Stabilitätsmechanismen in der Europäischen Union - Eine kritische Analyse


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2012

59 Seiten


Leseprobe

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

Kurzfassung

Einleitung

1. Historische Entwicklung der Stabilitätsmechanismen der Europäischen Währungsunion
1.1. Der Beginn der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion
1.2. Erweiterung der EWWU
1.3. Betrachtung der Stabilitätsmaßnahmen der EWWU

2. Definition des Lender of Last Resort (LOLR)
2.1. Ursprüngliche Begriffsherkunft
2.2. Zweck des Lender of Last Resort
2.3. Weiterentwicklung der ursprünglichen LOLR- Doktrinen
2.4. LOLR auf der internationalen Ebene
2.5 Zusammenfassung und Anreize des LOLR

3. Ist der europäische Stabilitätsmechanismus ein Lender of Last Resort
3.1. Einführung Europäischer Stabilitätsmechnismus
3.2. Grundlagen für die Beantragung von ESM/EFSF- Hilfen
3.3. Das Ziel und die Modi Operandi des ESM
3.4. Zusammenfassung und Diskussion

4. Anreizeffekte des ESM

5. Zusammenfassung

Eidesstattliche Versicherung

Literaturverzeichnis

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

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Kurzfassung

Dieser Aufsatz hat das Ziel, die aktuellen Stabilitätsmechanismen der Europäischen Union kritisch zu analysieren. Dies beginnt, indem erst der Werdegang hin zu den ak- tuellen Stabilitätsmechanismen beschrieben wird. Weiterhin wird der jetzige ESM/EFSF auf der Basis einer theoretischen Einordnung analysiert und kategorisiert. Anschließend werden die durch den neuen Mechanismus gesetzten Anreize analy- siert und kritisch hinterfragt.

Einleitung

Mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und der Europäischen Finanz- stabilisierungsfazilität (EFSF) wurden kürzlich in Europa zwei neue supranationale In- stitutionen geschaffen, die den Mitgliedern der Europäischen Währungsunion im Kri- senfall und unter strengen Auflagen finanzielle Hilfen bereitstellen können. Damit soll u.a. einer Verschärfung etwaiger Krisen aufgrund von Liquiditätsproblemen und ei- nem möglichen Übergreifen auf andere Staaten entgegengewirkt werden. Aus wirt- schaftswissenschaftlicher Sicht ergeben sich hier drei Fragenkomplexe, die in ähnli- cher Form bereits in der Literatur unter dem Stichwort des „lender of last resort“ dis- kutiert wurden:

Erstens, auf welcher Grundlage können diese Institutionen operieren?

Zweitens, über welche tatsächlichen Möglichkeiten zur Intervention verfügen sie?

Drittens, welche Anreiz- und Haftungsprobleme ergeben sich für die beteiligten Staa- ten und überwelche Instrumente verfügen ESM/EFSF, um adversen Anreizen entge- gen zu wirken?

Der erste Abschnitt beschreibt die Entwicklung eines Staatenverbundes zur europä- ischen Währungsunion. Speziell soll damit erklärt werden, wie es zur gegenwärtigen Konstellation gekommen ist und besonders wie die ursprünglichen Zielsetzungen sich weiter entwickelt haben. Dazu wird unterschieden zwischen der EWWU mit 27 Mitg- liedsstaaten sowie der EWU mit heute 17 Mitgliedsstaaten. Die Entwicklung über die Konvergenzkriterien als Stabilitätsmechanismen und ihre Wirkungsweisen bis hin zur Notwendigkeit eines neuen Stabilitätsmechanismus (ESM/EFSF) wird hier beschrie- ben.

Im zweiten Abschnitt wird die theoriegeschichtliche Entwicklung des Konzepts des LOLR unter besonderer Berücksichtigung der Beiträge Henry Thorntons und Walter Bagehots dargelegt. Basierend darauf werden ein (wirtschaftspolitisches) Ziel und verschiedene modi operandi des LOLR abgeleitet. Es wird betont, dass die Konzeptio- nen von Thornton und Bagehot im Kontext ihrer Entstehungszeit während des Gold- standards verstanden werden müssen und ihre Anwendung auf das moderne Finanz- system daher einer Weiterentwicklung bedarf. Hier wird die zunehmende Vernet- zung des internationalen Finanzsystems als der wesentlicher Punkt hervorgehoben, durch den sich die zeitgenössische Konzeption des LOLR von derjenigen des 19. Jahr- hunderts unterscheidet und damit in der Übertragbarkeit zur Gegenwart einen Un- terschied darstellt.

Der dritte Abschnitt dient der Analyse von ESM/EFSF in ihren aktuellen vertraglichen Konstellationen, unter Anwendung der modi operandi. Als Ziel ist festzustellen, ob der Europäische Stabilitätsmechanismus ein LOLR ist, um damit seine Ausrichtung anhand wissenschaftlicher Beiträge kritisch hinterfragen zu können. Mit Hilfe des An- hangs soll der komplexe Ablaufplan von ESM/EFSF anschaulich dargestellt und analy- siert werden.

Der vierte Abschnitt soll eben diese kritische Analyse durchführen, besonders in Be- zug auf die folgenden Fragen: Welche Anreize setzt der Europäische Stabilitätsme- chanismus? Sind diese zweckmäßig und erfolgversprechend? Können sie ihre Zielset- zung erreichen? Hier wird auch wieder die Rückkopplung zum ersten Kapitel gesucht, indem der Werdegang der Zielsetzungen der europäischen Währungsunion in Ver- gleich mit der Zielsetzung der Anreize (des europäischen Stabilitätsmechanismus) ge- setzt wird.

1. Historische Entwicklung der Stabilitätsmechanismen der Europäischen Währungsunion

Die europäische Wirtschafts- und Währungsunion wurde 1990 mit dem Ziel ins Leben gerufen, den europäischen Binnenmarkt durch eine gemeinsame Währung und hohe Preisstabilität zu ergänzen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde ein dreistufiger Plan initiiert. Dieser sollte über einen Zeitraum von elf Jahren, verteilt von einer freiwilli- gen Unterordnung unter das vertragliche Regelwerk bis zur bindenden Verpflichtung aller Teilnehmer, führen. Dieser Prozess begann mit der ersten Stufe der EWWU und- schloss zunächst mit der dritten Stufe der EWWU. Flankiert wurde dieser Prozess durch die Reglungen der Verträge von Maastricht, speziell der Konvergenzkriterien (auch als Maastricht-Kriterien bekannt.)

1.1. Der Beginn der Europäischen Wirtschafts- und Währungs- union

Der Europäische Rat beschloss, die erste Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Juli 1990 einzuleiten. In erster Linie diente diese Stufe e i- ner Harmonisierung der nationalen Wirtschafts- und Währungspolitiken. So soll- ten Geldwertstabilität und Haushaltsdisziplin mehr in den Fokus gestellt werden. Zur späteren Erreichung einer Konvergenz wurde eine multinationale Überwa- chung eingeführt, im engeren Sinne also ein Koordinierungsinstrument, bei dem die Europäische Kommission zweimal jährlich Berichte zur Wirtschaftsentwick- lung und Wirtschaftspolitik der einzelnen Mitgliedsstaaten erstellte. Diese wur- den dann im gleichen Turnus vom Rat für Wirtschaft und Finanzen diskutiert.1

In dieser Stufe blieben alle Mitgliedsstaaten frei und eigenverantwortlich in der Entscheidung ihrer Politik. Verpflichtungen und Strafen waren hier nicht vorge- sehen.2

Eine weitere Neuerung waren die neuen Zuständigkeiten des Ausschusses der Präsidenten der nationalen Zentralbanken (Gouverneursausschuss). So wurde mit der Gründung eines Europäischen Währungsinstituts (EWI) begonnen, während gleichzeitig Stellungnahmen zur währungspolitischen Lage der Staatengemeinschaft abgegeben wurden.

Die finale Neuerung war die Umsetzung der uneingeschränkten Kapitalfreiheit, welche bereits in der Einheitlichen Europäischen Akte beschlossen worden war.

Nach dem Beginn der ersten und vor Beginn der zweiten Stufe der EWWU wurde am 7. Februar 1992 der Vertrag von Maastricht (Niederlande) geschlossen. Dieser Vertrag über die Europäische Union (EUV) enthielt unter anderem die später als Maastricht-Kriterien bekanntgewordenen Konvergenzkriterien, zu denen sich alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gegenseitig verpflichteten.3 Diese be- stehen aus monetären und fiskalpolitischen Vorgabewerten, die das Ziel beinhal- ten, die Leistungsfähigkeiten der nationalen Wirtschaftsräume der EU zu fördern. Nach Ansicht der Verfasser sollte so eine wirtschaftliche Stabilität und Solidarität innerhalb der EU gewährleistet werden. Diese Konvergenzkriterien sollten bei Er- füllung den EU-Mitgliedsstaaten eine automatische Einführung des Euros ermög- lichen. Lediglich Großbritannien und Dänemark behielten sich das Recht vor, selbstständig über eine Einführung des Euro zu entscheiden (und entschieden sich in der Folgezeit dagegen).4

Die Konvergenzkriterien beinhalteten im Einzelnen Vorgaben zur Preisstabilität, Finanzlage der öffentlichen Hand, Wechselkursstabilität und langfristigen Zinssät- zen. Um ein Mitglied der EWWU zu werden, musste zum Einen eine Inflationsrate eingehalten werden, die 1,5 oder weniger Prozentpunkte über dem Durch- schnittswert der drei preisstabilsten Mitglieder des Vorjahres liegen durfte (Krite- rium Preisstabilität). Weiterhin durfte der staatliche Schuldenstand eines EU- Mitgliedslandes nicht mehr als 60% des Bruttoinlandsproduktes und das jährliche Haushaltsdefizit nicht mehr 3% des Bruttoinlandsproduktes betragen (Finanzlage der öffentlichen Hand). Ferner musste ein Staat mindestens zwei Jahre lang ohne Abwertung am Wechselkursmechanismus II5 (siehe Erklärung „dritte Stufe EW- WU“, Seite 9) teilgenommen haben(Preisstabilität) und der Zinssatz langfristiger Staatsanleihen durfte nicht mehr als 2 Prozentpunkte über dem Durchschnitt der drei preisstabilsten Mitgliedsstaaten liegen (langfristige Zinsen).6

Die zweite Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion wurde am 1. Januar 1994 begonnen. Diese beinhaltete die „No-Bailout-Klausel“ sowie ein Verbot für Zentralbanken, Kredite an öffentliche Stellen zu vergeben. Weiterhin wurde der Gouverneursausschuss durch das Europäische Währungsinstitut (EWI)ersetzt. Dem EWI fielen eine Reihe von zentralen Aufgaben zu. So erstellte das EWI einen Bericht, indem die geplanten Wechselkurs- und Geldbeziehungen zwischen dem geplanten Euro-Gebiet und den übrigen Ländern der Europäischen Union. Dieser Bericht lieferte die Grundlage für den Wechselkurmechanismus II (Juni 1997), welcher das Europäische Währungssystem in der dritten Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ersetzen sollte.

Außerdem wurde die Gestaltung der Banknoten der neuen Gemeinschaftswährung, dem Euro, dem EWI übertragen.

Zusammenfassend wurde es zur Hauptaufgabe des EWI, die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Zentralbanken zu stärken, die Wirtschafts- und Währungspolitiken zu koordinieren und die (organisatorischen, institutionellen und rechtlichen) Voraussetzungen für die dritte Stufe der Europäischen Wirtschaftsund Währungsunion zu schaffen.

Am 1. Januar 1999 wurde die dritte Stufe der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion durch die Einführung des Euro als Gemeinschaftswährung einge- leitet. Bereits am 1. Juni 1998 war die Europäische Zentralbank gegründet wor- den und ersetzte wie geplant das Europäische Währungsinstitut. Die nationalen Zentralbanken hatten, sofern nicht bereits bestanden, ihre politische Unabhän- gigkeit erhalten, so dass der Europäische Rat festlegte, welche EU- Mitgliedsstaaten die Konvergenzkriterien erfüllten und die Gemeinschaftswäh- rung Euro einführen durften. Großbritannien, Schweden und Dänemark lehnten die Einführung des Euro ab. Griechenland konnte die Kriterien nicht erfüllen. Damit verblieben elf EU-Staaten, deren gegenseitigen Wechselkurse unwiderruf- lich festgelegt wurden. Fortan wurde die Geldpolitik der einzelnen EWU-Staaten nicht mehr von ihren Zentralbanken allein, sondern vom System der Europä- ischen Zentralbanken, speziell der EZB, durchgeführt. Parallel dazu trat der Wechselkursmechanismus II7 in Kraft. Dieser besagte, dass eine maximale Band- breite von ± 15 Prozent Wertschwankung um den Leitkurs der Währung eines WKM II-Mitglieds zum Euro eingehalten werden musste. Hiervon ist die Ausgabe der Euro-Münzen und -Scheine zu trennen, die erst im Januar/Februar 2002 er- folgte.

1.2. Erweiterung der EWWU

Nach dem Abschluss der dritten Phase sollte die Euro-Zone erweitert werden. Am 1. Januar 2001 erhielt Griechenland den Euro, nachdem vorher durch den Econfin-Rat bestätigt wurde, dass ein nachhaltiger Grad an Konvergenz erreicht worden sei. Nach der Erweiterung der EU folgten mit Slowenien, Zypern, Malta (1. Januar 2008), der Slowakei (1. Januar 2009) und Estland (1. Januar 2011) fünf weitere Staaten in die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU).

1.3. Betrachtung der Stabilitätsmaßnahmen der EWWU

Auch nach dem Erreichen der Konvergenzkriterien und der Einführung des Euro wurden die einzelnen EWWU-Staaten verpflichtet, zwei Elemente der Konver- genzkriterien weiterhin zu erfüllen. Zum einen durfte die Neuverschuldung nicht über 3% des Bruttoinlandsprodukts betragen, zum anderen wurde der Stand der Staatsverschuldung auf maximal 60% des Bruttoinlandsprodukts begrenzt. Diese beibehaltenen Konvergenzkriterien dienten fortan als Stabilitätsmechanismus für EWWU-Staaten.

Ursprünglich wurden zur Durchsetzung dessen auch Sanktionsmaßnahmen defi- niert. So darf die Europäische Kommission eine „Frühwarnung“ (auch bekannt als „Blauer Brief“) an das entsprechende Mitgliedsland erlassen, wenn die Gefahr eines Überschreitens der 3%-BIP-Klausel droht. Beim tatsächlichen Überschreiten der 3%-BIP-Klausel darf die EU-Kommission ein Defizit-Verfahren einleiten. Die- ses Verfahren deckt eine Reihe von Sanktionen ab. Angefangen bei der verpflich- tenden Vorlage eines Plans zum Abbau des Defizits über die Verhängung von Geldstrafen und Verpflichtung zu Einlagen bei der EU-Kommission bis hin zur zu- sätzlichen Angabe bei der Emission von Staatsanleihen .Eine Ausnahmeregelung war nur für den Fall von Naturkatastrophen und schweren Wirtschaftskrisen vor- gesehen.

In der Praxis wurden diese Sanktionen jedoch zunächst nicht durchgeführt. Als Deutschland und Frankreich 2002 und 2003 die Defizitgrenzen überschritten, wurde das Defizitverfahren von den Econfin-Ratsmitgliedern ausgesetzt. Seit 2007 wurden gegen 20 der 27 EU-Mitgliedsstaaten Defizitverfahren eingeleitet.

Trotz dieser Mechanismen zur Stabilität innerhalb der EWWU kam es in der Folge der Wirtschaftskrise zu Instabilitäten mit hohen/steigenden Staatsverschuldun- gen einiger EWWU-Staaten. Über die Ursachen der Verschuldung der EWWU- Staaten mit der höchsten Verschuldung gemessen an ihrem BIP, den sogenann- ten PIIGS-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien) wird kont- rovers diskutiert. Ebenso über die Verschuldung von anderen EWWU-Staaten, deren Verschuldungsgradansteigt. Festzustellen ist jedoch, dass die bisherigen Stabilitätsmechanismen sowie die Kontrolle über deren Einhaltung nicht ausre i- chend waren, diese Instabilitäten zu verhindern. So zeigt die Ausrichtung der schrittweisen Einführung der Stabilitätsmechanismen (Konvergenzkriterien) und deren teilweise Beibehaltung, dass über die Steuerung der Staatsverschuldung die Stabilität der EWWU-Staaten gewährleistet werden sollte. Exakt das Steigen der Staatsverschuldung über die gesetzten Grenzwerte trat jedoch weniger als ein Jahrzehnt nach der Gründung und dem offiziellen Start der Gemeinschafts- währung Euro ein.

Somit wurde im Rahmen der Ereignisse um die Verschuldungskrise von EWWU- Staaten ein neuer Stabilitätsmechanismus geschaffen. Der EFSF/ESM soll als ak- tuellster Stabilitätsmechanismus in den kommenden Kapiteln nähere Betrach- tung finden.

2. Definition des Lender of Last Resort (LOLR)

2.1. Ursprüngliche Begriffsherkunft

Historisch betrachtet wurde der „Lender of LastResort“ als klassische Theorie von drei Autoren im 18. und 19. Jahrhundert begründet.

Erfunden wurde der Begriff Lender of Last Resort im späten 18. Jahrhundert von Sir Francis Baring. In seinem Werk, „Observations on the Establishment of the Bank of England“ (1797) erwähnte er erstmals in den Wirtschaftswissenschaften die Zentralbank als „dernier resort“ (letzte Zuflucht)8, von der alle Banken in der Krise Liquiditätshilfen erwarten können sollten.

Die Grundüberlegung der damaligen Zeit war, dass man eine Situation fürchtete, in welcher Gerüchte um eine Zahlungsunfähigkeit dazu führen können, dass ganze Volkswirtschaften zum Erliegen kommen. Durch das Misstrauen der einzelnen Markteilnehmer untereinander werden keine Darlehen oder ähnliche Geldgeschäfte mehr getätigt, was kurzfristig zu einer Abwärtsspirale und langfristig zu einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung führt.

Die Bedeutung des Begriffs LOLR entwickelte sich in den folgenden Jahrhunder- ten und hat besonders in der jüngeren Vergangenheit immer wieder Anwendung gefunden. Im folgenden Unterkapitel 1.2 Zweck des Lender of Last Resort wer- den das Ziel und die Modi Operandi (M. O.), welche aus den Werken der prägen- den Autoren und der bisherigen Anwendung hervorgegangenen sind, beschrie- ben.

2.2. Zweck des Lender of Last Resort

Der Begriff „Lender o L ast Resort“ bedeutet übersetzt Dahrlehens-/Geldgeber der letzten Instanz. Allgemein ist dies die Bezeichnung für einen Dahrlehens/Geldgeber, welcher ein volkswirtschaftliches Subjekt mit Zahlungsmittel (im engeren Sinne Giralgeld) versorgt und damit eine Rettung vor der Zahlungsunfähigkeit sicherstellt. Daraus ergibt sich das Ziel des LOLR:

1. Ziel LOLR:Die Rettung solventer Agenten vor etwaiger Zahlungsunfähigkeit Im Jahre 1802 veröffentlichte Henry Thornton seine Doktrin und beschrieb die Bank of England (BoE) als Lender of Last Resort 9.

Hintergrund war die Tatsache, dass die Bank of England (BoE) im Rahmen der Napoleonischen Kriege die Goldumtauschbarkeit ausgesetzt hatte (Anmerkung: zur Zeit Thorntons existierte in Großbritannien der Goldstandard. Auf diesem System sind auch Thorntens Überlegungen aufgebaut10 ).

Dadurch erhielt die BoE Handlungsfreiheit über die Geldmenge und die Möglich- keit, als LOLR zu fungieren. Da die BoE jedoch zögerte, als solcher zu fungieren, versuchte der Bankier und Parlamentsabgeordnete Henry Thornton mit seiner Doktrin einen Impuls zu geben.11 Auch war es Thornton, der als erster auf die „contagion“, also die Ansteckungsgefahr (Übergriff) und deren Effekte hinwies. „Sollte irgendeine Bank Pleite geht, könnte ein allgemeiner Ansturm auf andere Bankinstitute entstehen“12.

So definierte Thornton in 1802 drei Merkmale des LOLR am Beispiel der BoE:

Als Erstes steht die Einzigartigkeit im Finanzsystem als Liquiditätsquelle innerhalb des Systems. Von Thorntons Standpunkt im 18. Jahrhundert sah er die BoE. Diese verwaltete die Goldreserven der einzelnen Banken und emittierte Banknoten als nicht- Gold- Zahlungsmittel. Aufgrund der nicht anzuzweifelnden Zahlungsfähig- keit der BoE wurden diese Banknoten als Goldäquivalent eingestuft. Diese Bank wird als „Zentralbank“ bezeichnet.

2. M. O.LOLR: Monopol, Banknoten zu emittieren

Das zweite Merkmal ist die Wahrung des Vertrauens in den Wert und die Glaubwürdigkeit des LOLR, der als Hüter der Währung fungiert (Anmerkung: die BoE war zu Thorntons Zeit der Verwalter der Goldreserven, was auch den Wert der von ihr emittierten Banknoten beeinflusste).

In dieser Hinsicht hatte Thornton klare Vorstellungen; so müssen zunächst aus- reichende Liquiditätsreserven vorgehalten werden, deren Verfügbarkeit im Ein- satzfall nicht angezweifelt wird. Der LOLR muss also als „Liquide im Krisenfall“ angesehen werden.

Weiterhin muss im Krisenfall die Liquidität des LOLR zügig verfügbar gemacht werden, um das Abfließen von Einlagen zu verhindern, was als „internal drain“ bezeichnet wird.

Thornton beschrieb dies mit dem Umtauschen von Banknoten in Gold oder ähnliche Sachwerte.

Als „external drain“ werden Liquiditätsabflüsse ins Ausland bezeichnet. Diese sollen durch ausreichende Währungssicherheiten (Thornton: Goldreserven) und das Verhindern von „Überliquidität“ verhindert werden.13

3. M. O.LOLR: Hüter der Glaubwürdigkeit (Wert) der Währung

Die Verantwortung für die gesamte Volkswirtschaft ist das dritte Merkmal eines LOLR. So soll das gesamte Finanzsystem in Zeiten von Krisen durch den LOLR ge- und unterstützt werden. Dies erfolgt durch ein antizyklisches Verhalten im Ver- gleich zu normalen Banken; die Volkswirtschaft soll mit Liquidität versorgt wer- den, indem in Krisenzeiten mehr Banknoten emittiert und Kredite vergeben wer- den (im Gegensatz zu Geschäftsbanken, die ihre Kreditvergabe im Krisenfall dros- seln).

4. M. O.LOLR: Verantwortung für die gesamte Volkswirtschaft (Gesamtes Bankensystem) Der Begriff der „Zentralbank“ als LOLR wurde damit nach der ersten Erwähnung durch Baring von Henry Thornton am Beispiel der BoE manifestiert. Zudem wurden auch politische Fragestellungen bzw. Gefahren für die Zentralbank als LOLR diskutiert. So besteht ein Interessenkonflikt zwischen zwei grundsätzlichen Zielen: zum einen soll die Geldmenge stabil gehalten werden, damit I n- flation und Liquiditätsabfluss verhindert werden (siehe external drain), zum anderen muss die Geldmenge in Krisenzeiten vergrößert werden damit es nicht zum Abfließen von Bankeinlagen kommt (siehe internal drain).

Um diesen Konflikt zu beheben unterscheidet Thornton zwischen langfristiger Geldmengenstabilität und kurzfristiger Geldmengenexpansion14, wobei grundsätzlich die langfristige Geldmengenstabilität gewahrt werden muss, eine kurzfristige Geldmengenexpansion in Krisen jedoch notwendig ist.

Die Begründung für die kurzfristige Expansion der Geldmenge wird durch eine Aufstellung einer Kausalkette vom ersten Indiz der Zahlungsunfähigkeit einer (Geschäfts-) Bank bis zur Beeinträchtigung einer gesamten Volkswirtschaft erbracht. Am Ende dieser Kausalkette steht die Geldmengenexpansion, in Form der Bereitstellung von Liquidität, als Lösung.15

Nach Thornton stellt sich seine Kausalkette in fünf Schritten dar16:
a. Gerücht oder Information über die Zahlungsunfähigkeit einer (Geschäfts- ) Bank
b. Zweifel der Sparer an der Sicherheit der Einlagen
c. Wunsch der Sparer, ihre (unsicheren) Einlagen in andere (sicherere) Ei n- lagen, umzutauschen
d. Erhöhte Nachfrage nach dem Zahlungsmittel, da sich sowohl die Banken mit Liquiden Zahlungsmitteln eindecken, als auch die Sparer Banknoten bzw. Einlagen abziehen
e. Bei konstanter Geldmenge entstehen Liquiditätsengpässe, welche die volkswirtschaftliche Aktivität vermindern

Es soll die Aufgabe des LOLR sein, die beschriebene Abfolge durch die Bereitstellung von Liquidität zu verhindern und einem Liquiditätsengpass innerhalb der Volkswirtschaft vorzubeugen.17

Um nach Thorntons Ansatz der kurzfristigen Geldmengenexpansion zu entsprechen, jedoch der langfristen Geldmengenstabilität weiterhin Rechnung zu tragen, stellt sich die Frage nach dem Höhe der vom LOLR bereitgestellten Liquiditätsmenge. Hierfür sollen die Veränderungen von zwei Gleichgewichten durch den LOLR kompensiert werden und die Quantität des Geldes (damit auch die vol k- swirtschaftliche Aktivität) intakt halten18:

Zum einen das Verhältnis „cash-to-note-and-deposit” (cash-to-note: Goldmünzen und Banknoten im Umlauf) auf Seiten der Sparer, zum anderen das Verhältnis der „reserve-to-note-and-deposit” (reserve-to-note: vorhandene Banknoten außerhalb des Umlaufs)19

Im Jahre 1873 thematisierte Walter Bagehot in seinem Werk „Lombard Street“ seine Gedanken zum LOLR. In seiner Zeit war bereits der Goldstandard zu einem festen Umtauschsatz in Banknoten entwickelt worden.20 So stellte er die beson- dere Stellung der BoE(als Zentralbank) heraus und unterschied sie als Hüter der nationalen Goldreserven von den Geschäftsbanken. Daraus leitete er auch die Verpflichtung ab, in Krisenzeiten allen zahlungsfähigen (Geschäfts-) Banken tem- porär Liquidität zur Verfügung zu stellen. Damit wollte er (wie auch Thornton) das Abfließen der Einlagen durch die Sparer („internal drains“) verhindern. Bage- hot beleuchtete ebenfalls die externen Abflüsse, denen die BoE mit einer Anhe- bung ihrer Einlagenzinsen begegnen sollte, um wiederum ausländische wie inlän- dische Anleger anzulocken.21 Dieses Entgegentreten war für Bagehot wichtig, um die Goldmenge über einer (volkswirtschaftlich)überlebenswichtigen Menge zu wahren und das Vertrauen der Sparer in die Umtauschbarkeit ihrer Banknoten zu halten.22

Wie auch Thornton sah Bagehot den LOLR als eine Institution zur Bereitstellung von kurzfristiger Liquidität im Gegensatz zu langfristiger Geldmengenexpansion. Ebenfalls übereinstimmend mit Thornton stellte er die makroökonomische Pers- pektive eines LOLR mit Verantwortung für die gesamte Volkswirtschaft heraus (Unterstützung des gesamten Bankensystems, im Gegensatz zur Unterstützung von einer oder wenigen Banken).

Ziel des LOLR sollte es sein, Sekundäreffekte zu verringern und nicht Krisenprä- vention zu betreiben.23 Neben den Übereinstimmungen und Weiterentwicklun- gen von Thorntons Doktrin entwickelte Walter Bagehot fünf weitere Säulen zum LOLR.

5. M. O.LOLR: Verhinderung von Sekundäreffekten und keine Krisenpräventi- on

Zunächst differenzierte er zwischen der Hilfe des LOLR für das Bankensystem im Krisenfall und der Ankündigung einer Hilfe im Krisenfall. So schreibt Bagehot „die Öffentlichkeit hat ein Recht zu wissen, ob die Hüter der Währungsreserven sich ihrer Verpflichtung bewusst sind und diese auch ausführen.“24 Allein diese vorherige Bekenntnis zum Eingreifen im Krisenfall sollte den Sparer bereits Vertrauen geben und ein übermäßiges Auflösen von Einlagen verhindern. Ferner wird das Verständnis eines LOLR als Institution mit Gesamtvolkswirtschaftlicher Verantwortung dadurch manifestiert (vgl. 4. M. O.).

6. M. O.LOLR: Klare Bekenntnis zum Eingreifen und klare Aussage zum Um- fang

[...]


1 Vgl. (Brunn, 2002), S. 275-278

2 Vgl. (Brunn, 2002), S. 280 ff.

3 Vgl. (EZB, Mai 2010), S. 6 ff.

4 Vgl. (EZB, Mai 2010), S. 15 ff.

5 Vgl. (Stark & Wollscheid-Schneider, 2005), S.305-307

6 Vgl. (EZB, Mai 2010), S.7-11

7 Vgl. (Stark & Wollscheid-Schneider, 2005), S.305-307

8 Vgl. (Baring, 1797), S. 22 ff.

9 Vgl. (Humphr ey, 2010), S. 335

10 Vgl. (Eichengreen & Flandreau, 1985), S. 66 ff.

11 Vgl. (Humphrey, 2010), S. 334

12 Vgl. (Thornton, 1802), S. 180 (eigene Übersetzung)

13 Vgl. (Thornton, 1802), S. 81 ff.

14 Vgl. (Thornton, 1802), Kapitel V. und S. 259 ff.15 Vgl. (Thornton, 1802), S. 92 ff., S. 301 ff.

16 Vgl. (Thornton, 1802), Kapitel IX.

17 Vgl. (Humphrey, 2010), S. 343

18 Vgl. (Humphrey, 2010), S. 343 19 Vgl. (Thornton, 1802), S. 162 ff.

20 Vgl. (Eichengreen & Flandreau, 1985), S. 66 ff.

21 Vgl. (Bagehot, 1873), S. 27 ff. 22 Vgl. (Bagehot, 1873), S. 156 ff.

23 Vgl. (Bagehot, 1873), S. 29/30

24 (Bagehot, 1873), S. 85 (eigene Übersetzung)

Ende der Leseprobe aus 59 Seiten

Details

Titel
Stabilitätsmechanismen in der Europäischen Union - Eine kritische Analyse
Hochschule
Technische Universität Berlin  (VWL)
Autor
Jahr
2012
Seiten
59
Katalognummer
V192740
ISBN (eBook)
9783656176978
ISBN (Buch)
9783656177470
Dateigröße
823 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
stabilitätsmechanismen, europäischen, union, cpfh, eine, analyse
Arbeit zitieren
Carl Philipp Fries-Henrich (Autor:in), 2012, Stabilitätsmechanismen in der Europäischen Union - Eine kritische Analyse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/192740

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