-Szene durch die Szenen mit der Frau, auf. Dieser Kontrast erzeugt eine ungeheure Dramatik. Kurz darauf schallen Schritte durch das Treppenhaus, die Frau öffnet die Tür, doch Elsie war nicht dabei. Sie fragt die anderen Kinder nach ihr und die Ahnung, es handle sich um die Mutter, wird damit endgültig bestätigt. Ein Mädchen antwortet ihr mit den Worten: „Nö, mit uns is sie nich mitgekommen.“[15] Die Betonung von „mit uns“ ruft beim Zuschauer auf grausige Weise in Erinnerung mit wem sie gegangen sein wird. Schon die nächste Szene beweist den Verdacht. Man sieht den Mörder für Elsie einen Luftballon bei einem Blinden kaufen. Er pfeift dabei eine berühmte Melodie aus Edvard Griegs „Peer-Gynt-Suite“[16]. Bald darauf rollt Elsies Ball aus einem Gebüsch und man sieht den Luftballon in den Leitungen bei einem Telegrafenmast hängen. Er scheint eine Metapher für die Seele des Mädchens zu sein, die ihren Weg ins Jenseits noch nicht finden kann.[17] Doch eines ist klar, sie ist tot, auch wenn die Tat selbst nicht gezeigt wird. Gerade weil sie nur angedeutet bleibt, ist der emotionale Effekt umso größer, da nicht die bloße Darstellung von Gewalt zu schockieren versucht, sondern einen eine Tragik und Grausamkeit beschleicht, die in ihrer psychischen Schonungslosigkeit einen bloßen Gewaltakt übersteigt.[18]

Eine Extraausgabe, die in der folgenden Szene verteilt wird, verkündet den Mord. Wieder wird die Frage laut: „Wer ist der Mörder?“ Gleich darauf sieht man einen Mann, am Fensterbrett sitzend, etwas schreiben, wieder nur von hinten. Doch er lässt sich schnell an seinem Pfeifen der Melodie identifizieren. Er schreibt aus fadenscheinigen Gründen einen Brief an die Presse, der auch kurz darauf veröffentlicht ist und prophezeit, dass er noch nicht am Ende sei. Es folgen Bekundungen, Stellungnahmen und Maßnahmen, die alle das Bemühen und die Allgegenwart des Mörders und damit des Bildes des Bösen repräsentieren und beständig aufladen.

Die recht ausführlichen, vorangegangenen Schilderungen sollen verdeutlichen, dass jeder Zugang zum Charakter des Mörders allein durch eine unscharfe und vorstellungsgetriebene Weise geschehen konnte. Bis jetzt bekam man den Mörder nicht einmal zu Gesicht.

Noch während ein Graphologe einer Schreiberin das Ergebnis seiner Untersuchung des Briefs diktiert, wird der Täter nun erstmals von vorn gezeigt. Es ist typisch für M, wie der Ton einer Szene, hier fast eine halbe Minute, in die folgende übergreift. In diesem Fall finden das Böse und das Bild des Bösen eine besonders widersprüchliche Schnittstelle. Wo zuvor der Mörder bis hin, so scheint es, zum Monster und Unmenschen stilisiert wurde, zeigt sich nun ein etwas rundlicher, kindlicher Mann mit großen Augen, der sich ungläubig vorm Spiegel betrachtet und auf seltsame Weise Grimassen schneidet und es doch nie schafft, wirklich böse auszusehen. Dazu hört man noch immer die kratzige Stimme des Graphologen, der ihm Wahnsinn prognostiziert. In Anbetracht der äußeren Gestalt des Mörders kann man dem kaum glauben schenken. Der entscheidende Bruch mit der Vorstellung vom kaltblütigen Killer, der aus reiner Lust an Gewalt und Bösartigkeit tötet, ist schon hier geschehen.[19] Der Zuschauer gerät in Verwunderung und muss seine Vorstellungen korrigieren.

Danach verdichten sich die Ermittlungen der Polizei und auch die der Kriminellen nehmen ihren Anfang. Die ganze Stadt, und tatsächlich scheint niemand ausgenommen zu sein, ist determiniert durch das Verbrechen. Jegliche alltägliche Ordnung ist aufgehoben. Es entfaltet sich ein umfangreiches Szenario an Maßnahmen und die Polizei veranlasst unauffällige Hausdurchsuchungen bei Leuten, die in Psychiatrien, Nervenkliniken und ähnlichem „[…] als harmlos entlassen wurden […]“[20]. Der kriminelle Kreis um Schränker hat hingegen den Plan gefasst Spitzel einzusetzen und da niemand unauffälliger die ganze Stadt überwachen könnte als Bettler, werden diese kurzerhand engagiert. Die Länge und fast dokumentarische Ausführlichkeit der Vorgehensweise von Polizei und Kriminellen stellt eine deutliche und harte Zäsur in der Dramaturgie dar. Die emotionale Aufgewühltheit verfliegt und der Zuschauer gewinnt einen Abstand zum Mörder, ja er ist regelrecht von ihm abgelenkt.[21] Seine Betrachtung nimmt eine Form von Sachlichkeit und Neutralität an, die durch die ständigen perspektivischen Wechsel geschaffen wird. Die Identifikation mit den Figuren des Kommissars Lohmann oder seines Äquivalents bei den Kriminellen Schränker ist durch verschiedene Umstände eher erschwert. Beide sind zwar sympathisch, jedoch auch überhöht und distanziert dargestellt und strahlen damit eine gewisse Unnahbarkeit aus. Das ist deshalb sehr interessant, weil man dadurch so etwas wie Mitleid mit dem Mörder bekommt, als dieser nach langem einmal wieder auftaucht. Auf ihn ist eine regelrechte Hetzjagd angesetzt, die in Anbetracht seiner unscheinbaren, fast infantilen Gestalt völlig übertrieben wirkt.[22] Nur knapp entgeht er einem Ermittler, der seine Wohnung zu untersuchen beginnt.

Langsam zeichnet sich eine klarere Charakterdarstellung ab. Wer ist der Mörder? Diese Frage, die zu Beginn immer wieder gestellt wurde, bestimmt weiterhin die Ermittlungen und stellt noch immer das Hauptinteresse der ganzen Stadt dar. Doch dem Zuschauer stellt sich hier bereits eine ganze neue Frage, nämlich: „Was ist das für ein Mensch?“[23] Der Film zeigt nun ein zurückhaltendes, harmlos wirkendes Wesen bei alltäglichen Beschäftigungen. Eben dieser Widerspruch von Vorstellung und Täter weckt zunehmend das Interesse für den Mensch hinter den Morden.

Beckert betrachtet, vor einem Haushaltswarengeschäft stehend, im ausgestellten Spiegel, ein kleines Mädchen und sein Blick und Gesichtsausdruck verändern sich ruckartig. Für einen kurzen Moment wirkt er wie in eine Maschine verwandelt. Nachdem man als Zuschauer verwunden hat, dass der Mörder keine, auf diese eindimensionale Weise böse Figur ist, auf die „[…] das stereotype Schema eines brutalen Verbrechers passen will […]“[24], bildet sich hier eine neue Vorstellung vom Täter heraus. Diese kündigte sich bereits in der oben erwähnten Spiegelszene an. Lüstern und triebgesteuert fasst er sich an den Mund. Wie um die Vorherrschaft mit sich selbst ringend, versucht er sich zusammenzureißen. Scheinbar einer Ohnmacht nahe schwankt er umher, atmet tief und scheint sich langsam wieder zu besinnen. Doch die Hoffnung wird zerstört. Gierig blickt er dem Mädchen hinterher und schon hat ihn der kurze Anschein von Kontrolle wieder verlassen. Der bis vor wenigen Sekunden noch ungefestigte, labile Mann folgt plötzlich einem starren Willen. Dann beginnt er, wie aufgezogen, die Grieg-Melodie zu pfeifen und setzt sich in Bewegung. Die Spannung schwillt an und die Melodie scheint dem Mädchen zu folgen. Doch dann kommt ihre Mutter und das drohende Übel ist verhindert. Das Pfeifen verstummt und Beckert blickt ihnen enttäuscht hinterher. Um sich zu beruhigen geht er in ein Café und lenkt sich mit Cognac ab. Er stützt sich auf den Tisch und fasst sich an den Kopf. Wieder wie einer Ohnmacht nahe ringt er mit sich. Eine Doppelgesichtigkeit des Täters wird zunehmend erkennbarer. Schon als er den Brief an die Presse verfasste, zeigte sich eine Art Gespaltenheit, denn er musste sich durchaus im Klaren gewesen sein, dass er damit den Ermittlungen Vorschub leistete. Es scheint fast so als habe er versucht, sich selbst zu besiegen, denn er hat sich nicht als jemand herausgestellt, der sein Spiel mit den Behörden treiben will. Eigentlich könnte man sogar annehmen, er wisse überhaupt nicht, was er will bzw. habe keine Kontrolle darüber. Das bestärkt die Vorstellung, er morde „[…] aus einem inneren Zwang heraus, gegen den er nicht anzukämpfen vermag, ja er leidet selbst unter diesen nicht faßbaren Kräften, die sein Handeln gegen seinen Willen beherrschen. Er erscheint selbst als Opfer seiner mörderischen Triebe.“[25]

Als er dann abrupt aufsteht, zahlt und wieder beginnt die bekannte Grieg-Melodie zu singen, wird schnell klar, wer bzw. was siegreich aus dem inneren Kampf hervor ging. Die Mordlust steuert ihn und er ist wohl nicht mehr davon abzubringen sich ein Opfer zu suchen.

Bald darauf vernimmt man wieder das Pfeifen Beckerts. Die Szene zeigt jedoch den blinden Luftballonverkäufer, der sich an den Tag von Elsies Verschwinden erinnert. Er ruft einen jungen Bettler herbei und setzt ihn auf Beckert an. Letzterer ist bereits damit beschäftig einem Mädchen süße Früchte zu kaufen. Als sie vorm Obstgeschäft stehen, zieht Beckert langsam ein Klappmesser aus der Tasche. Es blitzt auf beim Entsichern und der Bettler erschrickt. Doch dann beginnt Beckert nur eine Apfelsine damit zu schälen. Der Gedanke liegt nahe, dass das Messer eine Mordwaffe werden wird. Das Schälen und geordnete Einritzen von Linien in die Haut, erscheint wie eine Vorwegnahme und Metapher des Mordaktes.[26] In dieser Szene verdeutlicht sich noch die Präsenz von Stummfilmdarstellungen. Der Bettler kommt auf den Einfall, sich mit Kreide ein M auf die Hand zu malen und den Mörder bei einem vermeintlichen Ausrutschen auf den Schalen damit zu markieren. Der Idee dieser Schlüsselszene verdankt der Film seinen Namen und auch die Gestaltung der Filmplakate. Beckert erschrickt, seine Gefühlslage ist zu erahnen - irgendwo zwischen ertappt sein und Erleichterung. Ein langsamer Schwenk der Kamera versichert uns, dass das Kreide-M auf seinem Mantel wie geplant platziert ist. Die Kriminellen haben den Mörder also mit Hilfe der Bettler ausfindig gemacht. Gleich die nächste Szene zeigt uns, dass auch die Polizei den entscheidenden Hinweis gefunden hat, um auf Beckert zu schließen. Die Maserung seines Fensterbrettes, die sein Brief an die Presse aufwies, hat ihn verraten. Die Jagd beginnt. Beckert, der noch nichts ahnt, wird weiter beschattet. Er geht mit dem Mädchen zu einem Spielwarengeschäft und die Freude in ihren Gesichtern scheint einander identisch zu sein.

Dieses, hier auf extreme Weise verdeutlichte Missverhältnis zwischen dem Bösen und der, in der Bevölkerung herrschenden Idee vom Bösen, machte den Mörder solange wie unsichtbar. Die Bevölkerung war blind für einen derartigen Verbrecher und mit beeindruckenden Effekten ist dem Zuschauer diese Blindheit am eigenen Leib demonstriert worden.

„Das Böse, das in dieser Stadt umgeht, unterläuft das Bild des Bösen. Dieses Böse muss sich nicht einmal verstellen; es entsteht nicht aus Andersartigkeit, sondern aus »Verwandtschaft« mit den Opfern.“[27]

Als beide das Spielwarengeschäft gerade betreten wollen, weist ihn die Kleine auf sein Kreidemal hin. Als Beckert darauf einen seiner Beobachter entdeckt, der sich in der Scheibe spiegelt, erinnert sein ruckartiges Umwenden und der übertriebene Gesichtsausdruck erneut stark an die Bildsprache der Stummfilmzeit. Er bekommt Panik und flüchtet ohne das Mädchen. Die Bettler verständigen sich mit Pfiffen und können ihn einkreisen. Beckert flieht in ein Bürogebäude und sitzt damit in der Falle. Kurz darauf ist Feierabend und die Türen werden verschlossen. Man sieht ihn wie verängstigt, halb gebückt und absolute Unsicherheit im Gesicht tragend, inmitten von Gerümpel stehen. Die Kriminellen besetzen das Haus um den Mörder zu finden, während die Polizei vergeblich in seiner Wohnung auf ihn wartet. Mit dem Versuch beschäftigt, die Tür zu entriegeln, verursacht er Lärm, der ihn verrät. Bald darauf rahmt ihn der Schein einer Taschenlampe ein und er ist wie gelähmt. Man sieht die Kriminellen ihn eingewickelt heraustragen.

Die Darstellung des Täters gleicht also zu diesem Zeitpunkt einer komplexen, zerrissenen Gestalt, die ihrer Triebneigung nicht Herr werden kann. Doch hat man den Mörder kaum sprechen hören und wenn, zumeist Dinge belanglosen Inhalts. Man kann weitgehend nur aus der Beobachtung seiner Handlungen, Gestik und Mimik auf seine innerlichen Zustände schließen. Er selbst hat diese bisher nicht artikuliert. Gekonnt gesetzte Effekte bestärkten und festigten den Eindruck, den man aus der Betrachtung Beckerts gewinnt. So ahmt die Kamera zum Beispiel, als er vorm Haushaltswarengeschäft steht, seinen Blick nach. Dieses Zusammenspiel der Perspektive des Mörders und einer Draufsicht brachte dem Zuschauer ein Verständnis seiner irrationalen Beweggründe auf beträchtliche Weise näher. Auch Lorres brillante Darstellung lässt für kurze Augenblicke Mitleid beim Zuschauer aufflammen, das den Wunsch, dass Beckert von seinen Trieben befreit werde, aufkommen lässt.

In einer leeren Fabrik hört man schrille Schreie und das Fluchen Beckerts, der nicht begreifen kann, was diese Menschen von ihm wollen. Man stößt ihn vor eine Art Verbrechertribunal. Eine gewaltige Menge Krimineller starrt den zerzausten und vor Ungewissheit und Angst zermürbten Mörder an. Seine krächzigen Laute, Schreie und sein vergebliches Flehen verstummt abrupt, als er die Meute, dessen Richter Schränker ist, erblickt. Die Verhandlung ist eröffnet.

[...]


[1] Vgl. Filmgenres. Kriminalfilm. Hg. v. Knut Hickethier. Stuttgart: Reclam 2005, S. 11 f.

[2] Ebd., S. 57 f.

[3] Wenn ich des Weiteren vom Zuschauer schreibe, dann ist ein theoretischer gemeint, der eine idealtypische Wirkung auf Wahrgenommenes demonstrieren soll.

[4] Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Welt. Hg. v. Karsten Witte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 34.

[5] Kreimeier, Klaus: M – Eine Stadt sucht einen Mörder. URL: http://www.filmzentrale.com/rezis/meinestadtsuchteinenmoerderkk.htm - Abruf am 12.02.2010.

[6] Vgl. Kracauer, (wie Anm. 4), S. 36.

[7] Toeplitz, Jerzy: Geschichte des Films. 1928 – 1933. Berlin: Henschelverlag 1992, Bd. 2, S. 214.

[8] Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 95.

[9] Vgl. Seeßlen, Georg: Thriller. Kino der Angst. Marburg: Schüren 1995, S. 40.

[10] Vgl. Kracauer, (wie Anm. 4), S. 42.

[11] Lang, Fritz: M – Eine Stadt sucht einen Mörder. DVD, 107 min., Deutschland: Universum Film GmbH 2004 (Deutschland: Nero-Film AG 1931), 4:40 min.

[12] Ebd., 4:56 min.

[13] Ebd., 5:02 min.

[14] Vgl. Seeßlen, Georg: M – Eine Stadt sucht einen Mörder. In: Der Filmkanon. 35 Filme, die sie kennen müssen. Hg. v. Alfred Holighaus. Berlin: Bertz + Fischer 2005, S. 43.

[15] Lang, (wie Anm. 11), 5:36 min.

[16] Es handelt sich um Edvard Griegs Peer Gynt Suite 1 – 4 - In der Halle des Bergkönigs.

[17] Vgl. Seeßlen 2005, (wie Anm. 14), S. 43.

[18] Vgl. Kracauer, (wie Anm. 4), S. 42.

[19] Vgl. ebd., S. 43.

[20] Lang, (wie Anm. 11), 40:04 min.

[21] Vgl. Kracauer, (wie Anm. 4), S. 42.

[22] Vgl. ebd., S. 43.

[23] Ebd., S. 42.

[24] Ebd., S. 43.

[25] Ebd., S. 43 f.

[26] Tatar, Maria: Lustmord. Sexual Murder In Weimar Germany. Princeton: Princeton University Press 1995, S. 161.

[27] Seeßlen 2005, (wie Anm. 14), S. 43.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Das Bild des Bösen untergräbt das Böse - Die Darstellung des Bösen in 'M – Eine Stadt sucht einen Mörder'
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Einführung in die Filmanalyse
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
22
Katalognummer
V190415
ISBN (eBook)
9783656149156
ISBN (Buch)
9783656149071
Dateigröße
576 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
bild, bösen, böse, darstellung, eine, stadt, mörder
Arbeit zitieren
Eric Jänicke (Autor:in), 2010, Das Bild des Bösen untergräbt das Böse - Die Darstellung des Bösen in 'M – Eine Stadt sucht einen Mörder', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/190415

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