Der Jakobsweg als mystischer Lehrpfad

Vom tieferen Sinn des Pilgerns


Essay, 2012

17 Seiten


Leseprobe

Inhalt

1. Der Begriff der „Mystik“

2. Was Mystik nicht ist

3. Beobachtungen am Jakobsweg

4. Die Bedeutung des Jakobsweges

5. Was ist Mystik

6. Der Aufbruch

7. Läuterung

8. Der Tod

9. Die Wandlung

10. Auferstehung

11. Was bringt einem das selbst?

12. Was bringt es der Gesellschaft?

1. Der Begriff der „Mystik“

„Mystik“ wirkt heute wie ein anachronistisches Thema für einen Vortrag. Es wirkt irgendwie verrückt. Der Begriff ist irritierend. Häufig wird er verwechselt mit dem Begriff „Mythos“ und auch im Sinne von „mystifizieren“ gebraucht. Worunter eher Vernebelung als Klarsicht zu verstehen ist. Viel leichter, als zu sagen, was es ist, ist zu sagen, was es nicht ist. NICHT ist es, was uns in Bildern von Mystikern vorgestellt wird: frömmelnde, durchgeistigte Spinner, die jede Bodenhaftung verloren haben und ein unverständliches Kauderwelsch sprechen.

Das Gegenteil ist der Fall. Mystiker waren alle sehr realistische Tatmenschen, die mit beiden Beinen auf der Erde standen. Nehmen wir nur Meister Eckhard. Er war der Sohn eines Ritters. Das heißt, er war von klein auf in der Kunst des Kriegers, d.h. in der Kunst der Auseinandersetzung erfahren. Und was macht er? Er wirft sich in einen Kampf mit seiner Epoche, die sich gerade in religiöser Auflösung befand. Er wirft einer Zeit, in der die Kirche das Monopol der Gnadenverwaltung gerade an sich zieht, die Idee an den Kopf, daß die Überfülle Gottes jedem erfahrbar sei und keiner Vermittlung durch eine Institution bedürfe. Er legt sich direkt mit der Inquisition an und verschwindet schließlich, vermutlich auf einer Reise nach Avignon.

Oder nehmen wir Therese von Avila, auch sie die Tochter von Kriegern. Spanien war damals überhaupt eine Kriegergesellschaft. Die Frauen entsprachen dieser Gesellschaft. Auch sie waren sehr kämpferisch. Sie wird in ein Kloster gesteckt, das weniger eine religiöse Institution, als vielmehr eine äußerst komfortable Pension für Töchter des Adels war. Diesen Nonnen fehlte es buchstäblich an nichts. Aber dieses Leben war auch sinnlos. So verfiel sie in eine schwere Depression, die zwanzig Jahre andauerte. Sie war so schwer, daß sie sich lange Zeit nicht einmal rühren konnte und wie gelähmt und von Ängsten geschüttelt im Bett lag. Sie gab aber nicht auf, kämpfte um ihr Leben und verarbeitete diese Erlebnisse konstruktiv. Als sie wieder aufstand, hatte sie verstanden, worum es in diesem Leben ging und sie machte sich an die Arbeit. Sie gründete die Karmeliterinnen und viele Klöster. Auch sie legte sich mutig direkt mit der spanischen Inquisition an – eine damals besonders gefährliche Institution. Frömmler nannte sie „Normfanatiker“, sie forderte geistige Freiheit für Frauen und Laien und sagte: „Gott schütze mich vor griesgrämigen Heiligen!“ Echte Mystik, so sagte sie, „muß Frucht in den Alltag bringen“. Und auch das Leben sollte Platz für Freude bieten: „Wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn, wenn Buße, dann Buße!“ Unermüdlich und nie ganz gesund, zog sie durch das Land, ließ sich davon auch nicht von einer Krebserkrankung aufhalten und starb schließlich an einer Lungenentzündung, die sie sich beim Wiederaufbau des durch ein Hochwasser zerstörten Karmeliterinnenkloster in Burgos zugezogen hatte.

Oder nehmen wir Ignatius von Loyola. Er war Offizier und wurde 1521 in Pamplona in einem Grenzkrieg gegen Frankreich verwundet, wurde von den Franzosen gut behandelt und gesund gepflegt. Auf seinem Krankenlager entwickelte er zuerst Minnephantasien, die jenen des Don Quijote ähnelten, dann aber las er die „Legenda aurea“ und „Das Leben Jesu“, hatte auf dieser Basis ein mystisches Erlebnis und verbreitete fortan ein Weltbild von verblüffender Einfachheit: Der gute Geist, Gott, bringt die Freude, der böse Geist, Satan, bringt die Traurigkeit. Er wollte sofort nach Jerusalem, um den Moslems seine Einsichten zu predigen. Das bekam ihm aber nicht besonders und er stellte fest, daß er zum Predigen Bildung brauchte. Also zog er an die Universität von Paris und gründete dort eine Freundesrunde, die er „societas jesu“ nannte, aus denen die Jesuiten hervorgingen. Sie sind bis heute einer der gebildetsten Orden. Obwohl ein Bein von der Kriegsverletzung lahm blieb, zog er unermüdlich durch Europa, um die Lehre vom guten und dem bösen Geist zu verbreiten.

Heutige Mystiker, wie Thomas Merton, David Steindl-Rast oder Richard Rohr stammen zwar nicht mehr von Kriegern ab, aber auch sie führen ein sehr weltzugeweandtes Leben und sprechen mit Kraft. Dorothe Sölle sagte gar: “Der Weg zum Verständnis von Religion führt nach innen. Das Kriterium für den Christen ist, ob er wieder herauskommt!“

2. Was Mystik nicht ist

Sie waren und sind alles andere, als Menschen, die sich aus der Welt zurückzogen und – wie es uns die Ikonographie einreden will – wenig Bodenkontakt haben.

Sie haben auch nichts zu tun mit unserem modernen Sprachgebrauch, der Mythos mit Mystik verwechselt und beide mit „mystifizieren“ identifiziert.

Gerade heute muß man Mystiker deutlich von jenen Ereignissen, die gerade aus den USA zu uns herüberschwappen. Gerade ist George Bush als Präsident wieder gewählt worden. Er sieht sich selbst als „Wiedergeborener“. Die fundamentalistischen Strömungen in seinem Schlepptau sprechen von einem „Erweckungserlebnis“. Gemeint ist damit aber nur, daß sie sich zu einer fundamentalistischen Lesart des Südstaatenprotestantismus bekennen. Den Moment ihrer Überzeugung nennen sie „Erweckung“ oder „Wiedergeburt“. Das sind zwar mystische Begriffe. Diese Lebenshaltung, die nichts dabei findet, andere Menschen zu verfolgen, Kriege anzuzetteln, ihnen (derzeit dem Islam) jegliche Religiosität abzusprechen und für sich selbst sowohl den Besitz der absoluten Wahrheit, wie auch die exklusive Unterstützung Gottes zu beanspruchen Das hat mit wahrer Mystik nicht das Geringste zu tun. Es ist das Gegenteil davon.

3. Beobachtungen am Jakobsweg

Wenden wir uns nun dem Jakobsweg zu.

Der Jakobsweg verändert Menschen. Er bringt sie zur Ruhe. Das war bereits im Mittelalter so. Beispielsweise erzählt Georg Grissaphan, ein Ritter aus dem Gefolge von Ludwig von Ungarn (1326-1328), daß er nach allerhand Gewalttaten nach Santiago gezogen sei, um seinen Seelenfrieden zu finden[1]. Für uns heutige haben sich nur die Rahmenbedingungen geändert. Wir leben in einer hysteroiden Zeit, in der wir keine Ruhe zu finden vermögen. Überall wird uns Wohlfeiles eingeredet, was wir noch alles bräuchten, um wirklich glücklich zu werden. Wir sind überall und nirgends zu Hause, stets auf er Hetze nach dem Neuesten, immer auf der Jagd nach dem größeren Reiz.

Einer der Wege, um zu innerer Ausgeglichenheit zu kommen, den Blick auf das lenken zu können, was im Leben wesentlich ist und aus diesem Wissen heraus leben zu können, ist der Jakobsweg.

Im Jahr 2000 habe ich am Eisernen Kreuz, zwischen Leon und Astorga, einen deutschen Pilger getroffen, einen Studenten aus Nürnberg. Es war das Jahr, in dem in der Nacht zum Jakobustag das alte eiserne Kreuz mit einer Kettensäge gefällt worden war. Dieser Pilger erzählte uns, daß er mit 5 DM (!) mit seinem Rad in Nürnberg losgefahren sei. Überall sei ihm geholfen worden. Mit diesem Ausmaß an Hilfsbereitschaft habe er nicht gerechnet und sie habe ihn überwältigt. Und die letzten 200 Kilometer würde er nun auch noch schaffen.

Er war mager, aber nicht verhungert. Vor allem wirkte er, als ob er 30 Zentimeter über dem Boden schweben würde. Es ging ein Strahlen und eine Kraft von ihm aus, die noch lange in uns allen nachwirkte. Auch wenn nicht alle solche Sparrekorde aufstellen, so ist doch allen Pilgern das Erlebnis der besonderen Unterstützung durch die Bevölkerung, an der man vorüberzieht, gemeinsam. Allein das macht für jeden Pilger den Jakobsweg zu einem Lebensthema.

4. Die Bedeutung des Jakobsweges

In unserem Zusammenhang ist vor allem von Bedeutung, daß die Pilger beim Überschreiten der Grenze in Roncesvalles gefragt werden, warum sie diese Reise unternehmen. Die Gründe sind sehr vielfältig. Sie reichen von Sport über Selbstverwirklichung bis zum Versuch, eine in die Krise geratene Ehe zu kitten. Aus religiösen Gründen sind die Allerwenigsten unterwegs.

Kommen sie nach Santiago und holen sich das Pilgerzeugnis, so werden sie wieder gefragt. Was hat ihnen diese Pilgerfahrt gegeben. Nicht weniger als 96 % antworten in irgendeiner Form, daß sie den Sinn des Lebens verstanden hätten.

Zu diesen spirituellen Erlebnissen kommt ganz praktisch hinzu, daß der Jakobsweg zu recht als „Rückgrat Europas“ bezeichnet werden kann. Hier fanden Gelehrte, wie auch einfaches Volk Kontakt zum Wissen der alten Welt, das durch den Islam weiterverarbeitet wurde. Nahezu die gesamte antike Kultur kam erst über den Weg des Islam zu uns und hier insbesondere über Spanien. Palästina dagegen war in dieser Hinsicht geradezu bedeutungslos.

Yves Botineau, einer der großen Historiker des Jakobsweges, schrieb 1983 sogar, daß Jakobus „der eigentliche Gott des Abendlandes“ sei. Er verstand darunter, daß das Abendland erst mit dem Jakobuskult als solches entstand und um den Jakobsweg herum christlich werden konnte[2]. Ihm ist recht zu geben, denn der Jakobsweg mit all seiner Dynamik war historisch die wichtigste kulturelle, religiöse und intellektuelle, geistige Quelle bei der Entstehung einer gemeinsamen abendländischen Kultur.

Als die Jakobspilger zurückkamen, gehörten sie immer zu den Honoratioren ihrer Siedlungen und Städte. Denn sie brachten wertvolles Wissen und für das Gedeihen der Gemeinschaft unverzichtbare Erfahrungen mit. Auch heute nehmen Jakobspilger aus ähnlichen Gründen immer noch eine besondere Stellung ein.

Aus diesem Grund hat die EU-Kommission 1987 den Jakobsweg zum 1. Kulturweg Europas ernannt und fördert ihn seitdem. Die UNESCO ernannte ihn zum Erbe der Menschheit. Denn wenn wir wollen, daß Europa zusammenwächst, dann brauchen wir eine europäisierende Spiritualität. Die Kommission war sich bewußt, daß nichts diese so nachhaltig liefern kann, wie der Jakobsweg. Rom und Jerusalem, die beiden anderen Pilgerziele des katholischen Christentums haben diese Wirkung nicht.

[...]


[1] Vgl. Katherine Walsh: Pilger, denen Santiago nicht genügte. Spätmittelalterliche Bußfahrten zum Purgatorium Sancti Patricii. In: Stadt und Pilger. Soziale Gemeinschaften und Heiligenkult. Hg. Klaus Herbers, Tübingen 1999

[2] Yves Bottineau, „Les Chemins de Saint Jaques“ Paris 1183. Dt. : Der Weg der Jakobspilger. Geschichte, Kunst, Kultur der Wallfahrt nach Santiago de Compostela; Bergisch Gladbach, 1992

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Der Jakobsweg als mystischer Lehrpfad
Untertitel
Vom tieferen Sinn des Pilgerns
Autor
Jahr
2012
Seiten
17
Katalognummer
V193364
ISBN (eBook)
9783656184959
ISBN (Buch)
9783656185277
Dateigröße
458 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Vortrag aus dem Jahr 2004. Der Autor schrieb seine Doktorarbeit über die Entstehungsgeschichte des Jakobsweges. 1975 war er selbst als Pilger unterwegs. Er gilt als Experte der Geschichte und Spiritualität des Jakobsweges. Jährlich führt er mehrere Reisegruppen über den Jakobsweg.
Schlagworte
Jakobsweg, Mystik, Philoophie, spiritualität, Geschichte, Läuterung, mystischer Tod, Wandlung, Auferstehung, Kulturweg Europas, Erbe der Menschheit, Compostela, Satori, Santiago
Arbeit zitieren
Michael Vogler (Autor:in), 2012, Der Jakobsweg als mystischer Lehrpfad , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/193364

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