Rollentheorie als neuer Ansatz in der Entwicklungszusammenarbeit


Magisterarbeit, 2011

116 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1.1 Fragestellung und Relevanz der Untersuchung
1.2 Theorie, Methodik und Aufbau der Arbeit
1.3 Literaturlage und Forschungsstand

2. Theoretische Grundlagen
2.1 Die Entwicklung der Rollentheorie
2.2 Zur theoretischen Grundlage der Untersuchung
2.3 Theoretische Eingrenzung und Abgrenzung der Rollentheorie
2.3.1 Einordnung der Rollentheorie in das Theoriespektrum der Internationalen Beziehungen
2.3.2 Abgrenzung der Rollentheorie

3. Methodik
3.1 Auswahl des Politikfeldes
3.2 Eingrenzung der Untersuchungsländer
3.3 Hypothesenauswahl
3.4 Konzeptspezifikation
3.4.1 Begriffsdefinitionen
3.4.2 Indikatorenauswahl
3.5 Auswahl des Vergleichsdesigns
3.6 Fallauswahl
3.6.1 Kontextvariablen
3.6.2 Die Ausrichtung der national role conceptions Brasiliens und Südafrikas

4. Die Entwicklungszusammenarbeit Brasiliens und Südafrikas
4.1 Brasiliens Entwicklungszusammenarbeit
4.1.1 Brasilien als „neuer“ Geber in der Entwicklungszusammenarbeit
4.1.2 Der Aufbau der Entwicklungszusammenarbeit Brasiliens
4.1.3 Die Verteilung der brasilianischen Entwicklungszusammenarbeit
4.2 Südafrikas Entwicklungszusammenarbeit
4.2.1 Südafrika als „neuer“ Geber in der Entwicklungszusammenarbeit
4.2.2 Der Aufbau der Entwicklungszusammenarbeit Südafrikas
4.2.3 Die Verteilung der südafrikanischen Entwicklungszusammenarbeit

5. Fazit und Ausblick

6. Literaturverzeichnis

7. Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

1.1 Fragestellung und Relevanz der Untersuchung

Fragestellung

In den 1990er Jahren kam es auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit zu einer massiven Veränderung.1 Bis zu diesem Zeitpunkt waren überwiegend Län- der als Geber aktiv, die gemeinhin als „Industriestaaten“ galten und sich im Deve- lopment Assistance Committee (DAC) der Organisation für wirtschaftliche Zu- sammenarbeit und Entwicklung (OECD) organisiert hatten. Gegen Ende des letz- ten Jahrtausends betraten jedoch Staaten als Geber die Bühne der Entwicklungs- zusammenarbeit, die noch selber in großem Umfang Unterstützungsleistungen erhielten. Diese so genannten „neuen“ Geber, zu denen vor allem aufstrebende Wirtschaftsmächte wie zum Beispiel China und Brasilien zählen, sind bis heute nicht im DAC organisiert und sind damit auch an keine der von den „alten“ Ge- bern formulierten Richtlinien bezüglich der Mittelvergabe auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit gebunden. Eine Beschränkung ihrer Förderung auf Länder, die sich zur Umsetzung eines demokratischen Wandels verpflichten, be- steht somit zum Beispiel für sie nicht. Damit stellt sich die Frage, woran sich die- se Staaten bei ihrer Mittelvergabe orientieren, das heißt welchen Ländern sie Un- terstützung zukommen lassen. Einen in dieser Hinsicht sehr vielversprechenden Ansatzpunkt bildet die Analyse der national role conceptions2 der „neuen“ Geber auf dem Feld der Entwicklungszusammenarbeit. Es ist möglich, dass anhand der Untersuchung der eigenen Vorstellungen dieser Staaten über ihre Funktion, Posi- tion sowie Rechte und Pflichten auf diesem Gebiet, eine Aussage über ihre Mit- telvergabe getroffen werden kann. Die vorliegende Forschungsarbeit soll sich der Analyse dieses Zusammenhangs widmen. Konkret gilt es dabei zu untersuchen, ob sich die Ausrichtung der national role conception auf die Ausrichtung der Mit- telvergabe auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit auswirkt. Somit lau- tet die Forschungsfrage dieser Arbeit: „Hat die Ausrichtung der national role con- ception Einfluss auf die Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit eines neuen Gebers?“. Diese Fragestellung soll im Verlauf der Arbeit noch weiter präzisiert werden.

Relevanz des Untersuchungsthemas

Die vorliegende Forschungsarbeit und das ihr zugrunde liegende Thema können in dreierlei Hinsicht Relevanz für die Politikwissenschaft beanspruchen. Zunächst kommt der Arbeit im Forschungsbereich der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) Bedeutung zu. Da es sich bei dem Auftreten der „neuen“ Geber um ein noch ver- gleichsweise neues Phänomen handelt, ist die Forschung zu ihnen bislang nicht weit fortgeschritten. An einer grundlegenden Studie zu den Motiven der „neuen“ Geberländer, beziehungsweise den Richtlinien an denen sich ihre Förderung ori- entiert, mangelt es bislang. Durch die Analyse einer möglichen Auswirkung der national role conception auf das Geberverhalten dieser Länder, kann die vorlie- gende Arbeit möglicherweise somit erste Anhaltspunkte liefern.

Des Weiteren ist diese Arbeit auch für die rollentheoretische Forschung von Rele- vanz. Bislang wurde mit dem Rollenkonzept zumeist versucht, die gesamte Au- ßenpolitik eines Landes oder bestimmte Handlungen auf diesem Gebiet zu erklä- ren. Eine Anwendung auf einen einzelnen Teilbereich der Außenpolitik erfolgte bislang nicht. Somit war die Entwicklungszusammenarbeit allein bislang nie Ge- genstand einer rollentheoretischen Untersuchung. Die in dieser Forschungsarbeit vorgenommene Analyse kann somit Aufschluss darüber geben, ob sich das rollen- theoretische Konzept zur Erklärung der Ausrichtung der Entwicklungszusammen- arbeit von Staaten eignet und darüber einen ersten Anhaltspunkt dafür liefern, ob sich das Konzept für die Analyse und Erklärung einzelner Teilbereiche der Au- ßenpolitik eines Landes eignet.

Letztlich könnte das Ergebnis der Forschungsarbeit auch konkrete Auswirkungen auf die Vergabe von Mitteln im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit durch die „alten“ Geber und ihre Kooperation mit den „neuen“ Geberländern haben. Zurzeit nutzen viele „alte“ Geber für die Vergabe ihrer Fördermittel trilaterale Kooperationsformen in denen ein „neuer“ Geber als Mittler zwischen ihnen und Entwicklungsländern fungiert. Ein Ergebnis, welches die Bedeutung der national role conception für die Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit bestätigt, könnte zur Folge haben, dass „alte“ Geber ihre Kooperationen mit diesen Staaten womöglich hinterfragen müssen, falls sie die national role conception bezie- hungsweise deren Ausrichtung als mit ihren Zielen unvereinbar sehen. Ist zum Beispiel die national role conception eines Landes stark regional ausgerichtet, der Staat sieht sich also sehr der eigenen Region verbunden, könnte eine Zusammen- arbeit im Rahmen einer trilateralen Kooperation in einem Land in einer anderen Region möglicherweise nur zu unbefriedigenden Ergebnissen führen, da der „neue“ Geber an der Förderung dieser Region kein Interesse hat. Andersherum könnten die „alten Geber“ im Fall dieses Ergebnisses aber auch gezielt die Zu- sammenarbeit mit solchen „neuen“ Geberländern suchen, deren national role con- ception ihren Zielen zugutekommt.

1.2 Theorie, Methodik und Aufbau der Arbeit

Theorie

Den theoretischen Rahmen dieser Forschungsarbeit bildet die Rollentheorie. Die- se ist den konstruktivistischen Ansätzen zuzuordnen, da sie von einer Konstrukti- on der Wirklichkeit anhand der Vorstellungen der Staaten ausgeht. Die Rolle ei- nes Staates ergibt sich aus dem ego-part, seiner national role conception, und dem alter-part3, den Anforderungen der äußeren Umwelt an ihn (Normann 2005: 12). Der Fokus dieser Arbeit liegt dabei aufgrund der entwickelten Fragestellung auf der Untersuchung des ego-parts der Rolle, da dieser für die Entwicklungszusam- menarbeit als wesentlich angesehen wird. Die Analyse desselben wird sich vor allem auf die Definitionen und Ansätze Peter Gaupps sowie der Hanns Maulls und seiner Schüler stützen. Ihre Konzepte werden auf das ausgewählte Untersuchungs- feld der Entwicklungszusammenarbeit übertragen und gegebenenfalls ergänzt werden.

Aufbau und Methodik der Forschungsarbeit

Die vorliegende Arbeit ist in ihrer Methodik allein durch deduktives Vorgehen bestimmt, was bedeutet, dass mittels einer Theorie ein in der Realität auftretendes Phänomen erklärt werden soll (Behnke et al. 2006: 28). Zudem handelt es sich, wie bereits der Titel der Forschungsarbeit andeutet, um eine Vergleichsstudie zweier „neuer“ Geber. Damit kommt dieser Arbeit zusätzliche Relevanz auf dem Gebiet der Politikwissenschaft zu, da ein solcher Vergleich bislang in der For- schung nicht erfolgt ist.

Nach der Einleitung beginnt die Forschungsarbeit mit einem Kapitel über die oben angerissene theoretische Grundlage der Studie. Nach einer Darstellung der Entwicklung der Rollentheorie sowie ihrer verschiedene Ansätze wird das, die Untersuchung leitende, theoretische Argument entwickelt. Im Anschluss daran muss die Rollentheorie in das Theorienspektrum der Internationalen Beziehungen eingeordnet und von anderen, ähnlichen Konzepten aus dem Bereich der Außen- politikanalyse abgegrenzt werden, um ihre Eignung als Untersuchungsgrundlage dieser Arbeit herauszustellen.

Das dritte Kapitel der Forschungsarbeit ist der Erläuterung des methodischen Vorgehens der Studie gewidmet. Hier muss zunächst die Entwicklungszusam- menarbeit auf ihre Eignung als Untersuchungsfeld hin hinterfragt und im An- schluss die Eingrenzung der Untersuchungsländer auf die „neuen“ Geber erklärt werden. Um die aufgeworfene Fragestellung, ob die Ausrichtung der national role conception Einfluss auf die Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit „neu- en“ Gebers hat, beantworten zu können, muss danach eine Untersuchungshypo- these formuliert werden, die wie folgt lautet: „Wenn ein neuer Gebers über eine national ausgerichtete national role conception verfügt, dann ist auch die Ausrich- tung seiner Entwicklungszusammenarbeit regional ausgerichtet.“. Um die Hypo- these überprüfen zu können, gilt es im Rahmen der Konzeptspezifikation alle verwendeten Begriffe zu definieren sowie die zur Messung notwendigen Indikato- ren auszuwählen. Die unabhängige Variable „Ausrichtung der national role con- ception“ soll dabei anhand der Auswertung der in den UN-Reden der Staatspräsi- denten der Untersuchungsländer zwischen 2003 und 2008 verwendeten Kollektiv- bezeichnungen bestimmt werden. Die abhängige Variable „Ausrichtung der Ent- wicklungszusammenarbeit“ wird dagegen durch die Analyse der Mittelvergabe im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit anhand der durch die Untersuchungs- länder in Form von Berichten bereitgestellten Informationen erfolgen. Im An- schluss daran soll das Vergleichsdesign der Untersuchung festgelegt werden. Für die Untersuchung der aufgestellten Hypothese bietet sich ein most similar case design an. Die Untersuchungsländer, in diesem Fall Brasilien und Südafrika, dür- fen sich somit allein hinsichtlich der unabhängigen Variablen unterscheiden, da- mit diese als alleinige Erklärungsvariable in Betracht kommt. Dazu müssen so- wohl eine Überprüfung der Kontextvariablen sowie der Ausrichtung der national role conception erfolgen.

Im vierten Kapitel der Forschungsarbeit wird schließlich für jedes Untersuchungs- land zunächst die Organisation seiner Entwicklungszusammenarbeit beschrieben und im Anschluss daran die Ausrichtung seiner Entwicklungszusammenarbeit bestimmt. Dabei wird allein die Mittelvergabe auf der nationalen Ebene analysiert werden, da es für die föderale Ebene an Daten mangelt. Schließlich gilt es im letz- ten Kapitel anhand der Ergebnisse der beiden, in der Forschungsarbeit durchge- führten, Untersuchungen zu der Ausrichtung der national role conception sowie der Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit der beiden Untersuchungslän- der ein Urteil darüber zu fällen, ob die aufgestellte Untersuchungshypothese vor- läufig verifiziert werden kann. Anhand dieses Resultats wird im Anschluss ein Fazit über die eingangs benannten möglichen Auswirkungen des Ergebnisses der Forschungsarbeit in den verschiedenen Bereichen der Forschung gezogen.

1.3 Literaturlage und Forschungsstand

Forschungsstand

Bei der Beurteilung des Forschungsstandes muss zwischen dem Bereich der Rollentheorie und dem der „neuen“ Geber unterschieden werden.

Auf dem Gebiet der Rollentheorie ist seit den 1970er Jahren eine Reihe von Poli- tikwissenschaftlern in der Forschung aktiv. Während sie sich bis in die 1980er Jahre insbesondere auf die Erforschung der Ursprünge von nationalen Rollen kon- zentrierten, steht heute die Beschäftigung mit dem alter-part der Rolle im Vorder- grund. Insbesondere befasst sich die aktuelle Forschung mit der Analyse und dem Vergleich von Rollen und Rollenkonzepten anhand von Idealtypen, wie zum Bei- spiel dem der „Zivilmacht“, welcher durch Hanns Maull (1992) entwickelt wurde. Der Schwerpunkt der rollentheoretischen Forschung hat sich dabei im Verlauf der 1990er Jahre von den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) auf Europa ver- schoben.

Die Forschung bezüglich der „neuen“ Gebern ist nicht so weit voran geschritten wie die zur Rollentheorie. Zwar wird das Thema der „neuen“ Geber in den meis- ten aktuell erschienenen Überblickswerken zur Entwicklungszusammenarbeit problematisiert, dennoch steckt die Forschung zu ihnen erst in den Kinderschu- hen. Als Forschungsschwerpunkte können bislang die Erstellung von Übersichten zu der Entwicklungszusammenarbeit der einzelnen „neuen“ Geber sowie die Problematisierung der fehlenden Richtlinien zur Mittelvergabe in ihrer Entwick- lungszusammenarbeit gelten. Im Mittelpunkt der Untersuchungen steht dabei zu- meist China.

Literaturlage

Wie beim Forschungsstand ergeben sich auch bezüglich der Literaturlage zu den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit Unterschiede.

In der, in Kapitel zwei erfolgenden, allgemeinen Beschäftigung mit der Rollen- theorie kann auf zahlreiche Studien zurückgegriffen werden. Insbesondere sei in diesem Zusammenhang auch auf die von Sebastian Harnisch, Cornelia Frank so- wie Hanns Maull herausgegebene, neu erschienene erste Gesamtübersicht über die rollentheoretische Forschung verwiesen (Harnisch et al. 2011). Auch in Bezug auf die in Kapitel drei erfolgende Untersuchung der Ausrichtung der national role conception anhand von Reden der Staatspräsidenten der Untersuchungsländer steht eine breite Basis an Primärquellen zur Verfügung. Im Onlinearchiv der Ver- einten Nationen (UN) sowie auf den Internetseiten der brasilianischen Botschaft in London und der des südafrikanischen Präsidenten findet sich eine wohl nahezu vollständige Übersicht über alle im Rahmen der UN und ihrer Unterorganisatio- nen gehaltenen Reden der Jahre 2003 bis 2008. Allein bei der, in Kapitel vier er- folgenden, Untersuchung der Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit der „neuen“ Geber mangelt es an einer umfangreichen Quellenbasis. Da aufgrund der Aktualität des Forschungsgegenstands, wie oben erwähnt, bislang nur wenige Studien vorliegen und es in den ausgewählten Untersuchungsländer zudem an Transparenz hinsichtlich der EZ-Mittelvergabe mangelt, müssen die Daten selbst erhoben werden. Hierzu dienen ein Bericht der brasilianischen Regierung sowie einzelne Berichte südafrikanischer Ministerien und deren Internetauftritte. Insgesamt kann die Datenlage hier nur als ausreichend bewertet werden.

2. Theoretische Grundlagen

Da die folgende Analyse auf dem theoretischen Konstrukt der national role con- ception aufbauen soll, gilt es in diesem Kapitel der Arbeit die der späteren Unter- suchung zugrunde liegende Konzeptdefinition, herzuleiten. Hierzu ist es im Inte- resse des Lesers zunächst angebracht, die hinter dem Konzept stehende Rollen- theorie und ihre Entwicklung vorzustellen, da sie in der Außenpolitikanalyse bis- lang eher wenig Anwendung fand. Mit der Vorstellung der Ursprünge der Theorie sowie einem Überblick über ihre wesentlichen Entwicklungen und Anhänger soll die Nachvollziehbarkeit der eigenen Konzeptdefinition gewährleistet werden.

2.1 Die Entwicklung der Rollentheorie

Das rollentheoretische Konzept in den Sozialwissenschaften

Die Ursprünge des sozialwissenschaftlichen Konzepts der Rollentheorie, welches auf die Erklärung individuellen Verhaltens abzielt (Kirste/ Maull 1996: 284), lie- gen in den Disziplinen der Sozialpsychologie, der Soziologie sowie der Anthropo- logie (Harnisch 2011: 7). Setzte die Entwicklung erster rollentheoretischer Kon- zepte zwar bereits Ende des 19. Jahrhunderts ein4 beginnt die umfassende Ausei- nandersetzung mit diesem Konzept erst Mitte der 1940er Jahre. Als Ausgangs- punkt gelten hier die Studien des US-amerikanischen Kulturantrophologen Ralph Linton. Dieser spricht im Jahr 1945 erstmals von in Gesellschaften existierenden Positionen, die einen bestimmten Satz kultureller Muster umfassen, welcher nicht durch den Austausch der, die Position innehabenden, Person verändert wird (A- bels 2004: 109). Weitere grundlegende Studien folgen insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren, wie in der Soziologie zum Beispiel durch Talcott Parsons und Robert K. Merton (Abels 2004: 110).

Abhängig von der jeweiligen sozialwissenschaftlichen Disziplin treten verschie- dene Aspekte und Ebenen des Rollenbegriffs in den Vordergrund. So steht für Forscher aus dem Fachbereich der Soziologie die Analyse kollektiver Erwartun- gen an bestimmte Personengruppen innerhalb einer Gesellschaft oder einer Grup- pe im Mittelpunkt der Untersuchungen, wohingegen sich Sozialpsychologen mit dem aus Ansprüchen der Außenwelt beziehungsweise der Person selbst resultie- renden individuellen Verhalten einer Person beschäftigen (Gaupp 1983: 21). Wäh- rend sich dabei Makro-Soziologen und Anthropologen des rollentheoretischen Konzepts für Studien auf der Makroebene, das heißt über gesamtgesellschaftliche Strukturen, bedienten, nutzen Mikrosoziologen und Psychologen rollentheoreti- sche Ansätze für Verhaltensstudien von Kleingruppen und Individuen, also Stu- dien auf der Mikroebene (Walker 1992: 21).

Trotz der intensiven Nutzung des rollentheoretischen Erklärungsansatzes in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen, liegt bislang kein universelles rollentheore- tisches Konzept vor. Anstelle einer „großen“ Rollentheorie nutzt jeder Forscher das Konzept nach den eigenen Untersuchungsansprüchen, was zu der Entstehung einer Vielzahl an Theorien mittlerer Reichweite in den unterschiedlichen Diszip- linen geführt hat (Walker 1992: 24). Konsens herrscht lediglich darüber, dass sich der Rollenbegriff auf Verhalten und Erwartungen diesbezüglich bezieht (Walker 1992: 23). Die Erklärung von Verhalten durch das rollentheoretische Konzept ist so auch das Ziel des Großteils der sozialwissenschaftlichen Studien zu diesem Thema (Holsti 1970: 239).

Das rollentheoretische Konzept in der Politikwissenschaft

Im Gegensatz zu seiner oben aufgezeigten weiten Verbreitung in vielen sozialwis- senschaftlichen Disziplinen, konnte sich das rollentheoretische Konzept in der politikwissenschaftlichen Forschung bislang nur in einigen Teilbereichen als Ana- lyseansatz durchsetzen. So wird es auf den Gebieten der Politikwissenschaft, in denen es in weiten Teilen zu Überschneidungen mit anderen sozialwissenschaftli- chen Disziplinen kommt, oft als Erklärungsansatz verwendet. Zu nennen ist insbe- sondere der Teilbereich der Systemtheorie. Hier findet das rollentheoretische Konzept unter anderem bei der Analyse von Parteien und Interessenverbänden (Gaupp 1983: 21), sowie bei der Untersuchung politischer Eliten Anwendung (Gaupp 1983: 15). Auf dem Teilgebiet der Internationalen Beziehungen wurde das rollentheoretische Konzept dagegen bislang nur selten als Erklärungsansatz herangezogen. Den Schwerpunkt der Anwendung bildet dabei die Außenpolitika- nalyse. Da auch diese Arbeit diesem Gebiet zuzurechnen ist, soll im Folgenden ein Überblick über den Forschungsstand der Anwendung der Rollentheorie auf diesem Gebiet gegeben werden.

Als erste und wegweisende Studie der Rollentheorie in der Außenpolitikanalyse gilt der im Jahr 1970 veröffentlichte Aufsatz des US-amerikanischen Politikwis- senschaftlers Kalevi J. Holsti (1970). Dieser definiert die national role conception eines Staates als „[…] die den politischen Entscheidungsträgern eigenen Definitionen der allge- meinen Art von Entscheidungen, Verpflichtungen, Regeln und Handlungen die ihrem Staat angemessen sind, und der Funktionen, die ihr Staat, wenn überhaupt, auf Dauer im internationalen System oder in untergeordneten regionalen Syste- men ausüben sollte. Es ist die eigene „Vorstellung“ der politischen Entschei- dungsträger über das angemessene Verhalten oder der Funktion, die ihr Staat gegenüber, oder in der äußeren Umwelt einnehmen sollte.“ (Holsti 1970: 245- 46, Übersetzung des Verf.).

In der Studie befasst sich Holsti mit dem Verhalten verschiedener Staatengruppen in der weltpolitischen bipolaren Struktur des kalten Krieges. Durch eine Inhalts- analyse von 972 in den Jahren 1965 bis 1967 gehaltenen Reden der politischen Führungspersonen in 71 Staaten gelingt es Holsti, eine Reihe verschiedener natio- naler Rollenkonzepte (national role conceptions), wie zum Beispiel das des „regi- onalen Führers“, der „Brücke“ oder des „treuen Verbündeten“, ( vgl. Holsti 1970: 261-266)5 zu identifizieren. Ziel seiner Studie ist es neben einer Aufstellung der zu dieser Zeit in den internationalen Beziehungen auftretenden nationalen Rollenkonzepte (Holsti 1970: 256) und der Überprüfung, ob zu dieser Zeit überhaupt nationale Rollenkonzepte in den internationalen Beziehungen existieren (Holsti 1970: 235) insbesondere auch, die Aktivität eines Staates in den internationalen Beziehungen durch seine jeweilige national role conception zu erklären (Holsti 1970: 260). Stephen G. Walker, ein späterer Vertreter der Rollentheorie, fasst Holstis Forschung auf vier Grunderkenntnisse zusammen:

„[…] (a) außenpolitische Entscheidungsträger verfügen über nationale Rollen- vorstellungen; (b) bei der Ausbildung des außenpolitischen Verhaltens eines Landes sind nationale Rollenvorstellungen bedeutsamer als die aus der äußeren Umwelt hervorgehenden Rollenzuschreibungen6 ; (c) die Quellen nationaler Rol- lenvorstellungen sind eine komplexe Mischung aus Lage, Ressourcen, sozio- ökonomischen Charakteristika, Systemstruktur und der Persönlichkeit der Ent- scheidungsträger, und (d) die Konsequenzen von nationalen Rollenvorstellungen beinhalten sowohl einen eingeschränkten Effekt auf das außenpolitische Verhal- ten für eine einzelne Nation als auch eine Art Beitrag [type of input, Anm. d. Verf.], der die Stabilität und Wandel im internationalen System beeinflusst […]“.(Walker 1987: 242, Übersetzung des Verf.).

Die genannten vier wesentlichen Erkenntnisse Holstis sowie seine Definition der national role conception bilden in den folgenden Jahren die Grundlage für weitere rollentheoretische Forschung auf dem Gebiet der Außenpolitikanalyse. Vor allem in den 1980er Jahren folgen weitere wesentliche Studien insbesondere durch US- amerikanische Politikwissenschaftler. Charakteristisch an diesen frühen rollenthe- oretischen Arbeiten ist, dass sie sich im Sinne von Holstis oben unter Punkt (b) genannter Feststellung, dass nationale Rollenkonzeptionen einen stärkeren Ein- fluss auf das außenpolitische Verhalten eines Staates haben als Rollenzuschrei- bungen, auf eben diese nationalen Rollenkonzeptionen konzentrieren. Theorie- elemente aus den Ursprungsdisziplinen des rollentheoretischen Konzepts, wie der Soziologie, die sich auf den Effekt von äußeren Rollenzuschreibungen sowie Ge- genrollen auf die Entstehung von sozialen Rollen befassen, werden in dieser Pha- se der politikwissenschaftlichen Rollenforschung weitgehend ausgeblendet (Harnisch 2011:7).

Während sich der bereits oben erwähnte Stephen G. Walker, in seinen Studien vornehmlich mit den durch Rollenkonzeptionen bedingten Einschränkungen des außenpolitischen Handlungsspielraums von Staaten beschäftigt7, nimmt Naomi Bailin Wish in ihrer Studie eine systematische Kategorisierung verschiedener na- tionaler Rollenvorstellungen anhand ihres Ursprungs vor. Ihrer Ansicht nach kön- nen national role conceptions auf Status, die motivationale Orientierung der au- ßenpolitischen Entscheidungsträger sowie auf für das Land wesentlichen Proble- men oder Themen zurückgehen (vgl. Wish 1980: 535-540). Diese haben schließ- lich Einfluss auf die Motivationen der außenpolitischen Entscheidungsträger des jeweiligen Landes (Wish 1987: 96), wie Wish in ihrer nachfolgenden Studie aus dem Jahr 1987 belegen kann (Wish 1987: 102). Anders als Holsti, der seine Un- tersuchungsergebnisse hinsichtlich der Korrelation von nationalen Rollenvorstel- lungen und der Aktivität der Staaten im internationalen System nicht mit „harten Daten“ belegt, nimmt Wish eine empirische Studie vor, anhand derer es ihr ge- lingt einen Zusammenhang zwischen beiden Aspekten herzustellen (Wish 1980: 249).

Mit dem Ende des Kalten Krieges verändern sich nicht nur die weltpolitischen Ordnungsverhältnisse sondern auch die Interessensschwerpunkte der politikwis- senschaftlichen Rollenforschung. Konzentrierten sich bis zu diesem Zeitpunkt die Rollentheoretiker in der Politikwissenschaft auf die nationalen Rollenkonzeptio- nen, so rückt jetzt die Rollenzuschreibung durch die internationale Umwelt in den Vordergrund der Untersuchungen. Sah Holsti die internationalen Strukturen als zu „schlecht definiert, flexibel, oder schwach“ (Holsti 1970: 234, Übersetzung des Verf.) an, als dass sie relevante Auswirkungen auf die Rollenausbildung eines Staates haben könnten, betonen moderne Rollentheoretiker nun, dass Rollenbil- dung nur in einem sozialen Umfeld vorkommen kann und Veränderungen im Rol- lenbild eines Staates durch einen Wandel der internationalen Strukturen in denen sich der Staat bewegt bedingt werden können (Breuning 2011: 18). Der Schwer- punkt der außenpolitischen rollentheoretischen Forschung richtet sich nunmehr auf die Entstehung von Rollen im internationalen System8.

Der Schweizer Peter Gaupp nimmt in seiner Doktorarbeit die erste systematische Einordnung und Überführung des sozialwissenschaftlichen Konzepts der Rollen- theorie in die Außenpolitikanalyse vor. Aus dem soziologischen, interpersonalen Rollenverständnis heraus entwickelt er das Konzept der Internationalen Rolle von Staaten. Diese umfasst dabei sowohl die persönliche Rollenkonzeption der Ent- scheidungsträger sowie die Rollenzuschreibung durch die politische Umwelt, um außenpolitisches Verhalten von Staaten zu erklären (Gaupp 1983: 161). Auch geht er auf die Grundlagen beider Teilaspekte der internationalen Rolle ein und nimmt damit eine grundlegende Systematisierung der bisherigen rollentheoretischen For- schung vor, um sie in ein Gesamtkonzept einzugliedern. In seiner Studie weist Gaupp zudem als erster darauf hin, dass bei der rollentheoretischen Analyse von Außenpolitik zwischen Positionsinhabern, das heißt dem Staat oder der jeweiligen Gesellschaft, und Rollenträgern, das heißt den politischen Vertretern des Landes, unterschieden werden muss (Gaupp 1983: 14). Auch betont er, dass Staaten über eine Vielzahl an unterschiedlichen Rollen im internationalen System verfügen können, was bei einem Widerspruch zwischen diesen auch zu Rollenkonflikten führen kann (Gaupp 1983: 158).

Auch der kanadische Politikwissenschaftler Philippe Le Prestre konzentriert sich auf den Entstehungskontext von Rollen, befasst sich dabei aber insbesondere mit systembedingten Rollenveränderungen. Er sieht in Zeiten der Unsicherheit des internationalen Systems, wie nach dem Ende des Kalten Krieges der Fall, außen- politische Rollen insbesondere durch die, in der Gesellschaft eines Landes be- gründete, Identität geprägt (Le Prestre 1997 a: 9). Doch kann es zu Rollenkonflik- ten kommen, sollten diese nationale Rollenkonzeption und die Rollenerwartung durch die anderen Staaten nicht übereinstimmen. Verändert ein Staat seine außen- politische Rolle, so Le Prestre, muss diese neue Rolle sowohl einerseits von den anderen Mitgliedern des internationalen Systems akzeptiert werden und anderer- seits mit im System bereits existierenden Rollen vereinbar sein (Le Prestre 1997 b: 260).

Seit den 1990er Jahren gewinnt die Rollentheorie auch unter deutschen Außenpo- litikanalytikern an Bedeutung. Besonders hervorzuheben sind hierbei die Forscher um den Trierer Politikwissenschaftler Hanns W. Maull9. Mit der Entwicklung des Idealtypus der „Zivilmacht“ (Maull 1990, 1992) gelingt Maull und seinen Schü- lern die erfolgreiche Anwendung des rollentheoretischen Konzepts auf dem Ge- biet der vergleichenden Außenpolitikanalyse. Mithilfe dieses Idealtypus, welcher im Sine einer nationalen Rollenkonzeption zu verstehen ist, und einer Überprü- fung des außenpolitischen Verhaltens an diesem lässt sich das Verhalten von Staa- ten erklären (Kirste/Maull 1996: 297).

Wie oben gezeigt werden konnte, ist die Rollentheorie heute fester Bestandteil der Außenpolitikanalyse und findet immer mehr Zuspruch. Voraussetzung hierfür war jedoch, dass eine Systematisierung des Konzepts stattfand. Dies ist seit den 1970er Jahren und Holstis bahnbrechender Studie geschehen. Wurde der Rollen- begriff in der Außenpolitikanalyse früher meist ohne theoretischen Bezug ver- wendet, herrscht heute bereits über viele grundlegende Punkte des Konzepts Ei- nigkeit. So werden zum Beispiel Rollen heute nicht mehr als Bestandteil soziale Systeme angesehen, sondern ihre Ursprünge in institutionellen oder kognitiven Strukturen gesehen (Harnisch 2011: 7f.). Darüber hinaus herrscht unter Rollen- theoretikern Konsens darüber, dass jede Rolle in den internationalen Beziehungen nur in Verbindung mit der jeweiligen Gesellschaft sowie weiteren Rollen im in- ternationalen System entstehen kann (Harnisch 2011: 7). Für die nachfolgende Untersuchung sind insbesondere zwei der oben vorgestellten Theoretiker relevant. Erstens ist dies Peter Gaupp, der neben der Überführung der Rollentheorie in ei- nen systematischen Untersuchungsansatz der Außenpolitikanalyse auch die Idee einbrachte, dass ein Staat auf dem Gebiet der Außenpolitik eine Vielzahl von ver- schiedenen Rollen innehaben kann. Zweitens soll die Idee des Idealtypus von Hanns Maull und seinen Schülern Eingang in die Untersuchung finden. Im fol- genden Unterkapitel der Arbeit geht es somit darum, aus den oben beschriebenen Ansätzen der Rollentheorie das der nachfolgenden Untersuchung zugrunde lie- gende theoretische Argument zu entwickeln.

2.2 Zur theoretische Grundlage der Untersuchung

Im internationalen beziehungsweise außenpolitischen Kontext meint der Begriff Rolle „[…] geplante - d.h. kollektiv normierte und individuell konzipierte - und von Repräsentanten realisierte Einstellungs- und Verhaltensmuster von Staaten und anderen Akteuren in positionell verfestigten internationalen Systemen […]“ (Gaupp: 109).

Internationale Rollen umfassen dabei zwei Ebenen, eine interne und eine externe (Kirste/ Maull 1996: 289). Zum einen werden durch die externe internationale Umwelt Erwartungen und Verpflichtungen an den außenpolitischen Entschei- dungsträger eines Landes herangetragen. Diese Rollenzuschreibung durch die internationale Umwelt (role prescription), also andere Akteure und systemimma- nente Strukturen, macht den alter-part der Rolle aus (Kirste/ Maull 1996: 289). Zum anderen bilden sich Staaten intern selbst eine Vorstellung von ihrem Platz sowie ihren Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten in der internationalen Umwelt (Le Prestre 1997a: 6). Dieses Selbstverständnis des Staates (national role conception) bildet den ego-part der Rolle und umfasst laut der einschlägigen De- finition von Holsti die Vorstellungen der politischen Entscheidungsträger über die Rechte und Pflichten sowie die Stellung, die ihrem Staat im internationalen Sys- tem auf Dauer zukommen sollte (Holsti 1970: 245-46). Bei der national role con- ception kommt es somit nicht darauf an, wie die internationale Umwelt oder die Stellung des Landes in ihr tatsächlich ist, sondern lediglich darauf, wie die politi- schen Entscheidungsträger sie wahrnehmen (Sprout/ Sprout 1957: 328). Die nati- onal role conception der politischen Entscheidungsträger ist dabei in demokratisch verfassten Gesellschaften nicht allein mit den persönlichen Motiven und Ansich- ten desselben gleichzusetzen, sondern ist vielmehr

„[…]der gemeinsame Nenner oder die Kompromissformel, die aus Diskussionsund Entscheidungsprozessen in Regierung, Parlaments-Parteien, und Interessengruppen unter Berücksichtigung der öffentlichen Meinung oder aus Plebisziten hervorgegangen ist und laufend neu hervorgeht. Die nationale Rollenkonzeption ist also genuin kollektiven Charakters.“ (Gaupp 1983: 102).

Aus den beiden Bestandteilen der Rollen können politische Entscheidungsträger schließlich generelle oder spezifische außenpolitische Entscheidungen und Hand- lungen ableiten (role performance) (Holsti 1970: 245). Rollen können somit dadurch, dass sie den staatlichen Entscheidungsträgern allgemeine Richtlinien für die Entscheidungsfindung an die Hand geben (Kirste/ Maull 1996: 283), die Komplexität der internationalen politischen Realität reduzieren. Da sich ein Staat heute in verschiedenen Systemen gleichzeitig bewegt, wie etwa einerseits dem internationalen System und andererseits regionalen Systemen wie beispielsweise der Europäischen Union, kann er auch gleichzeitig mehrere unterschiedliche Rol- len innehaben, ohne dass dies zu Konflikten führen muss (Gaupp 1983: 158). In Bezug auf die Außenpolitik eines Staates hat dies, so wird hier angenommen, zur Folge, dass sich für die verschiedenen Teilbereiche der Außenpolitik eines Staates auch unterschiedliche Rollen ergeben können. So kann ein Staat in der Ausübung seiner Entwicklungszusammenarbeit eine andere Rolle einnehmen, als in der sei- ner Rüstungspolitik, da er sich in beiden Bereichen in anderen Systemen bewegt, die unterschiedliche Anforderungen an ihn stellen.

Eine vollständige Untersuchung der Rolle wie des Rollenverhaltens eines Landes muss sowohl eine Analyse des alter- als auch des ego-parts umfassen. Diese Ar- beit konzentriert sich, wie bereits angesprochen, nur auf die Analyse des ego-parts der Rolle, also der national role conception. Dies ist zum einen dem begrenzten zeitlichen Rahmens und Umfangs der Magisterarbeit geschuldet, zum anderen wird auch angenommen, dass die Selbstvorstellung eines Landes in Hinblick auf seine Entwicklungszusammenarbeit entscheidungsrelevanter ist, als die von außen an den Staat herangetragenen Erwartungen. Da Entwicklungszusammenarbeit in dieser Untersuchung als souveräne und interessengeleitete Staatshandlung ver- standen wird, ist im Regelfall von einem geringen Ausmaß äußerer Einflussnahme hinsichtlich der Auswahl der zu fördernden Länder auszugehen. Wie die durch Hanns W. Maull und seine Schüler durchgeführten Untersuchungen, wird die nachfolgende Analyse auf Grundlage von Idealtypen vorgenommen werden. Ge- hen Maull et al. in ihrer Analysen vom Idealtypus der „Zivilmacht“ als national role conception beziehungsweise Rolle aus, wird in der folgenden Untersuchung angenommen, dass die, die Entwicklungszusammenarbeit eines „neuen“ Gebers betreffende national role conception allein regional oder nicht-regional ausgerich- tet sein kann. Es wird demnach keine genaue Untersuchung der national role con- ceptions der ausgewählten Untersuchungsländer vorgenommen, stattdessen wird die Rollenkonzeption der Staaten anhand der beiden genannten Ausprägungen, die im weiteren Verlauf der Arbeit näher definiert werden, überprüft und eingeordnet.

Wurde bislang der Staat an sich als Rollenträger genannt, gilt es an dieser Stelle zu betonen, dass ein Land selbst nie als Handelnder in Erscheinung treten kann. Zur Ausübung der nationalen Rollenkonzeption bedarf es menschlicher Repräsen- tanten. Diese vertreten nicht den Staat als solchen, sondern vielmehr die hinter diesem stehende nationale Gesellschaft (Gaupp 1983: 99f.). Als Repräsentanten des Staates nach außen und damit als Träger der national role conception kommen diejenigen in Frage, welche außenpolitische Entscheidungen des Landes treffen. Dies sind je nach Form des Regierungssystems Angehörige der Exekutive oder der Legislative (Wish 1980: 535).

2.3 Theoretische Einordnung und Abgrenzung der Rollentheorie

Nachdem im vorangegangenen Unterkapitel die theoretische Grundlage der nach- folgenden Untersuchung gelegt worden ist, gilt es im folgenden Abschnitt darum, das rollentheoretische Konzept von anderen theoretischen Ansätzen abzugrenzen. Dies erfolgt in zwei Schritten. Zunächst gilt es, den rollentheoretischen Ansatz innerhalb des Theoriespektrums der Internationalen Beziehungen einzuordnen. In einem zweiten Schritt muss dann eine Abgrenzung des Ansatzes von ähnlich er- scheinenden, auf dem Gebiet der Außenpolitikanalyse gebräuchlichen, Ansätzen aus dem gleichen theoretischen Spektrum erfolgen. Dieser Schritt erscheint not- wendig, um zu verdeutlichen, warum aufgrund der, dieser Arbeit zugrunde lie- genden, Fragestellung die Rollentheorie als Analyseansatz geeigneter ist als ande- re theoretische Konzepte.

2.3.1 Einordnung der Rollentheorie in das Theoriespektrum der Internationalen Beziehungen

In den letzten Jahren haben sich auf dem Gebiet der Außenpolitikanalyse zwei wesentliche Herangehensweisen herausgebildet: Ein historisch beschreibender Ansatz, bei dem es den Wissenschaftlern um die Darstellung der gesamten Au- ßenpolitik eines Landes oder einzelne Teilbereiche, Entscheidungen sowie Zeitab- schnitte geht, und die erklärende Außenpolitikanalyse, bei der die systematische Untersuchung der Faktoren im Mittelpunkt steht, die die Außenpolitik eines Lan- des beeinflussen (Peters 2007: 815). Die Rollentheorie kann dabei der zweiten genannten Herangehensweise zugeordnet werden, da es ihr Ziel ist, außenpoliti- sches Verhalten von Staaten anhand ihrer Rolle im internationalen System, oder ihre nationale Rollenkonzeption zu erklären. Da in diesem Sinne die Außenpolitik eines Landes durch die politischen Akteure und die dahinterstehende Gesellschaft konstruiert wird, kann der rollentheoretische Ansatz als akteurszentrierter, sozial- konstruktivistischer Ansatz gelten (Harnisch 2003: 340). Im Gegensatz zu positi- vistisch-rationalistischen Theorieansätzen, wie dem Neo-Realismus, gehen kon- struktivistische Ansätze auf dem Gebiet der Internationalen Beziehungen nicht von einem Akteur aus, der grundsätzlich rational und nutzenmaximierend handelt und dessen Ziele, bedingt durch die anarchische Struktur des internationalen Sys- tems, klare Präferenzen hinsichtlich des Überleben des Staates aufweisen (Kirste/ Maull 1996: 285). Ihre Anhänger sind vielmehr der Ansicht, dass Akteure im in- ternationalen System sozial und regelgeleitet agieren und ihre Ziele nicht durch das internationale System an sich, sondern durch Werte und Normen, denen sich die Akteure verpflichtet fühlen, sowie durch von ihnen geschaffene Institutionen bestimmt werden. Da Werte, Normen und Institutionen nach Ansicht der Kon- struktivisten wandelbar sind, sind es auch die Präferenzen der Akteure, die ihre Ziele somit situativ bestimmen. Für die Rollentheorie bedeutet dies, dass wan- delnde Ziele der Akteure auch zu einem neuen nationalen Rollenkonzept des Staa- tes führen können und somit Veränderungen im außenpolitischen Verhalten er- klärt werden können (Kirste/ Maull 1996: 285).

Auch wenn der rollentheoretische Erklärungsansatz den konstruktivistischen Er- klärungsansätzen zugeordnet werden kann, können institutionalistische, liberale und realistische Ansätze in das Konzept einfließen. Da Rollenkonzepte verstanden werden als

„[…] soziale Konstrukte, in denen sich Annahmen über die Wirklichkeit (Sein) mit Vorgaben über angemessenes Verhalten (Sollen) verbinden.“ (Maull 2007: 75), können über die Vorstellungen der Akteure und Anforderungen der Umwelt an sie andere theoretische Erklärungsansätze in das außenpolitische Rollenkonzept eines

Landes einfließen (Maull 2007: 75). Versuchen also rationalistisch-positivistische Ansätze das Verhalten von Akteuren über das internationalen System zu erklären, beziehen konstruktivistische Ansätze wie die Rollentheorie auch das „Innere“ der Akteure, wie sein Wertesystem, mit in die Untersuchung ein (Kirste/ Maull 1996: 285).

2.3.2 Abgrenzung der Rollentheorie

Konnte oben die Rollentheorie innerhalb des theoretischen Spektrums der Interna- tionalen Beziehungen als akteurszentrierter, sozial-konstruktivistischer Ansatz eingeordnet werden, soll im Folgenden nun eine Abgrenzung zu ähnlichen sozial- konstruktivistischen Konzepten erfolgen. Dabei sollen die Erklärungsansätze der außenpolitischen Identität sowie der der nationalen außenpolitischen Kultur be- rücksichtigt werden, da diese innerhalb der Internationalen Beziehungen und spe- ziell der Außenpolitikanalyse besonders häufig zur Untersuchung herangezogen werden.

Rolle und Identität

Aus dem soziologischen Verständnis, wonach Identität das Selbstverständnis des Einzelnen im Verhältnis zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft meint, kann für die Außenpolitikanalyse abgeleitet werden, dass unter außenpolitischen Identitä- ten das Selbstverständnis einer Nation oder eines politischen Systems im Verhält- nis zu anderen Mitgliedern des internationalen Systems zu verstehen ist (Reus- Smit 1997: 565). Identität muss also in beiden Fällen als eine Idee der Person be- ziehungsweise der Nation von sich selbst verstanden werden, die sich aus dem Unterschied, wie zum Beispiel einem anderen Wertesystem, zu anderen Personen beziehungsweise Nationen ergibt (Harnisch 2003: 331). Identität ist somit immer mit der Abgrenzung einer Gruppe von einer anderen verbunden. Eine angenom- mene Identität kann außenpolitische Handlungen bedingen oder auch im Nach- hinein rechtfertigen und gibt den politischen Akteuren somit einerseits einen Leit- faden für ihr außenpolitisches Handeln an die Hand, andererseits jedoch auch die Möglichkeit unpopuläres außenpolitisches Handeln vor der eigenen Bevölkerung als legitim darzustellen (Reus-Smit 1997: 565).

Während also, wie beschrieben, die Identität einer Nation primär durch ihre Ge- sellschaft definiert wird und somit in erster Linie gemeinschaftsorientiert ist (Har- nisch 2003: 331), bedarf es bei der Ausbildung außenpolitischer Rollen darüber hinaus der Umwelt des Landes, die bestimmte Erwartungen an die Nation bezie- hungsweise die außenpolitischen Entscheidungsträger stellt (Holsti 1970: 229). Außenpolitische Rollen spiegeln also, im Gegensatz zu außenpolitischen Identitä- ten, auch die Umwelt in die ein Staat eingebunden ist, wider (Kirste 1998: 45). Da außenpolitische Identitäten immer den Aspekt der Abgrenzung beinhalten, sind sie für die nachfolgende Analyse weniger geeignet als das rollentheoretische Kon- zept. Die Entwicklungszusammenarbeit von Staaten und ihre Ausrichtung, die den Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung bilden, beruht weniger auf dem Willen zur Abgrenzung gegenüber anderen Staaten, sondern vielmehr auf Interes- sen des Geberstaates in Hinblick auf seine Rolle beziehungsweise seinen Status in der internationalen Umwelt oder anderen, zum Beispiel ökonomischen Motiven.

Rolle und au ß enpolitische Kultur

Unter der außenpolitischen Kultur eines Landes kann

„[…] die Gesamtheit aller kognitiven und handlungsleitenden Ideen einer Gesellschaft in Hinblick auf ihr Außenverhalten […]“ (Harnisch 2003: 331)

verstanden werden. Diese Ideen fließen in die außenpolitische Praxis der Nation über die Ausformung bestimmter Politikstile und Handlungsweisen ein und finden darüber Eingang in die außenpolitischen Institutionen, wie den Botschaften oder dem Außenministerium (Harnisch 2003: 331f.). Im Gegensatz zur außenpoliti- schen Rolle, umfasst das Konzept der außenpolitischen Kultur somit die Überzeu- gungen der gesamten Gesellschaft hinsichtlich der Außenpolitik des Landes und kann auch das Verhalten einzelner Akteure, wie z.B. Botschaftsangestellten in bestimmten Situationen erklären. Der Fokus des Ansatzes ist also umfassender als der der Rollentheorie, der eher auf die Erklärung der Außenpolitik insgesamt, be- stimmter Teilbereiche oder spezifischer außenpolitischer Entscheidungen als auf die Erklärung der Handlung einzelner zielt. Demgegenüber gelingt es aber der Rollentheorie im Gegensatz zum Ansatz der außenpolitischen Kultur die Erwar- tungen der Außenwelt an die Außenpolitik eines Landes sowie besondere Ent- scheidungsgrundlagen, wie außenpolitische Konzepte, in die Untersuchung einzu- beziehen (Maull 2007: 74-75). Da es sich bei der Entwicklungszusammenarbeit um einen Teilbereich der Außenpolitik eines Staates handelt und nicht um die Handlung einer einzelner Person, kann der rollentheoretische Ansatz für die Ana- lyse dieser Arbeit als geeigneter angesehen werden als das sehr weit gefasste Konzept der außenpolitischen Kultur.

3. Methodik

Um die, in der Einleitung entwickelte, Fragestellung: „Hat die Ausrichtung der national role conception Einfluss auf die Ausrichtung der Entwicklungszusam- menarbeit eines neuen Gebers?“, beantworten zu können, gilt es nun, nachdem im vorangegangenen Teil der Arbeit die Grundlagen der Rollentheorie dargestellt wurden, eine zur Beantwortung der Frage geeignete Untersuchungshypothese auf- zustellen und eine Analysemethode festzulegen. Dabei soll zudem die Fragestel- lung weiter eingegrenzt werden.

3.1 Auswahl des Politikfeldes

Bislang wurde, wie die Darstellung des Forschungsstands bezüglich der Rollen- theorie zeigt, das rollentheoretische Konzept zumeist allein auf die Außenpolitik von Staaten im Allgemeinen angewendet. Eine rollentheoretische Untersuchung einzelner Teilbereiche der Außenpolitik eines Staates ist bislang kaum erfolgt, obwohl bereits in den 1980er Jahren durch Peter Gaupp festgestellt wurde, dass sich ein Staat heute in verschiedenen Systemen gleichzeitig bewegt und auch in jedem System eine unterschiedliche Rollen innehaben kann (Gaupp 1983: 158). Da die Arbeit somit eine Ausnahme in der rollentheoretischen Forschung im Be- reich der Politikwissenschaft darstellt, muss zunächst die, bereits in der Fragestel- lung vorgenommene, Spezifizierung des Untersuchungsfeldes auf ihre Tauglich- keit hin untersucht werden. So gilt es im Folgenden zu prüfen, ob sich die Ent- wicklungszusammenarbeit, als einzelnes Teilgebiet der Außenpolitik eines Staates, überhaupt für eine, auf die Rollentheorie gestützte Untersuchung eignet.

Als Voraussetzung für eine Eignung als Untersuchungsobjekt muss gelten, dass die national role conception der untersuchten Länder für das gewählte Politikfeld und die auf diesem Gebiet getroffenen Entscheidungen überhaupt Relevanz besit- zen kann. Somit ist zu fragen, ob die, in dem Politikfeld getroffenen, Entschei- dungen durch die eigene Rollenkonzeption des Landes beeinflusst werden kön- nen. Besitzt ein Staat auf einem Gebiet der Außenpolitik keine eigene Entschei- dungsgewalt, kann seine national role conception auch nicht sein Verhalten prä- gen. Die konkrete Voraussetzung für die Eignung der Entwicklungszusammenar- beit als Untersuchungsobjekt dieser Arbeit ist somit, dass sie souverän durch die Länder ausgeführt und nicht weitgehend durch äußere Einflüsse, wie zum Beispiel durch internationale Normen, dominiert wird.

Unter Entwicklungszusammenarbeit kann

„[..] die Kapitalhilfe in Form vergünstigter Kredite für Projekte und Programme in Entwicklungsländern sowie die technische Hilfe in Form der Entsendung von Beratern, Ausbildern, Sachverständigen und die Lieferung von Ausrüstungsgütern verstanden werden“ (Nohlen 2004a: 189).10

Folglich geht es unter anderem um die Verteilung von Staatsgeldern und damit um Staatsausgaben. Diese sind dem Staatshaushalt zuzurechnen, welcher allein durch die politischen Vertreter eines Landes souverän bestimmt wird (Schubert 2004: 316). Somit wird die Entwicklungszusammenarbeit eines Staates durch die politischen Vertreter desselben bestimmt. Eine Dominanz von außen ist nicht an- zunehmen. Da auf dem außenpolitischen Teilbereich der Entwicklungszusam- menarbeit folglich die Möglichkeit der Beeinflussung der Entscheidungen durch die national role conception des Landes besteht, kann sie als geeignetes Untersu- chungsfeld gelten.

3.2 Eingrenzung der Untersuchungsländer

Nachdem oben die Eingrenzung der Fragestellung der Arbeit in Hinblick auf das Politikfeld der Entwicklungszusammenarbeit bestätigt werden konnte, muss im Folgenden eine Eingrenzung hinsichtlich der Untersuchungsobjekte erfolgen, da der Umfang der vorliegenden Magisterarbeit nur einen begrenzten Analyserahmen zulässt. Da als zu untersuchendes Politikfeld die Entwicklungszusammenarbeit ausgewählt wurde, besteht die erste Eingrenzung der Länder darin, dass sie Entwicklungszusammenarbeit leisten müssen und nicht allein Empfänger derselben sind. Da dieses Merkmal jedoch immer noch auf eine große Anzahl von Ländern zutrifft, muss eine weitere Einschränkung erfolgen.

Die Geberländer auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit lassen sich grundsätzlich in zwei Gruppen aufteilen: die so genannten „alten“ Geber oder „established donors“ und die „neuen“ Geber bzw. „new“- oder „emerging do- nors“. Zu den „established donors“ werden alle Mitglieder des Development As- sistance Committee der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gerechnet.11 Die Gruppe der „new donors“, deren Mitglieder erst in jüngerer Zeit zu Gebern in der Entwicklungszusammenarbeit geworden sind oder deren Engagement für längere Zeit unterbrochen war, ist dagegen, abgesehen von der Nicht-Mitgliedschaft im DAC, sehr heterogen und lässt sich grob in drei Un- tergruppen aufteilen. Die erste Gruppe bilden solche Länder, die zwar nicht direkt dem DAC angehören, aber sehr eng mit ihm verbunden sind. Hierzu gehören un- ter anderem die neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), wie zum Beispiel Polen oder Tschechien. Diese gehören indirekt über die Union dem DAC an, da die EU als einzige multinationale Organisation direktes Mitglied des DAC ist (Grimm et al. 2009: 10). Die zweite Gruppe umfasst die so genannten „traditional donors beyond the OECD“ (Grimmet al. 2009: 11). Zu diesen werden Staaten gerechnet, die zwar schon seit geraumer Zeit Entwicklungszusammenar- beit leisten, wie zum Beispiel einige arabischen Staaten seit den 1960er Jahren, sich jedoch nie dem OECD angeschlossen haben (Woods 2008: 1205f.). Diese Länder beziehen selbst in der Regel keine Entwicklungszusammenarbeit. Die letz- te Gruppe bilden die übrigen „emerging donors“, welche tatsächlich als „neue“ Geber auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit anzusehen sind. Durch wirtschaftliches Wachstum in den letzten Jahren wurde es für sie möglich, finan- zielle und technische Ressourcen für die Entwicklungszusammenarbeit bereitzu- stellen. Der Großteil dieser Staaten bezieht jedoch weiterhin selbst Mittel im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit (Sangmeister/ Schönstedt 2010: 144). Zu diesen Ländern gehören neben den weltpolitischen Schwergewichten China und Indien auch Staaten wie Brasilien, Südafrika, Taiwan oder die Türkei.

Von den insgesamt vier genannten, auf dem Gebiet der Entwicklungszusammen- arbeit aktiven, Gruppen erscheint im Rahmen dieser Arbeit eine Konzentration auf die zuletzt genannte Kategorie der tatsächlichen „neuen“ Geber sinnvoll, da sie im Vergleich zu den anderen Gruppen, unter Berücksichtigung des knapp be- messenen zeitlichen und räumlichen Umfangs dieser Magisterarbeit, zwei ent- scheidende Vorteile bieten. Zunächst ist der zeitliche Rahmen der zu untersu- chenden Entwicklungszusammenarbeit bei den Ländern dieser Gruppe stark be- grenzt, was den möglichen Untersuchungszeitraum bereits stark eingrenzt. Des Weiteren verfügen die Staaten der ausgewählten Kategorie über keine Kolonial- machtvergangenheit und waren auch keine Hauptakteure des Kalten Krieges. Die- se beiden Merkmale können hinsichtlich der Entwicklungszusammenarbeit eines Landes prägend wirken, ohne dass dies auf die national role conception des Staa- tes zurückgeführt werden kann. Vielmehr sind sie als historisch prägende Momen- te anzusehen, die Entwicklungszusammenarbeit zum Beispiel zur Wiedergutma- chungsleistung werden lassen können. Die Gruppe der „wirklichen neuen“ Geber soll somit im weiteren Verlauf der Arbeit als Untersuchungsgruppe dienen.

3.3 Hypothesenauswahl

Die aufgeworfene und konkretisierte Fragestellung befasst sich mit den Auswir- kungen der Ausrichtung der national role conception eines „neuen“ Geberlandes auf die Ausrichtung der Vergabe seiner Mittel für die Entwicklungszusammenar- beit. Da die Länder der ausgewählten Gruppe der „wirklichen neuen“ Geber über keine kolonialen oder aus der Zeit des Kalten Krieges herrührenden Verpflichtun- gen hinsichtlich anderer Staaten verfügen, stellt sich die Frage, anhand welcher Kriterien sie ihre Entwicklungszusammenarbeit vergeben. Die national role con- ception eines „neuen“ Gebers könnte hier möglicherweise als Erklärung herange- zogen werden. Sollte die Ausrichtung des außenpolitischen Selbstverständnisses eines „neuen“ Gebers die Ausrichtung seines Geberverhaltens entscheidend beein- flussen, so lässt sich annehmen, dass im Falle des Auftretens einer sehr ähnlichen Ausrichtung der national role conceptions bei zwei „neuen“ Gebern sich auch die Ausrichtung ihrer Entwicklungszusammenarbeit stark ähnelt. Die Untersuchungs- hypothese dieser Arbeit soll somit vorläufig wie folgt lauten: „Wenn neue Geber über ähnlich ausgerichtete national role conceptions verfügen, dann ähnelt sich auch die Ausrichtung ihrer Entwicklungszusammenarbeit.“

Bei der Untersuchungshypothese handelt es sich um eine Wenn-dann-Hypothese. Dies bedeutet zum einen, dass die abhängige und die unabhängige Variable dicho- tom sind, was bedeutet, dass sie jeweils zwei mögliche Ausprägungen besitzen, und zum anderen, dass eine Kausalität im Sinne einer Ursache-Wirkungs- Beziehung zwischen den beiden Variablen angenommen wird (Dieckmann 2009: 125f.). Als unabhängige Variable der Untersuchungshypothese lässt sich die Aus- richtung der national role conception der „neuen“ Geber identifizieren. Wie auch in den Untersuchungen Hanns W. Maulls und seine Schüler, erfolgt hier eine Un- tersuchung der Ausrichtung anhand der Bildung idealtypischer nationaler Rollen- konzepte. Es wird angenommen, dass die national role conceptions der „neuen“ Geber nur über die beiden Ausprägungen (1) regional ausgerichtete national role conception und (2) nicht-regional ausgerichtete national role conception verfügen. Die Möglichkeit, dass ein Land über eine rein nationalistisch ausgerichtete natio- nal role conception für den Teilbereich der Entwicklungszusammenarbeit verfügt, kann in Hinblick auf die gewählte Untersuchungshypothese ausgeschlossen wer- den. Wird ein Land auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit aktiv, so muss dem eine Interaktion mit zumindest einem anderen Staat vorausgehen. Län- der, die auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit agieren, sind somit nie international völlig isoliert. Folglich ist eine rein nationalistisch ausgerichtete au- ßenpolitische national role conception nicht anzunehmen. Da die Variable „Aus- richtung der national role conception“ somit nur anhand zweier Kategorien ska- liert wird, die lediglich einen Unterschied jedoch keine Gewichtung oder Rang-folge angeben, muss von einer nominalen Skalierung der unabhängigen Variable gesprochen werden (Behnke et al. 2006: 93).

[...]


1 In der vorliegenden Forschungsarbeit wird die amerikanische Zitierweise verwendet. Anmerkungen zum Text sind in den Fußnoten zu finden. Die Zitationsweise entspricht dabei der im Merkblatt Bibliographie/ Zitation von Professor . Dr. Sebastian Harnisch vom Institut für Politische Wissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg vorgegebenen Form. Abrufbar ist das Merkblatt unter: http://www.uni-heidelberg.de/ md/politik/harnisch/lehre/harnisch-merkblatt-zitation.pdf: 04.08.2011).

2 Da es sich bei dem Begriff national role conception um einen feststehenden Ausdruck in der rollentheoretischen Forschung handelt, soll es hier in englischer Sprache gebraucht werden. Die deutsche Übersetzung lautet treffend: nationale Rollenkonzeption.

3 Da es sich bei den Begriffen alter-part und ego-part um feststehende Ausdrücke in der rollentheoretischen Forschung handelt, sollen sie hier in englischer Sprache gebraucht werden.

4 Vgl. u.a. Ferdinand Tönnies (2005), Gemeinschaft und Gesellschaft.

5 Auf den angegebenen Seitenzahlen befinden sich die Ausführungen zu den angeführten Beispielen der nationalen Rollenkonzepte Holstis. Die Beschreibung sämtlicher national role conceptions erfolgt bei Holsti (1970) auf den Seiten 260 bis 272.

6 Auf den Unterschied zwischen nationaler Rollenvorstellung/-konzeption (national role conception) und Rollenzuschreibung (role prescription) wird in Kapitel 2.2 eingegan- gen.

7 Zu der Beeinflussung des Handlungsspielraums durch verschiedene Situationsrollen vgl. Walker/ Simon 1987, zu der durch gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen vgl. Walker/Sampson 1987.

8 Vgl. zum Beispiel Jönnson/Westerlund 1982.

9 Wie zum Beispiel Knut Kirste, Sebastian Harnisch und Cornelia Frank.

10 Zur näheren Definition und Erläuterung des Begriffs der Entwicklungszusammenarbeit siehe Kapitel 3.4.1 dieser Arbeit.

11 Das DAC der OECD umfasst zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Arbeit folgende 23 Mitgliedstaaten: Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Japan, Kanada, Luxemburg, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz, Spanien, Südkorea, USA.

Ende der Leseprobe aus 116 Seiten

Details

Titel
Rollentheorie als neuer Ansatz in der Entwicklungszusammenarbeit
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Politische Wissenschaft)
Autor
Jahr
2011
Seiten
116
Katalognummer
V192619
ISBN (eBook)
9783656177173
ISBN (Buch)
9783656177777
Dateigröße
1143 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Arbeit aus dem Bereich Vergleichende Außenpolitikanalyse
Schlagworte
Vergleichende Politikwissenschaft, Rollentheorie, role conception, Entwicklungspolitik, Brasilien, Südafrika, Neue Geber, Geberverhalten, Entwicklungszusammenarbeit, Entwicklungshilfe
Arbeit zitieren
Katharina Bockelmann (Autor:in), 2011, Rollentheorie als neuer Ansatz in der Entwicklungszusammenarbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/192619

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