Die Figur des Doppelgängers als Ausdruck innerer Gespaltenheit galt als eines der beliebtesten literarischen Motive in der Romantik sowie im 19. Jahrhundert. Mit dieser Vorstellung vermochten Dichter, den Verlust des einheitlichen, intakten Persönlichkeitsbewusstseins
sowie der lückenlosen Kontinuität des Ichs zu demonstrieren. Rund ein Jahrhundert später erhielt jener literarische Motivkomplex durch die Psychoanalyse Freuds sein theoretisches Pendant. Nunmehr bedurfte die zuvor rätselhaft und nebulös anmutende Spaltungserfahrung nicht mehr mythologischer Erklärungsweisen, sondern erschien vor dem Hintergrund der psychologischen Erläuterungen geradezu evident: Der Doppelgänger wurde
als Konsequenz der Spannungen innerhalb des psychischen Apparats begriffen und als Verkörperung verdrängter Ich-Aspekte betrachtet.
Was nun begann, war eine Doppelgängergeschichte von Literatur und Psychoanalyse, die – entsprechend dem Lacanschen Spiegelstadium, in dem das Bild vor dem Abgebildete ist – Verwirrung über die Chronologie und das Urheberrecht verursachte: Wie vermochten die
Autoren des 19. Jahrhunderts die ein halbes Jahrhundert später generierten psychoanalytischen Theorien antizipierend in ihr Werk aufgenommen haben? Kritiker postulierten gar,
diese Bezüge seien inszeniert, die Psychoanalytiker hätten die literarischen Texte lediglich für die künstliche Umsetzung ihrer wissenschaftlichen Theorien missbraucht. Über solche
Diskussionen hinweg wird zumal der springende Punkt übersehen – das Endergebnis: Die
psychoanalytische Textinterpretation bietet eine faszinierende Lesweise, mit der eine neue
psychologische Dimension literarischer Werke erschlossen werden kann.
In dieser Abhandlung werden in Anlehnung an die psychoanalytische Textinterpretation
zwei Werke des 19. Jahrhunderts analysiert: Die Elixiere
des Teufels von E.T.A. Hoffmann und Der Doppelgänger von Fjodor M. Dostojewski –
zwei Werke, die mit einer visionären psychologischen Intuition das Thema der inneren
Zerrissenheit eines psychisch abnormen Menschen umkreisen. Mittels der
psychoanalytischen Lesweise sollen die tiefer liegenden, unbewussten Strukturen der beiden
Werke extrahiert, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Gestaltung des Doppelgängers
eruiert, als auch allgemeine Aussagen über das Motiv des Doppelgänger getätigt
werden.
Inhaltsverzeichnis
- Einführung: Eine Doppelgängergeschichte
- Zur Rechtfertigung der psychoanalytischen Textinterpretation der Werke Die Elixiere des Teufels und Der Doppelgänger
- Psychoanalytische Paradigmen zum Doppelgänger
- Der Begriff des Ich in der Theorie Sigmund Freuds
- Die Narzissmustheorie Sigmund Freuds
- Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion von Jacques Lacan
- Der Doppelgänger als Produkt des Narzissmus und der Ich-Problematik des Individuums
- E.T.A. Hoffmann, Die Elixiere des Teufels
- Einführende Worte zu Die Elixiere des Teufels
- Prämissen der narzisstischen Spaltung
- Das Doppelgängertum in Die Elixiere des Teufels - Die Aufspaltung in das Ich, das Es und das Über-Ich
- Das in seiner Identität schwankende Ich
- Das Es - Der Doppelgänger Viktorin
- Das Über-Ich – Der doppelgängerische Maler
- Die Unüberwindbarkeit der narzisstischen Spaltung
- Fjodor M. Dostojewski, Der Doppelgänger
- Einführende Worte zu Der Doppelgänger
- Prämissen der narzisstischen Spaltung
- Ideal und Rivale
- Das verkörperte schlechte Gewissen
- Die Unüberwindbarkeit der narzisstischen Spaltung
- Abschließendes Resümee der zentralen Kontinuitäten
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Abhandlung analysiert zwei Werke des 19. Jahrhunderts, "Die Elixiere des Teufels" von E.T.A. Hoffmann und "Der Doppelgänger" von Fjodor M. Dostojewski, im Lichte der psychoanalytischen Textinterpretation. Das Doppelgängermotiv dient dabei als Ausgangspunkt der Interpretation, um die tiefer liegenden, unbewussten Strukturen der Werke zu extrahieren, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Gestaltung des Doppelgängers zu eruieren und allgemeine Aussagen über das Motiv zu treffen.
- Psychoanalytische Interpretation des Doppelgängermotivs
- Spaltung des Ichs in der Romantik und im 19. Jahrhundert
- Anwendung der psychoanalytischen Theorien von Freud und Lacan auf literarische Werke
- Analyse der Werke "Die Elixiere des Teufels" und "Der Doppelgänger"
- Untersuchung der narzisstischen Spaltung und deren Auswirkungen auf die Ich-Struktur
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einführung behandelt die Figur des Doppelgängers als Ausdruck innerer Gespaltenheit und stellt die Verbindung zu den psychoanalytischen Theorien Freuds her. Das zweite Kapitel beleuchtet die Rechtfertigung der psychoanalytischen Textinterpretation und zeigt die enge Beziehung zwischen Literatur und Psychoanalyse auf. Im dritten Kapitel werden die wichtigsten psychoanalytischen Paradigmen zum Doppelgänger vorgestellt, darunter der Begriff des Ichs, die Narzissmustheorie und das Spiegelstadium. Das vierte Kapitel konzentriert sich auf E.T.A. Hoffmanns "Die Elixiere des Teufels" und untersucht die Prämissen der narzisstischen Spaltung sowie die Aufspaltung des Ichs in Ich, Es und Über-Ich. Das fünfte Kapitel widmet sich Fjodor M. Dostojewskis "Der Doppelgänger" und analysiert die narzisstische Spaltung, die Rolle des Doppelgängers als Ideal und Rivale sowie die Verkörperung des schlechten Gewissens.
Schlüsselwörter
Doppelgängermotiv, psychoanalytische Textinterpretation, Sigmund Freud, Jacques Lacan, E.T.A. Hoffmann, Fjodor M. Dostojewski, Die Elixiere des Teufels, Der Doppelgänger, Spaltung des Ichs, Narzissmus, Spiegelstadium, Ich-Problematik, literarische Analyse, psychologische Dimension.
- Quote paper
- M.A. Laura Dorfer (Author), 2008, Spaltung und Multiplikation des Ichs, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/190823