Antike Stoffe im Kinder- und Jugendtheater

Exemplarisch dargestellt anhand ausgewählter Stücke


Examensarbeit, 2002

88 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Annäherung an den Begriff des Mythos

3. Die Problematik der Darstellung von „Klassikern“ im Kinder- und Jugendtheater

4. Die Funktionalisierung der Medea des Euripides in Medeas Kinder
4.1. Handlung und Analyse
4.2. Die Wiederherstellung der alten Katharsisfunktion
4.3. Ergebnisformulierung

5. Iphigenie Königskind: Euripides Klassiker als eine Geschichte vom Erwachsenwerden.
5.2. Analyse der dramatis personae
5.2.1. Die Spaltung der Figur der Iphigenie
5.2.2. Die Darstellung der Erwachsenenfiguren
5.3. Für wen geht Iphigenie in den Tod?
5.4. Zur Funktion der attischen Tragödie im Drama
5.5. Zum Sprachgebrauch
5.6. Ergebnisformulierung

6. Von der Möglichkeit, das Tragische der antiken Stoffe auch für die „ganz Kleinen“ zumutbar zu machen: Ikarus! oder der Himmel ist blau und auch das Meer
6.1. Die theatralische Präsentation des antiken Stoffes
6.1.1 Aufbau und Inhalt
6.1.2. Die Affinität zum Kinderspiel
6.1.3 Die Wahrung der Balance zwischen Betroffenheit und Distanz
6.2. Die Abwendung von der Frage nach der Schuld
6.2.1. Der Freispruch des Ikarus
6.2.2. Der Freispruch des Vaters
6.2.3. Klärung der Schuldfrage
6.3. Ergebnisformulierung

7. Ödipus 2000: Eine Parabel vom postmodernen Menschen
7.1. Quelle und Inhalt
7.2. Der Schreibwettbewerb zu Ödipus 2000.
7.3. Vom Auffangen der pessimistischen Weltsicht der Jugendlichen
7.4. Möglichkeiten zur Identifikation
7.5. Ergebnisformulierung

8. Europa am Strand: Ein Stück vom Erwachen und Erleben der ersten Liebe
8.1. Quelle und Inhalt
8.2. Die Bedeutung der Mythendeutung C.G. Jungs für das Stück Europa am Strand
8.2.1. Die Mythendeutung nach Carl Gustav Jung
8.2.2. Die symbolische Deutung nach Jung am Beispiel des Märchens „La Belle et la Bête“
8.2.3. Übertragung der symbolischen Deutung nach C.G. Jung auf das Drama Europa am Strand
8.2.4. Die Bedeutung der Verwandlung des Zeus in Hinblick auf die psychologische Interpretation
8.2.5. Zusammenfassung der Ergebnisse der psychologischen Interpretation
8.3. Das Stück als Parodie auf den Egoismus des postmodernen Menschen
8.4. Schlussbemerkung

9. Zusammenfassung und Schlussbemerkung

10. Literaturverzeichnis

11. Anmerkungen

1. Einleitung

„Im 18. Jahrhundert mag es ihn gegeben haben, den Kauz und Mythenkenner, von dem Lichtenberg schreibt: ‚Er las immer >Agamemnon< statt >angenommen<, so sehr hatte er den Homer gelesen.’ Dem heutigen Jugendlichen dagegen ist Agamemnon ebenso Hekuba wie diese selbst, denn in der Regel kennt er beide nicht. Apollo ist für ihn ein Raumschiff und Ajax ein Putzmittel. Ist er also endgültig tot, der antike Mythos, der zwei Jahrtausende im Bildungsgepäck des Abendländers überlebt hat? Hat die Entmythologisierung des 20. Jahrhunderts ihm den Garaus gemacht, ihn ein für allemal als überholtes Petrefakt im Museum abgelegt? Die mythologische Tabula rasa der jungen Generation, die nicht mehr mit Schwabs Sagen des klassischen Altertums aufwächst, sondern mit den neuen Mythen Micky-Maus, Superman und Asterix, legt die Annahme nahe.“

(Olbrich 1986, S.4)

Doch diese Annahme ist falsch! Denn die alten Bilder der Mythen leben noch heute immer wieder auf. Sie überlebten die Zeit und wurden dabei verändert, aber niemals vergessen, wie die zahlreiche Anzahl von Mythenreprisen bestätigt. Mythische Geschichten, ihre Helden und Heldinnen verlieren nie an Faszination und an aktueller Bedeutung für unser Leben. Sie sind zeitlos, da sie zentrale Fragestellungen des Menschen nach sich selbst und der als geheimnisvoll und von göttlichen Wirken bestimmten Welt behandeln.

Es ist nötig, die Formulierung „antike Stoffe“, die im Titel verzeichnet ist, einzuschränken. Da die Mythen aufgrund ihrer Vieldeutigkeit und der daraus resultierenden Zeitlosigkeit im Laufe der Jahrhunderte nicht an Faszination verloren haben, sind sie ein interessanter Untersuchungsgegenstand. Dementsprechend beschränkt sich diese Arbeit auf die Rezeption von „mythologischen Stoffen“ im Kinder- und Jugendtheater.

Besonders die griechische Mythologie hat zu Beginn der 80er Jahre Eingang in die Kinder- und Jugendtheaterwelt gefunden; daher konzentriert sich diese Arbeit auf die mythologischen Geschichten griechischer Herkunft. In der europäischen Theaterlandschaft sind dabei die schwedischen Kindertheatermacher zu erwähnen, die 1975 mit Medeas Kinder von Per Lysander und Suzanne Osten eine Bearbeitung der Medea des Euripides vorlegten und den Mythos für das Kindertheater entdeckten. Das niederländische Kindertheater folgte diesem Beispiel und es entstanden Stücke wie Iphigenie Königskind (1989) von Pauline Mol oder Ikarus! oder der Himmel ist blau und auch das Meer (1990) von Josee Hussaarts. Zwei der wenigen deutschen Autoren, welche die griechischen Mythen aufbereitet haben, sind Hubert Habig und Martin Burkert, die in Anlehnung an König Ödipus von Sophokles das Jugendtheaterstück Ödipus 2000 (1986) verfasst haben. Die Tatsache, dass sich das deutsche Kinder-und Jugendtheater bisher von den mythologischen Stoffen kaum hat inspirieren lassen, sondern sich vielmehr damit aufhielt, Stücke aus Schweden und den Niederlanden zu übersetzen, hat das Theaterhaus in Frankfurt in neuester Zeit (2000) dazu veranlasst, Autoren aufzufordern, Theaterstücke für Jugendliche nach Mythen zu schreiben. Aus diesem Projekt gingen bisher fünf Theaterstücke hervor, aus denen zwei der griechischen Mythologie zuzuordnen sind: Kleiner König Ödipus (2001) von Paula Bettina Mader und das Jugendtheaterstück Europa am Strand (2001) von Sybille Neuhaus, wobei in Bezug auf die Arbeit nur das letztgenannte von Bedeutung ist.

Die textimmanente Analyse der eben genannten Dramen für das Kindertheater (Medeas Kinder, Iphigenie Königskind, Ikarus! oder der Himmel ist blau und auch das Meer!) und das Jugendtheater (Ödipus 2000, Europa am Strand) bildet die Grundlage dieser Arbeit. Es soll dargestellt werden, was für Stücke bei der Rezeption von mythologischen Stoffen für das Kinder- und Jugendtheater entstanden sind. Dabei gilt es folgende Fragen zu beantworten: Wie gehen die Autoren mit der Vorlage um? Haben die Autoren Veränderungen am Original vorgenommen? Wenn ja, bestehen dann noch Verknüpfungspunkte in Inhalt, Form und Sprache? Ist das Stück „brauchbar“ für die Adressaten? Kurz gesagt: Es sollen Methoden beschrieben werden, wie einzelne Autoren mythologische Stoffe für Kinder und Jugendliche bearbeiten, um sie für das junge Publikum zugänglich zu machen.

Bei der Analyse der einzelnen Stücke kann dabei kein Anspruch auf Vollständigkeit bestehen, da dies, im Rahmen des Umfanges der Arbeit, nicht zu leisten ist. Vielmehr wird die Analyse weitestgehend reduziert auf die Besonderheiten, die dem jeweiligen Stück in Bezug auf die Vorlage zuzuschreiben sind. Bei Medeas Kinder ist dies die Funktionalisierung der Sprache, der Perspektivenwechsel und die Wiederbelebung der Katharsisfunktion, während die Untersuchung des Stückes Iphigenie Königskind sich im Besonderen mit der Dopplung der Figur der Iphigenie auseinandersetzen wird. Ob mythologische Stoffe auch schon für die „ganz Kleinen“ aufbereitet werden können, wird die Analyse des Dramas Ikarus oder der Himmel ist blau und auch das Meer ! (für Kinder ab 4 Jahren) zeigen. Die zu behandelnden Stücke des Jugendtheaters sollen herausstellen, ob und inwiefern die antiken Stoffe dem Jugendlichen von heute noch etwas bedeuten können. Die Analyse der Dramen Ödipus 2000 und Europa am Strand wird zeigen, ob das Medium Theater mit der Darstellung von mythologischen Geschichten imstande ist, Elemente der heutigen Gefühlswelt von Jugendlichen aufzufangen.

Bevor aber die Rezeption von mythologischen Stoffen im Kinder- und Jugendtheater anhand der erwähnten Stückauswahl exemplarisch dargestellt wird, sollen einleitende Bemerkungen über den Begriff des Mythos zum besseren Verständnis des Untersuchungsgegenstandes beitragen. Weiterhin wird auf die Problematik der Mythenrezeption, im Besonderen für das Kinder und Jugendtheater, verwiesen.

Um ständige Wortwiederholungen zu vermeiden, werden in dieser Arbeit diverse Begriffe verwendet, um die antiken Werke der griechischen Mythologie zu benennen. So werden Ausdrücke wie „antike Stoffe“, „mythologische Stoffe“, „alte Geschichten“ und „Klassiker“ synonym verwendet. Unter der Formulierung „Vorlage“ oder „Original“ verbirgt sich das mythologische Werk der Vorzeit, von welchem sich die jeweilige Autorin bzw. der jeweilige Autor inspirieren ließ.

2. Annäherung an den Begriff des Mythos

Nach Fuhrmann gibt es Wörter, „die man auf so vielerlei Weise zu verwenden sich angewöhnt hat, dass ihre weitere Verwendung eher Verwirrung stiftet als Klarheit“ (Fuhrmann 2000, S.7) Zu diesen Wörtern gehört ohne Zweifel auch der Begriff „Mythos“. Fuhrmann meint, er sei „zu einem Allerweltswort geworden, zu einem modischen Aufputz, der Bedeutsamkeit beansprucht und so gut wie nichts mehr zu verdeutlichen vermag.“ (ebd.) Der Mythos diene nur noch „als Chiffre für beliebige Sinngehalte, als etwas, das in allen Bereichen der Kultur und der Gesellschaft sein Wesen treiben [könne].“ (ebd.) Dieses Phänomen ist darauf zurückzuführen, dass es kaum möglich ist, eine eindeutige Definition des Begriffes zu liefern. Die Folgen dieses Tatbestandes, welche die Aussage Fuhrmanns bestätigen, drückt Hartmut Heuermann folgendermaßen aus: „Der schwer fassbare Status des Wortes wirkt sich als konzeptuelles Vakuum aus, das einer beklagenswerten Beliebigkeit im Umgang mit dem Phänomen Vorschub geleistet hat.“

(Heuermann 1988, S.12)

Worin besteht nun aber die Problematik bei der Klärung des Begriffes „Mythos“?

Heuermann führt die Tatsache der Komplexität des Begriffes darauf zurück, dass eine Diskrepanz zwischen Erklärungswunsch und Erklärungsvermögen, subjektivem Interesse und objektiver Sachlage besteht. (Vgl. Heuermann 1988, S.12) Demnach steht bei den verschiedenen wissenschaftlichen Ansätzen des Versuches, den Begriff des Mythos zu definieren, stets das eigene Interesse am Begriff im Vordergrund. Den verschiedenen Ethnologen, Philosophen, Religionswissenschaftlern usw. darf aber ihre „Eigenwilligkeit“ nicht zum Vorwurf gemacht werden, denn die Komplexität des Mythosbegriffes macht es kaum möglich, ihn auf eine bestimmte Definition, so wie auch Funktion, festzulegen. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang allerdings, dass die einzelnen Wissenschaftler nicht auf ihre jeweilige Definition beharren und diese als allgemein gültig statuieren, sondern einsehen, dass es eine hohe Anzahl von Definitionsansätzen gibt, die in dem jeweiligen Bereich, in dem der Mythos behandelt wird, schlüssig erscheinen.

So ist der folgende Versuch, den Mythos zu definieren nicht als gemeingültig anzusehen, denn dieser beschränkt sich darauf, die Komplexität der Verwendung von „Mythos“ auf das zurückzuführen, worum es hier gehen soll: auf Götter- und Heroengeschichten griechischer Herkunft und deren Rezeption.

Im Griechischen hieß „Mythos“ zunächst einfach nur „Wort“. Doch diese Bedeutung wurde bald verfeinert und vertieft und Mythos wurde übersetzt als das gestaltete Wort der Sage, der Götter- und Heldensage. (Vgl. Schwab 1961, S.609) Für den Menschen früherer Zeit sind solche Sagen aber nicht bloß unterhaltende Geschichten, sondern viel mehr. Nach Plato sollten die zukünftigen Bürger seines Idealstaates ihre literarische Bildung nicht mit Tatsachen und bloßen wissenschaftlichen Lehren beginnen, sondern mit Mythenerzählungen. Diese waren die Grundlage aller Erziehung und für den Griechen des klassischen Zeitalters von tiefer Bedeutung. Sah er die Gestalten der Mythen in den Tragödien des Aischylos, Sophokles und Euripides, dann waren ihre Schicksale für ihn nicht mehr längst vergangene Sagen: für die Zuschauer kam bei diesen Vorstellungen der Sinn des menschlichen Lebens in den Ereignissen auf der Bühne am tiefsten zum Ausdruck. (Vgl. Jaeger 1961, S.8)

Durch die Mythen wurde die gesamte humane Bildung der Griechen zu einer Einheit geführt, denn die geistige Kraft der Mythen wirkte sich auf die innere Entwicklung des Einzelnen in jeder Phase seines Lebens aus. Das hohe Ansehen der Mythen geht dabei auf ihre Universalität zurück, auf die Gerhard Bellinger verweist:

„Die Mythen erzählen vom ständigen Bemühen des Menschen um sein Leben, um Überleben und Weiterleben. Sie erklären die alltäglichen und alljährlich erfahrbaren Vorgänge und besonderen Erscheinungen im Weltbild und das rhythmische Werden und Vergehen in der Natur. Sie erzählen von den menschlichen Lebensbedingungen und den Grenzsituationen (Geburt und Tod), in die ein jeder gestellt ist, und von übermenschlichen Mächten in Gestalt der Götter und Geister, denen er sich gegenüber sieht. Sie erzählen davon, wie Mittlergestalten als Heilsbringer Menschen aus Not und Knechtschaft errettet und als Kulturbringer Jagd und Bodenbestellung, Handwerk und Weisheit gelehrt haben.“

(Bellinger 1999, S.5f.)

Diese elementaren Vorkommnisse im Leben des Menschen werden den Griechen durch die Mythenerzählungen, in denen Götter und Heroen zu handelnden Geschöpfen werden, nahe gebracht. Die Darstellung der Götter- und Heroenwelt zielt dabei nirgends auf Ganzheit oder Einheit, sondern differenziert sich in einer Vielzahl von partikularen Gruppen und Interessen, wie Gundel Mattenklott in ihrem Aufsatz erläutert:

„Nie rundet sich das olympische Pantheon zum verschworenen Kreis, da ist ein ständiges Hin und Her von Allianzen und Streitigkeiten, ein Gegen- und Miteinander von Verschwörungen und kleinen und großen Revolten, ein Aushalten und Abtrotzen und Grollen und Einlenken und Rächen, ein Auslachen und Strafen und neues Begehren. Auch den Heroen und den Menschen, die mit den Göttern umgehen, schließt sich das Leben nie zum Ring, es bleibt im Wechsel von Triumphen, Erfüllung und Verzweiflung Bruchstück. Wie die Geschicke, so die Gestalten: nicht einfach gut oder böse, stark oder schwach, Mann oder Frau, wie es die Liebhaber eines einfachen und klaren Weltbildes wünschen, sondern unendlich nuanciert in ihren widerstreitenden Neigungen, Begierden und Handlungen, dabei ausnahmslos, ob Götter oder Menschen, verstrickt in die Konflikte der Generationenkette und schuldbeladen, einige mehr aus eigener Verantwortung und Leidenschaft, andere eher als unschuldige Opfer.“

(Mattenklott 1993, S. 238f.)

Die Götter- und Heroengeschichten sind demnach gekennzeichnet von fehlender Ganzheit. Mattenklott sieht das als einen Grund der Zurückhaltung der Autoren vor der Antike an. Davon abweichend scheint aber der Reiz der Mythen gerade in ihrer nicht eindeutigen Auslegung von Gestalten und Geschehnissen zu bestehen. Ermöglicht die Tatsache, dass in den griechischen Mythen keine Stereotypen aufgezeigt werden, sondern Geschöpfe und Geschehnisse, deren eindeutige Kategorisierung nicht möglich ist, den Autoren doch erst die Freiheit, ihre eigene Interpretation in die Mythenreprise einfließen zu lassen.

In Bezug auf die Behandlung dramatischer Texte ist hierbei zu bemerken, dass bereits die tragischen Dichter der Antike Veränderungen am Mythos vornahmen, um ihre Intention hervortreten zu lassen. Diese Differenz spricht Aristoteles den Dichtern zu, denn die Lehre des 14. Kapitels lautet, dass der tragische Dichter das überlieferte Gerüst der äußeren Faktoren respektieren müsse, dass er jedoch bei der Motivation, bei den subjektiven Prämissen der Handlung, vom bisher Gültigen abweichen dürfe. (Vgl. Klobása 1881, S.17f.) Aristoteles fordert somit ein konstantes Handlungsgefüge; andererseits räumt er ein, dass man einen Teil der Figuren hinzuerfinden und überdies die Motive und Charaktere abwandeln könne, da jeder Dichter eine bestimmte Sichtweise in seine Stücke einbringen kann. Diese Tragödien liefern oftmals die Vorlage für die Mythenreprisen in der Neuzeit, in denen dann häufig, wie bereits in der Antike, Veränderungen an der Vorlage vorgenommen werden, was die Analyse der Kindertheaterstücke Medeas Kinder und Iphigenie Königskind sowie das Jugendtheaterstück Ödipus 2000 zeigen werden. Welche Veränderungen die Autoren des Kinder- und Jugendtheaters an der Vorlage vornahmen und inwiefern sie die Möglichkeit nutzten, die Mehrdeutigkeit der Charaktere und Situationen in den Mythen auf ihre eigene, bestimmte Intention zu reduzieren, wird sich im weiteren Verlauf der Arbeit zeigen.

3. Die Problematik der Darstellung von „Klassikern“ im Kinder- und Jugendtheater

Die Behandlung von klassischen, antiken Stoffen im Kindertheater liefert immer wieder Anstoß zur Diskussion: Können Kinder Klassikerinszenierungen verstehen? Klassik ist Kunst! Und Kindertheater?

Warum sollten Kinder die Kunst der Klassiker nicht verstehen? „Klassik im engeren Sinne meint einen Kanon ‚immer gültiger’ Texte, deren ‚Brauchbarkeit’ (Martin Walser) jede Generation neu für sich entdecken muß.“ (Jahnke 1993, S.3). Während es im Erwachsenentheater selbstverständlich ist, die Geschichten der antiken Tragiker und Dichter mit der Lebens- und Wirklichkeitserfahrung von heute zu konfrontieren, erscheint Klassik im Kindertheater als etwas Exotisches. Denn im Kindertheater besteht immer noch das Vorurteil, dass alle Geschichten simpel und didaktisch strukturiert sein müssen, damit dem Theaterereignis kein unaufgelöster Rest, kein Geheimnis, mehr bleibt. Dabei ist es doch gerade das Geheimnis, das das Wesen eines Theaterbesuches ausmacht. In anderen Ländern, wie Schweden und den Niederlanden, haben die Theatermacher, vor den deutschen, erkannt, wie wichtig es ist, dass auch im Kindertheater Geheimnisse bestehen bleiben können und sogar sollen. Die Kinder sind nicht enttäuscht, wenn sie nicht „verstehen“, „[d]enn sie können das Faszinierende im ‚Fremden’ mit ihrer Neugierde aufspüren, sich in den Sog hineinbegeben und das für sie ‚Brauchbare’ herausholen.“ (ebd.) Dabei ist darauf zu verweisen, dass auch immer schon die Autoren der Dramen das „Brauchbare“ aus der alten Geschichte für ihre Mythenreprise herausgeholt haben, da sie eine bestimmte Intention verfolgen. Das ist insofern kein grober Eingriff in die antiken Geschichten, wenn der Status einer großen, ungeheuren Geschichte bestehen bleibt und das Theaterstück genügend Freiraum für Mehrdeutigkeit schafft, um dem Zuschauer so die Möglichkeit zu bieten, die Dinge etwas bedeuten zu lassen.

Der Vorwurf, dass die Klassiker für Kinder zu schwer verständlich seien, trifft sicherlich nicht im gleichen Maße auf das Jugendtheater zu. Die Jugendtheatermacher haben aber mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen. In den Versuchen, Stoffe der Antike für Jugendliche zu adaptieren, wird die Problematik deutlich, die alten Geschichten in die Erfahrungswelt einer von comedy und Kommerz geprägten Generation hereinzuholen. (Vgl. Wardetzky 1999, S.5) Diese schwierige Aufgabe wird auch in den „Unübersichtliche[n] Gedanken zum Mythos der geschlossenen Form“ von Rudolf Herfurtner deutlich:

„Muß [...] Jugendtheater aussehen wie die Samstagsabend-Show im privaten Fernsehen? Ist eine Techno-Party Jugendtheater? Bin ich Stückeschreiber ein Fossil, bürgerlicher Dinopark-Bewohner? Schreibe mit königsblauer Pelikan-Tinte 4001 auf weißes Papier Texte, die echte Menschen sprechen sollen, wo doch das große Welttheater längst im Internet abgeht? Das Theater als der Ort der gemeinsamen Besinnung, der kathartischen Läuterung, als moralische Anstalt: Hahaha schallt das kosmische Gelächter der Endzeitpropheten. Ich höre es gut an meinem Schreibtisch. Und ich frage mich täglich: Was treibe ich hier eigentlich? Bin ich wenigstens Sisyphos oder nur ein trauriger Kulturclown, der vergeblich versucht, sich auf einen Stuhl zu setzen, den man ihm längst weggezogen hat?“

(Herfurtner 1996, S.151)

Diese Gedanken spiegeln die Schwierigkeiten wieder, mit denen die heutigen Autoren des Jugendtheaters zu kämpfen haben. Wenn es demnach schon eine Herausforderung ist, die Jugendlichen überhaupt für das Theater zu begeistern, wie viel schwieriger ist dann die Bearbeitung antiker Stoffe, die den Jugendlichen nur aus „öden“ Schulstunden bekannt sind und die sie als „voll out“ abtun. Dennoch wagen einige Autoren den Versuch, den „Geist der Antike“ für Jugendliche wiederzubeleben, indem sie sich den antiken Geschichten im Sinne zeitgeschichtlicher Fragestellungen nähern. Dabei kommt dem Jugendtheater eine doppelte Verantwortung zu: die „Verantwortung gegenüber der Vorlage und [die] Verantwortung gegenüber dem Zuschauer, der das Angebot eines Zuganges zum Fremden, Abständigen erwarten darf.“ (Wardetzky 1999, S.5) Ob die Autoren Hubert Habig und Martin Burkert in ihrer Bearbeitung des Ödipus- Stoffes sowie die Autorin Sybille Neuhaus, die der Mythos der Europa inspirierte, dieser Verantwortung gerecht werden, wird das siebte und achte Kapitel dieser Arbeit zeigen.

Einen weiteren Diskussionspunkt, der sowohl für das Kinder- wie auch für das Jugendtheater zutrifft, liefert die Frage, ob die Darstellung von mythologischen Stoffen nicht eine Abkehr vom Realismus bedeutet und somit als Flucht in den Mythos verstanden werden kann. Für den Gang der Untersuchung und die Beurteilung der Stücke ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, dass die Beschäftigung mit Mythen nicht unbedingt auf gegenaufklärerische oder irrationale Tendenzen schließen lässt. So sprechen Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ dem Mythos eine aufklärerische Funktion zu. (Vgl. Lenzen 1988, S.54) Die neuere philosophische Mythenrezeption scheint die alte Entgegensetzung von Mythos und Rationalität aufzugeben. (Vgl. Schröer 1988, S.19-37) Ob das Kinder- und Jugendtheater mit der Darstellung antiker Stoffe eine Flucht in den Mythos vornimmt, soll hier nicht erörtert werden, da sich dies im weiteren Verlauf, bei der Betrachtung der Stücke, herausstellen wird.

Zweifel, ob das Kinder- und Jugendtheater mit der Bearbeitung von antiken Klassikern die Kinder und Jugendlichen überfordert undob es vom Erwartungs- und Erfahrungshorizont des jungen Publikums absieht und stattdessen primär nach der eigenen künstlerischen Selbstverständigung sucht (Vgl. Wardetzky 1999, S.363), sind berechtigt und sollen die Folie bilden, auf der das Folgende kritisch zu analysieren und zu bewerten ist.

4. Die Funktionalisierung der Medea des Euripides in Medeas Kinder

Am Anfang der Idee zu Medeas Kinder (1975) stand die Einsicht, dass bislang Themen wie Tod, Krieg oder Trennung im Kindertheater kaum behandelt wurden. Mit Medeas Kinder wurden diese Themen in Form einer „Tragödie für Kinder“ dargestellt, wobei man auf den Tragödienbegriff des Aristoteles und dem damit verbundenen Konzept der Katharsis Bezug nahm (Vgl. Linne 1990, S.53), worauf in Punkt 2.3. dieses Kapitels näher eingegangen wird. Die Autorin Suzanne Lohuizen macht darauf aufmerksam, dass der Entwurf des Stückes Medeas Kinder in erster Linie auf eine Analogisierung der Götter der griechischen Tragödie mit den Erwachsenen beruht, denen die Kinder schicksalhaft ausgeliefert sind.

„Kindern etwas vom Schicksal der Kindheit zu erzählen, ähnelt in gewisser Hinsicht der Situation des Menschen, wie sie im Zusammenhang mit den unberechenbaren Göttern der griechischen Tragödie beschrieben wird. Die Erfahrungen der Kinder ernst nehmen, heißt, ihnen das ´Drama ihres Schicksals´, ihrer begrenzten Handlungsmöglichkeiten in der Welt der Erwachsenen zu eröffnen – die Tragödie der Kinder.

(Osten o.J., zit. n.. Linne 1990, S.53)

Die Medea des Euripides schien besonders geeignet, die Kinder als Opfer der Erwachsenen darzustellen, denn „[d]as klassische Drama enthält einen Konflikt vom Gesichtspunkt der Kinder aus. Sie trifft das grausame Ende des Spiels und der Geschichte“ (ebd.).

Wie die Autoren den antiken Stoff für Kinder aufbereitet haben, soll die folgende Analyse zeigen. Ein zentrales Merkmal des Stückes ist der Perspektivenwechsel. Dieser kann nur deutlich gemacht werden, indem die Handlung und somit auch der Inhalt der „Kindertragödie“ dargestellt werden. Dies geht im folgenden Unterpunkt des Kapitels mit einer Dramenanalyse einher.

4.1. Handlung und Analyse

Da das Stück Medeas Kinder die Handlung der Tragödie aus der Perspektive der Kinder schildert, reduziert sich die Anzahl der Schauspieler von neun auf fünf Personen1

„PERSONEN

KLEIN-JASON, 5 Jahre alt

KLEIN-MEDEA, 9 Jahre alt

JASON, Vater der Kinder (vormals Held)

MEDEA, Mutter der Kinder

AMME ANNA, Kindermädchen“ (S.60)

Schon bei der Aufführung des Personals des Stückes stehen die Figuren KLEIN-JASON, ein fünfjähriger Junge und KLEIN-MEDEA, ein neunjähriges Mädchen, der Bedeutung nach an erster Stelle, da ihre Perspektive der Geschehnisse die wichtigste ist. Dieser Perspektivenwechsel kommt bereits im Titel des Stückes zum Ausdruck. Die Kinder rücken ins Zentrum des Geschehens. JASON, der Vater der Kinder, wird als „vormals Held“ bezeichnet. Diese Formulierung verweist bereits auf die ironisch-kritische Perspektive, aus der die Eltern dargestellt werden.

Dem eigentlichen Dramentext ist eine Übersicht über das gesamte Stück vorangestellt, in der bereits der ständige Wechsel zwischen Kinder- und Klassikerebene deutlich wird. (S.61) Diese zwei Ebenen bestehen aufgrund der Funktionalisierung der Sprache in der „Kindertragödie“ sowie aus dramaturgischen Gründen.

„Die Sprache der griechischen Tragödie sollte als Sprache der Eltern in Medeas Kinder eingehen, während sich die Kinder und die Amme, die zum Kindermädchen wurde, der Gegenwartssprache bedienen sollten. Diese Trennung in zwei Ebenen, die der Eltern und der Kinder, wobei das Kindermädchen zwischen beiden Ebenen vermitteln kann, setzte sich dann in der dramaturgischen Struktur des Stückes fort: Die Erwachsenenebene, d.h. die Ebene der griechischen Tragödie, wurde zu einem den Kindern unzugänglichen und unverständlichen Bereich, während die Erwachsenen ständig Zugang zum Bereich der Kinder haben.“

(Linne 1990, S. 55)

Dies wird durch sogenannte „Spielregeln“, die der dramaturgischen Übersicht folgen, nochmals verdeutlicht. In diesen heißt es:

Die Eltern bewegen sich sowohl auf der Klassikerebene/Erwachsenenwelt als auch im Kinderzimmer, während die Kinder die Klassikerebene nur in Begleitung der Eltern betreten dürfen. Ein ins Publikum führender Steg (mit Telefon) ist der Platz der Amme. Die Erwachsenendialoge der Klassikerebene sind für die Kinder bis auf bestimmte Sätze und einzelne Worte unverständlich

(S.61f.)

In den ausführlichen Regieanweisungen setzen sich diese stark interpretierenden und kommentierenden Angaben zur Dramaturgie und Szenographie fort. Vor der eigentlichen Handlung des Stückes erzählt der Prolog, der aus einer Mischung von Erzählung und szenischer Darstellung besteht, von der Fahrt der Argonauten und dem Kampf um das Goldene Vlies. (S.63) Die Darstellung der Vorgeschichte im Prolog konzentriert sich auf die Liebesbeziehung zwischen Medea und Jason und die Gründung ihrer Familie. Wie in der Medea des Euripides wird aber auch die Ursache des Konflikts, die Liebe Jasons zur Tochter Kreons, erwähnt. (S.64f.)

Innerhalb des Prologes wird Musik eingesetzt, welche die Funktion des kommentierenden Chores in der attischen Tragödie einnimmt. Der Einsatz musikalischer Elemente ist in die Klassikerebene einzuordnen. So sind die Worte des Chores das erste Zitat aus der Euripideischen Medea (Verse 410- 413)2. Originalzitate des Euripides treten auch im weiteren Stückverlauf immer wieder auf, wie noch nachgewiesen wird. Ein eindeutiger Nachweis der Zitate ist kaum möglich, da die Übersetzerin von Medeas barn, Hildegard Bergfeld, die Euripides- Passagen verschiedenen deutschen Übersetzungen entlehnte. (Vgl. Linne 1990, S.60) Eine solche philologische Kleinarbeit wäre für die Interpretation des Stückes aber auch wenig erkenntnisstiftend, denn erklärtermaßen sollen die zur Klassikerebene gehörenden Originaltexte für die Kinder prinzipiell unverständlich bleiben. „Sie repräsentieren gleichsam die klassische Tragödie, die wiederum für einen den Kindern unzugänglichen, sie bedrohenden Bereich, den des Elternkonflikts steht.“ (Linne 1990, S.60) Den Spielregeln ist bereits zu entnehmen, dass der Amme eine vermittelnde Funktion zwischen Eltern und Kindern bzw. zwischen Klassiker- und Kinderebene zukommt. Diese Funktion wird zum ersten Mal verdeutlicht, wenn die Amme Euripides-Verse, die dem Prolog entnommen sind (Verse 16-30), in eine für Kinder verständliche Umgangssprache übersetzt (S.66).

Die erste Szene „ Kinderebene I, Scheidung, erste Flucht“ thematisiert die Scheidung der Eltern und weist einen Versuch Klein-Jasons auf, diese zu vermeiden. Die Szene beginnt noch auf der Klassikerebene und wird mit einem Euripides-Zitat (Vers 458-462) eingeleitet.

„JASON Ich sage trotzdem von den meinen mich nicht los. Ich hab dein Wohl im Auge, Frau. Und kam hierher, daß du nicht mit den Kindern arm von hinnen mußt . Jason und Medea rechnen auf der Klassikerebene miteinander ab. Medea weint. Musik aus. Jason kommt mit ernster Miene zu den Kindern.

KLEIN-JASON Papa, was ist Scheidung?“

(S.66f.)

Dieser Frage entzieht sich Jason, indem er ausweicht und anschließend keine Zeit mehr findet, da er zu Kreons Tochter geht. (S.67) Medea wechselt zornig von der Kinderebene in die Klassikerebene (S.67), zu der die Kinder, wie bereits erwähnt, keinen Zutritt haben. Medea und Jason vernachlässigen ihre elterlichen Pflichten. Anstatt den Kindern deutlich zu machen, was Scheidung bedeutet und was dies für Konsequenzen haben wird, weichen sie den Kindern aus, und diese werden sich selber überlassen.

Klein-Jason sucht nun nach einer Möglichkeit, die Scheidung der Eltern zu verhindern. Er berichtet seiner Schwester von einem Ort, der den Namen „Bombenundhöhlenzelt“ trägt. Dieser Platz ist eine Utopie Klein-Jasons. Er sehnt sich nach einem Ort, wo er sorglos und mit allen seinen Lieben zusammenleben kann. Er verspricht Klein-Medea, dass dort die unerträgliche Familiensituation überwunden wäre; Klein-Medea dürfe nur niemandem davon erzählen. (S.70-72) Dieser erste von insgesamt drei Fluchtversuchen, der in die Utopie führt, scheitert, da Klein-Medea ihrem Bruder nicht glauben kann und die Amme Anna nach dem Ort befragt, welche erwidert, dass sie noch nie von einem solchen Ort gehört habe. (S.73) Durch diesen ersten Fluchtversuch wird bereits deutlich, dass die Kinder die Familiensituation nicht ertragen können und nach einem Ausweg suchen, um diese zu verändern. Ihre vorher behütete Kindheit in einer gut funktionierenden Ehe zwischen Jason und Medea ist bedroht, oder ,besser gesagt, bereits angegriffen worden. Durch den ersten Fluchtversuch wird das Unwohlsein und die Unzufriedenheit der Kinder deutlich. Diesem Fluchtversuch schließen sich zwei weitere an, die auf die dynamische Entwicklung der Kinderfiguren innerhalb des Dramas schließen lassen und innerhalb dieser Untersuchung noch Erwähnung finden werden.

Die am Beginn der zweiten Szene stehende Klage der Medea (S.74-76) ist den Versen 226-234 und 244-251 der Euripeischen Medea entlehnt. Durch die Klage der Medea werden die Schuldgefühle der Kinder geweckt, die sich verantwortlich fühlen für den traurigen Zustand ihrer Mutter und das Verschwinden des Vaters. Als Klein-Medea den Namen Glaukes nennt und buchstabiert, kommt es zum ersten Ausdruck der Agression Medeas gegen ihre Kinder: Sie versucht, Klein-Medea zu ohrfeigen, wird aber durch einen Karategriff der Amme daran gehindert. Medea richtet daraufhin die Aggression gegen sich selber und äußert den Todeswunsch. (S.76) Es wird deutlich, dass Medea sich nicht unter Kontrolle hat. Sie flieht in Selbstmitleid, was die Schuldgefühle der Kinder hervorruft, und greift die Kinder zudem körperlich an. Hat Medea bereits in der ersten Szene nicht als „gute Mutter“ agiert, so zeigt sich hier, dass sie keine Selbstbeherrschung besitzt. Sie ist wiederum nicht fähig, ihre Rolle als verantwortungsvolle Mutter zu erfüllen und sich mit den Kindern auseinander zu setzen. Klein-Jason und Klein-Medea sind daraufhin sehr betroffen. Erst der Auftritt des Vaters muntert die Kinder wieder auf. Er spielt mit ihnen Fußball (S.76f.), macht sie aber dabei zu bloßen Objekten seiner Vorstellung von Spiel und Kampf. Besonders Klein-Jason leidet unter der Härte seines Vaters und dessen Erwartungen an die „Männlichkeit“ seines Sohnes. Betont Jason hier die „Stärke des Mannes“, so erscheint diese bei ihm selber äußerst fragwürdig, da er es nicht einmal vermag, seine Kinder in ihrer Verwirrung zu trösten und ihnen beizustehen. Stattdessen geht er zu Glauke, um so selber der unangenehmen Situation zu entfliehen (S.78).

Die Szene wird beendet durch weitere Klagen Medeas. Richtete Medea die Aggression eben noch ausschließlich gegen sich selbst, so verflucht sie jetzt auch Jason und ihre gemeinsamen Kinder. Diese „Verfluchung“ ist den Versen 111-114 der Euripideischen Medea entlehnt.

“MEDEA Ah, ah! Ich erfuhr ein Leid, gewaltiges Leid, ich jammre mit Recht. Sie fegt die Kinder um. O Kinder, verflucht wie die Mutter, ihr mögt, und der Vater dazu, mit dem ganzen Hause verderben!“

(S.78)

Erneut werden hiermit die Schuldgefühle der Kinder geweckt, wie der Beginn der dritten Szene, „Kinderebene II, Selbstmord, zweite Flucht, (S.79) verdeutlicht, in welcher die Kinder Medea imitieren.

„KLEIN-MEDEA gebärdet sich wie Medea, um Klein-Jason zu unterhalten Weh, gäbe der Tod mir Erlösung, weh, von diesem verleideten Dasein! Kinder! Qual! Kinder! Qual! Tod!

KLEIN-JASON macht Medea nach und legt sich hin, um zu sterben O, weh in meinem Herzen. Ich will sterben! Ich will auch sterben!“

(S.79)

Dass die emotionale Belastung aber nicht durch ironische Distanzierung bewältigt werden kann, beweist der folgende Ausbruch Klein-Medeas gegen ihren Spielhund, den sie mit einem Seil umwickelt, schlägt und herumschleudert. (S.79) Schließlich folgt der zweite Versuch der Kinder, dem Familienkonflikt zu entfliehen, indem sie darüber nachdenken, Selbstmord zu begehen. Sie gehen verschiedene Selbsttötungsversuche durch, erst spielerisch, dann immer gefährlicher und bedrohlicher. Als Anna hinzukommt und erkennt, wie gefährdet die Kinder sind, begegnet sie diesen mit emotionaler Zuwendung, welche die „ausgehungerten“ Kinder, die vorerst der Amme skeptisch gegenüberstanden, begierig annehmen. Die Kinder fühlen sich allein gelassen. Zu der Verwirrung über die Trennung der Eltern sind jetzt zudem noch Schuldgefühle hinzugetreten, da Medea ihr Selbstmitleid vor den Kindern auslebt. Wiederum erscheint Jason, der trotz eines Geschenkes (ein Modell der Argo) von den Kindern sehr distanziert begrüßt wird. (S.84f.) Als Klein-Medea den Vater auf seine Geliebte anspricht, indem sie ihn fragt, ob sie auch Glasschuhe haben dürfe, weicht der Vater aus.

„JASON ablenkend Einmal werden wir wieder mit der richtigen Argo aufs Meer fahren. Dann machen wir eine lange Reise.

KLEIN-JASON Wer fährt mit?

JASON Du und ich und Klein-Medea.

KLEIN-JASON Und Mama, darf sie auch mit?

JASON zögernd Ja, auch

KLEIN-MEDEA Glauke auch?

JASON verlegen Ja, Glauke auch...“

(S.85)

Jason erscheint dem Zuschauer wieder als „schwacher Vater“, da er nicht versucht, den Kindern die Familiensituation begreiflich zu machen. Er führt Klein-Jason und Klein-Medea in den falschen Glauben, die gesamte Familie und Glauke könnten zusammen glücklich sein, während diese Situation für Jason eine günstige Gelegenheit gewesen wäre, den Kindern seinen Konflikt begreiflich zu machen, der darin besteht, dass er sich zwischen der Familie und Glauke entscheiden muss.

Die Handlung der nächsten Szene stellt „den Streit“ (S.85) zwischen Medea und Jason dar. Dieser besteht fast ausschließlich aus Euripides-Zitaten, wobei die Passagen Jasons und Medeas sowie auch die Kommentare des Chores wörtlich dem Original entsprechen. Die Sprache wird wieder funktionalisiert als Kommunikationsbarriere zwischen Eltern und Kindern, was noch verstärkt wird durch die Regieanweisung, den Text „schludrig“ zu sprechen. (S.85) Weiterhin wird der Streit in einen, dem Original völlig entfremdeten, Handlungszusammenhang gestellt, der die Kinder und die Amme mit einbezieht. Die Kinder sind Zeugen des Streites, in dem es zu Handgreiflichkeiten zwischen den Eltern und schließlich auch zwischen Eltern und Kindern kommt. Kommentierend berichtet die Amme auf ihrem Platz, dem ins Publikum führenden Steg, ihrer eigenen Mutter die Vorgänge. (S.87f.) Vorerst hält sie sich aus dem Familienkonflikt heraus, bis es zu einem „Kampf aller“ kommt, den die Amme durch ihre Karatekünste zu beenden weiß. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen verlässt Jason erneut die Szene, um zu Glauke zu gehen. Wieder entflieht er dem Konflikt. Die Kinder müssen in dieser Szene sehr genau beobachtet werden, da sie keinen Text haben und nur ihr Verhalten auf ihre Befindlichkeit schließen lässt. Die Regieanweisungen lassen vermuten, dass die Kinder bereits an dieser Stelle Stellung für Medea und gegen Jason beziehen. Laut den Regieanweisungen bewerfen sie während der Auseinandersetzung der Eltern den Vater mit Kuscheltieren. (S.88) Erst als Jason geht, wünscht Medea, die erschöpft und erleichtert über sein Fortgehen ist, da es das vorläufige Ende des Streites verspricht, dem Vater „Good night Father.“ (S.90)

Als die Kinder in der sechsten Szene erkennen, dass auch Anna, zu welcher Klein-Jason und Klein-Medea zwischenzeitlich eine emotionale Beziehung aufgebaut haben, keine Zuwendung für sie erübrigen kann, da sie mit ihrem Freund telefoniert und sich nur nebenbei um die Kinder kümmert (S.91f.), beschließen sie, von zu Hause wegzulaufen. Der dritte Fluchtversuch ist dabei auch „als Herausforderung an die Eltern zu verstehen, ihre Kinder zu suchen, sie [die Flucht, K.T.3] ist also – wie schon die Selbstmordphantasien – ein verzweifelter Versuch, auf sich aufmerksam zu machen.“ (Linne 1990, S.66) Daher bricht der Fluchtversuch ab, als die Kinder die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Eltern sie gar nicht vermissen würden, sondern froh wären, sie los zu sein.

„KLEIN-JASON Was sie wohl sagen werden, wenn sie entdecken, daß wir weg sind?

KLEIN-MEDEA Gut, daß wir sie los sind. Verfluchte Kinder. Vor allen Dingen Klein-Medea.

KLEIN-JASON Gut, daß er abgehauen ist. Nicht mal Fußballspielen konnte er!“

(S.95)

Das blutrünstige Ende des antiken Dramas – Jasons Geliebte verbrennt im verzauberten Brautgewand, das Medea ihr schenkt, Medea ermordet ihre und Jasons Kinder – wird aus der real (bei Euripides im Botenbericht) vorgestellten Handlung herausgenommen. Die Schuldgefühle der Kinder werden in einem Angsttraum von Klein-Medea erweckt, die ihrem Bruder von diesem berichtet. (S.96-99) Der Traum Klein-Medeas beginnt mit dem Ende des schrecklichen Geschehens, dem Tod der Kinder. Er umfasst aber auch das tragische Ende Glaukes, die durch den verzauberten Schleier der Medea ihr Ende findet. Wie auch in der Medea des Euripides werden die Kinder gegen ihren Willen zum Mordwerkzeug ihrer Mutter. Auch ihr Tod ist darin zu begründen, dass Medea Rache an ihrem Mann sucht. Die Eltern beschuldigen sich im auf der Bühne dargestellten Traum gegenseitig.

„MEDEA Sieh, sie sind Tod. Das wird dich quälen.

JASON Sie leben, ihr Blut verfolgt dich.

KLEIN-MEDEA Aber wir haben sie bloß ausgelacht, denn wir waren ja tot.

MEDEA Daß du die Schuld trägst, weiß der Himmel.

JASON Arme Kinder, die an solche Mutter geraten sind.

KLEIN-JASON Und sie wirken so lächerlich mitten in der ganzen Blutwursterei...

MEDEA Ihr Kinder, die euers Vaters Fehltritt getötet.

JASON War es meine Hand, die sie zu Boden warf?

KLEIN-MEDEA Von unten sahen sie ganz schön verrückt aus.

MEDEA Das war deine Treulosigkeit, dein neuer Ehebund.“

(98f.)

Der Angsttraum Klein-Medeas ist auf die Schuldgefühle der Kinder zurückzuführen, die glauben, für die unglückliche Situation der Familie verantwortlich zu sein. Durch den Traum wird ihnen aber bewusst, dass die Eltern selbst verantwortlich sind für das Ehedrama. Sie wirken „lächerlich“ und „verrückt“ auf die Kinder, da sie nicht fähig sind, einen Ausweg aus der Misere zu finden, sondern stattdessen in gegenseitigen Beschuldigungen verharren. Daher sieht Andreas Linne einen befreienden Inhalt in dem Traum, der darin besteht, „daß die Kinder durch ihn Distanz zu den Eltern gewinnen. Sie erkennen, daß sie keine Schuld am Familiendrama trifft, sondern daß sie Opfer der Auseinandersetzung zwischen Jason und Medea sind.“ (Linne 1990 S.69) Der Traum hat somit die Funktion, die Schuldgefühle der Kinder zu überwinden.

Zu Beginn der letzten Szene berichtet Anna, welche den Frühstückstisch deckt, dass Jason und Medea sich nun entgültig scheiden lassen wollen. Der zweite Auftritt Jasons in der Medea des Euripides (Verse 866-868) liefert die Vorlage für die nun folgende Begegnung zwischen Jason und Medea. Während die Täuschung in der Medea zur List Medeas gehört, um Jason zu überzeugen, die Kinder samt Geschenk mit zu Glauke zu nehmen, beruht die Täuschung in Medeas Kinder auf gegenseitigem Einverständnis. Die Getäuschten sind hier die Kinder. Die Eltern weisen in Gestik und Sprache Kennzeichen der Versöhnung auf, woraus Klein-Jason schließt, dass sie wieder zueinander finden werden.

„KLEIN-JASON Vertragt ihr euch jetzt wieder?

AMME Ach, nein, Kinder, sie lassen sich jetzt scheiden. Alle erstarren [...].“

(S.101)

[...]


1 Lysander, Per; Osten, Suzanne: Medeas Kinder. Nach Euripides. Aus dem Schwedischen von Hildegard Bergfeld. In: Fröse, Dirk H. (Hrsg.): Schwedisches Kindertheater. Fünf Stücke. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1984, S.60-106.

2 Als Übersetzung diente: Euripides: Medea. Aus dem Griechischen von J.J.C. Donner. Stuttgart: Reclam 2000. (= re 849).

3 Kristin Theißing, die Verfasserin

Ende der Leseprobe aus 88 Seiten

Details

Titel
Antike Stoffe im Kinder- und Jugendtheater
Untertitel
Exemplarisch dargestellt anhand ausgewählter Stücke
Hochschule
Universität Münster  (Fachbereich Germanistik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2002
Seiten
88
Katalognummer
V19205
ISBN (eBook)
9783638233842
ISBN (Buch)
9783638721127
Dateigröße
741 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In dieser Arbeit werden Kinder- und Jugendtheaterstücke analysiert, denen als Vorlage klassische Stoffe der Mythologie zugrunde liegen. Es wird untersucht, wie die Autoren und Autorinnen die klassischen Stoffe für das junge Publikum aufbereiten. Bei der Erstellung dieser Arbeit merkte ich, dass es kaum Veröffentlichungen zu dieser Thematik gibt, in denen direkt entlang verschiedenen Stückanalysen die Frage diskutiert wird, was die klassischen Mytehn für uns heute noch bedeuten können.
Schlagworte
Antike, Stoffe, Kinder-, Jugendtheater, Stücke
Arbeit zitieren
Kristin Theißing (Autor:in), 2002, Antike Stoffe im Kinder- und Jugendtheater, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/19205

Kommentare

  • Gast am 31.7.2015

    Habe mir die Arbeit angeschafft und bin etwas enttäuscht von der Qualität. Auch der Umgang mit "Zitaten" ist an einigen stellen wirklich unzureichend. Teilweise wurden ganze Gedankengänge von anderen Autoren übernommen. Für den Preis wirklich schade.

Blick ins Buch
Titel: Antike Stoffe im Kinder- und Jugendtheater



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