Die Ästhetik des Hässlichen am Beispiel von Gottfried Benns Morque-Gedichten


Hausarbeit, 2011

20 Seiten, Note: 13


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Historischer Hintergrund
2.1. Zeitgeschichtliche Aspekte: Das expressionistische Jahrzehnt
2.2. Die Funktion des Hässlichen in expressionistischer Lyrik
2.3. Gottfried Benn als Dichter seiner Zeit
2.3.1. Biographische Eckdaten zu Leben und Werk
2.3.2. Benns »Morque-Gedichte«

3. Motivkomplexe
3.1. Verwesung/Vergänglichkeit/Verfall: Tod vs. Leben?
3.1.1. in: „Kleine Aster“
3.1.2. in: „Schöne Jugend“
3.1.3. in: „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke “
3.2. Entwertung des Menschen durch Identitätsverlust
3.2.1. in: „Kleine Aster“
3.2.2. in: „Schöne Jugend“
3.2.3. in: „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke “
3.3. Religiöser Verweischarakter: Theologie vs. Anatomie
3.3.1. in: „Saal der kreissenden Frauen“
3.3.2. in: „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke “

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Die Ästhetik des Hässlichen erhebt in der expressionistischen wie schon in der naturalistischen Moderne als eine Technik zur Desillusionierung des schönen Scheins Erkenntnisansprüche auf Wahrheit und Authentizität, die im Rahmen tradierter Verpflichtungen der Künste auf das Schöne nicht mehr einlösbar erschienen.“1

Thomas Anz spielt in seinem Zitat auf ein bestimmtes Motiv expressionistischer Literatur an: das Hässliche. So finden sich in entsprechenden Gedichten gehäuft Bilder des kranken und hässlich gewordenen Körpers: Ausdrücke wie „Darmkrankheiten, Pickel, faule Zähne, faule Säfte, grüne Zähne, Lidrandentzündung, junger Kropf, Bartflechte, Gichtknoten, Seuchen, Pestilenzen, Beulen, Eiter, Furunkel, Rotz, Karbunkel [oder] Kniewasser“2 beherrschen das allgemeine Schriftbild.

Ziel dieser Arbeit ist es, die sogenannte »Ästhetik des Hässlichen« am Beispiel von Gottfried Benns Morque-Gedichten herauszuarbeiten. Im ersten Teil wird der Fokus zunächst auf dem historischen Hintergrund liegen. Dementsprechend sollen für das sogenannte »expressionistische Jahrzehnt« zeitgeschichtliche Aspekte herausgehoben und die allgemeine Funktion des Hässlichen in expressionistischer Lyrik erläutert werden. Darüber hinaus soll ausschnittsweise die Person Gottfried Benn und insbesondere sein literarisches Schaffen beleuchtet werden. Diesbezüglich werde ich zunächst auf einige biografische Eckdaten und anschließend genauer auf seine Gedichtsammlung »Morque« eingehen. Im zweiten Teil sollen dann insgesamt drei Motive innerhalb ausgewählter Morque-Gedichte analysiert werden. Herangezogen werden hierzu die Gedichte „Kleine Aster“, „Schöne Jugend“, „Saal der kreissenden Frauen“ und „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke“.

2. Historischer Hintergrund

2.1. Zeitgeschichtliche Aspekte: Das expressionistische Jahrzehnt

Mit der Jahrhundertwende vom 19. ins 20. Jahrhundert gingen einige tiefgreifende Veränderungsprozesse einher, die in den Köpfen der Menschen nicht unbemerkt blieben. So kam es zu einer rapiden Beschleunigung von soziokulturellen Entwicklungsprozessen. Darunter fielen laut Thomas Anz u.a. „Prozesse der Rationalisierung, Technisierung, Industrialisierung und Urbanisierung, die Zunahme sozialer Mobilität, die Expansion massenkommunikativer Prozesse und die Bürokratisierung […]“3 - kurzgefasst: eine immense Beschleunigung des alltäglichen Lebens. „Kunst und Literatur der Moderne sind

von der schockartigen Konfrontation mit dem sozialen Wandel nachhaltig geprägt.“4 Zeitgenössische Autoren griffen die pulsierenden Themen auf und verarbeiteten sie innerhalb ihrer literarischen Werke. Die Literatur der Jahrhundertwende ist von verschiedenen konkurrierenden Gruppierungen geprägt. Dazu gehört neben Strömungen wie dem Naturalismus oder dem Futurismus vor allem auch die expressionistische Bewegung. Im Folgenden sollen einige Themen aufgegriffen werden, die in der Literatur des Expressionismus eine wichtige Rolle spielen und damit den historischen und soziokulturellen Hintergrund des Expressionismus bilden.

Zu solchen Themen gehört beispielsweise das Thema »Großstadt«. Das Leben in einer Großstadt ist in erster Linie geprägt von Anonymität. Der Einzelne hat auf der einen Seite einen größeren Spielraum zur individuellen Entfaltung, auf der anderen Seite jedoch verliert er in einer Großstadt zunehmend an Bedeutung. Beziehungen basieren meist nur auf der Oberfläche, Menschen werden sich fremd, der Einzelne kann vor allem in seinem Beruf ersetzt werden. „Zusammen mit den Großstädten prägen die Massenmedien um 1910 nachhaltig die neuen Formen der Wahrnehmung: neben den Zeitungen vor allem auch das Kino.“5 Das Phänomen der Reizüberflutung durch die immense Zunahme von äußeren Reizen ist dabei keine seltene Erscheinung.

Von großer Bedeutung für das damalige Zeitgefühl waren auch die Folgen des Ersten Weltkriegs. Die Menschen erlebten - bedingt durch den großen technischen Fortschritt - den ersten hochtechnisierten Krieg, von dessen Zerstörungskraft viele überrascht wurden. Themen wie Zerstörung, Krankheit, Verfall und Weltende fanden darum in expressionistischer Literatur häufige Verwendung. Kennzeichnend für den Krieg waren aber nicht nur dessen dramatische Auswirkungen, sondern insbesondere auch die vorangehende Kriegsbegeisterung. Die Menschen, darunter auch viele Autoren, sahen dem Krieg begeistert entgegen. Hinter dieser Kriegsbegeisterung steckte oftmals die Hoffnung auf eine grundlegende Erneuerung. Krieg war also das Erleben einer Katastrophe und die Sehnsucht nach einem Neuanfang zugleich. Neben der Hoffnung auf eine »neue Welt«6 gab es auch die Hoffnung auf einen »neuen Menschen«:

„Hinter dieser Sehnsucht nach mehr Lebensintensität stand das Unbehagen an einer Kultur, die man aufgrund ihrer zunehmenden Tendenz zur Verwissenschaftlichung, Rationalisierung, Mechanisierung, Fragmentarisierung und Konventionalisierung vorwarf, den vitalen Kräften und Bedürfnissen des Individuums keine Entfaltung mehr zu gewährleisten oder sie vom sonstigen Leben zu isolieren.“7

Schlüsselfiguren, mit denen sich die Autoren des Expressionismus - entsprechend der generellen Unzufriedenheit - besonders identifizierten, waren laut Anz Bürger und Künstler, Väter und Söhne, Irre, Kranke, Tiere und Gefangene.8 „Der Irre fungiert im Expressionismus als extremster Kontrast zur Normalität des verhassten Bürgers. Er bildet darin zusammen mit Kranken, Verbrechern, Gefangenen, Dirnen, Bettlern, Juden und Künstlern eine Beispielreihe von sozialen Außenseitern […].“9

Ein bedeutendes Thema war aber nicht nur die Darstellung von sozialen Außenseitern, sondern auch die Einbeziehung einer negativen Ästhetik. Bereits seit dem Naturalismus fanden Motive des Hässlichen und Grotesken Eingang in die „schöne“ Literatur:

„Mit dem wissenschaftsnahmen Anspruch auf Wahrheit statt auf Schönheit erschloss der Naturalismus der Literatur Bereiche, die für die Moderne des 20. Jahrhunderts in ihrer Opposition zur klassisch-idealistischen Ästhetik charakteristisch blieben: das Hässliche, das Pathologische und jenes soziale Elend einer einen, von der Industrialisierung hervorgebrachten Klasse […].“10

Im Folgenden soll nun genauer die Funktion des Hässlichen in expressionistischer Lyrik herausgearbeitet werden.

2.2. Die Funktion des Hässlichen in expressionistischer Lyrik

Anders als die klassische, schöne Literatur steht die expressionistische Moderne vielmehr „in Opposition auch zum ästhetizistischen Schönheitskult um 1900, [sie ist] eine Literatur der Disharmonien, des Hässlichen, Grotesken und Pathologischen, Darstellung einer als zerrissen wahrgenommenen Außen- und Innenwelt […]“11. Das spezifische Mittel der Ästhetik des Hässlichen ist laut Anz darum „die schockartige Emotionalisierung.“12 So gehören „Schlangen, Fliegen, Würmer oder Spinnen […] zur Ästhetik des Hässlichen und Grotesken im Expressionismus, die emotionale Effekte der Angst, der Ohnmacht und des Ekels evoziert.“13 Über die gewollte Emotionalisierung und Provokation hinaus dient die Beschäftigung mit dem Hässlichen aber auch der „Aufdeckung des schönen Scheins der Oberfläche zugunsten des >Wesens< äußerer und innerer Realität“14 So soll in expressionistischer Literatur das Innere der Dinge erfasst bzw. das unter der Oberfläche Verborgene entdeckt oder das Unsichtbare sichtbar gemacht werden. „Darstellung des Hässlichen in der expressionistischen Moderne ist die Konfrontation mit dem öffentlich Verworfenen […]. Als hässlich gelten der Ausdruck des Leidens, die Krankheit des Körpers und des Geistes, die Grimassen der Angst, die Entblößung der Triebsphäre.“15 Beispielhaft für die Verwendung einer negativen Ästhetik stehen Gottfried Benns Morque- Gedichte. Dort wird der Blick bewusst auf die kranken oder toten Körper gelenkt und auf diese Weise mit schockierenden und provozierenden Bildern zugleich konfrontiert. Bevor aber näher auf Benns Morque-Gedichte eingegangen wird, sollen vorab noch einige wichtige biographische Eckdaten zu Benns Leben und Werk vorangestellt werden.

2.3. Gottfried Benn als Dichter seiner Zeit

2.3.1. Biographische Eckdaten zu Leben und Werk

Thomas Homscheid beschreibt Gottfried Benns Biografie als eine von „Kriegswirren, Militärdienst, Medizin und familiärer Tragik“16 gezeichnete. Benn wird 1886 geboren und wächst seitdem in einem protestantischen Pfarrhaus auf. Das stark religiös geprägte Familienumfeld lehnt er jedoch ab, was in späteren Jahren zu erheblichen Konflikten zwischen ihm und seinem Vater als einem Geistlichen führt.17

„Nach einem angefangenen Studium der Theologie und Philologie wendet sich Benn, seinem ursprünglichen Wunsch entsprechend und gegen den Willen des Vaters, der medizinischen Wissenschaft zu, die in der praktischen Form von Krebsbaracke, Kriegslazarett und Leichenhalle natürlich eine konträre Gegenwelt zur ländlichen Idylle des Pfarrhauses darstellen muss.“18

Sein späteres literarisches Schaffen war somit zu einem großen Teil von seiner medizinischen Erfahrung beeinflusst. So besaß Benn einen doppelten Erfahrungshorizont: Er war zugleich Arzt und Dichter. Hinzu kommt der religiöse Hintergrund der Familie. Damit stand auf der einen Seite „die enorme Vertrautheit des Pastorensohns mit den Denkformen und Topoi religiös-literalen Denkens [und auf der anderen Seite] die naturwissenschaftlich- medizinischen Ausbildung, die zu diesem Sozialisationsspektrum in einer spezifischen Spannung steht.“19

Seine medizinische Karriere wird jedoch auch zum Teil durch eine militärische begleitet. Nach dem Medizinstudium beginnt Benn 1910 seine Tätigkeit als Unterarzt in einem Prenzlauer Infanterieregiment und arbeitet gleichzeitig als Psychiater an der Berliner Charité. Aus gesundheitlichen Gründen bricht er sowohl seine militärische als auch seine psychiatrische Laufbahn ab und nimmt daraufhin verschiedene Stellungen in diversen ärztlichen Einrichtungen an. Beispielsweise arbeitet Benn als Assistent in einem pathologischen Institut, als Schiffsarzt oder als Vertreter des Chefarztes einer Lungenheilanstalt, bevor er „zu Ausbruch des Ersten Weltkriegs […] im Rahmen der Generalmobilmachung am 31. Juli 1914 wieder in den militärischen Dienst ein[tritt].“20 Für die Entstehung der Morque-Gedichte war insbesondere seine pathologische Tätigkeit von Bedeutung.21

„Bei Gottfried Benn nimmt die Kritik an der Wissenschaft im Allgemeinen und an der Medizin im Besonderen eine zentrale Stellung ein […].“22

„In der Morque-Lyrik steigert sich die Somatik der Krankheitsbeschreibung um den Grad, dass es sich bei den dargestellten Körpern um Leichen und hoffnungslos Verlorene handelt, womit sich das Potential zum Grotesken um die Komponente des Morbiden erweitert und von einem gesteigerten Zynismus begleitet wird.“23

Trotz oder vielleicht gerade wegen des provokativen und zynischen Stils war Benns Erfolg mit den Morque-Gedichten immens! „Die Gedichte bildeten 1912 den Auftakt für das literarische Schaffen des soeben promovierten Arztes Benn und begründeten bis heute seinen Ruhm als maßgeblichen Lyriker des Expressionismus.“24

2.3.2. Benns »Morque-Gedichte«

„Die Sammlung Morque und andere Gedichte, im März 1912 als 21. Flugblatt […] erschienen, ist Benns Einstand in die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts […].“25 Insgesamt umfasst der Gedichtband neun Gedichte, die man in verschiedene Schauplätze einteilen kann. Der Schauplatz der fünf ersten Gedichte „Kleine Aster“, „Schöne Jugend“, „Kreislauf“, „Negerbraut“ und „Requiem“ ist das Leichenschauhaus. „Saal der kreissenden Frauen“, „Blinddarm“ und „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“ spielen dagegen in einem Krankenhaus. Das Nachtcafé ist Schauplatz des gleichnamigen neunten Gedichts.26

[...]


1 Anz, Thomas: Literatur des Expressionismus, Stuttgart u. Weimar 2002, S. 166.

2 Eykman, Christoph: Die Funktion des Hässlichen in der Lyrik Georg Heyms, Georg Trakls und Gottfried Benns. Zur Krise der Wirklichkeitserfahrung im deutschen Expressionismus, 3. erg. Aufl., Bonn 1985, S. 142f.

3 Anz: a.a.O., S. 18.

4 Anz: a.a.O., S. 101.

5 Anz: a.a.O., S. 106.

6 Vgl. Anz: a.a.O., S. 17.

7 Anz: a.a.O., S. 54.

8 Vgl. Anz: a.a.O., S. 75-99.

9 Anz: a.a.O., S. 83.

10 Anz: a.a.O., S. 12.

11 Anz: a.a.O., S. 164.

12 Anz: a.a.O., S. 166.

13 Anz: a.a.O., S. 94.

14 Anz: a.a.O., S. 165.

15 Anz: a.a.O., S. 167.

16 Homscheid, Thomas: Zwischen Lesesaal und Lararett. Der medizynische Diskurs in Gottfried Benns Frühwerk, Würzburg 2005, S. 12.

17 Vgl. Homscheid: a.a.O., S. 11.

18 Homscheid: a.a.O., S. 11.

19 Delabar, Walter: Inversionen des Begehrens. Gottfried Benns Morque, in: Gottfried Benn (1886 - 1956): Studien zum Werk, hrsg. v. W. Delabar u. U. Kocher, Bielefeld 2007, S. 24.

20 Homscheid: a.a.O., S. 15.

21 Vgl. Homscheid: a.a.O., S. 14f.

22 Homscheid: a.a.O., S. 83.

23 Homscheid: a.a.O., S. 92.

24 Homscheid: a.a.O., S. 64.wii

25 Delabar: a.a.O., S. 14.

26 Vgl. Delabar: a.a.O., S. 26.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Die Ästhetik des Hässlichen am Beispiel von Gottfried Benns Morque-Gedichten
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
13
Autor
Jahr
2011
Seiten
20
Katalognummer
V191480
ISBN (eBook)
9783656162667
ISBN (Buch)
9783656163817
Dateigröße
611 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gottfried Benn, Expressionismus, Ästhetik, Morque, Lyrik
Arbeit zitieren
Linda Lau (Autor:in), 2011, Die Ästhetik des Hässlichen am Beispiel von Gottfried Benns Morque-Gedichten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/191480

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