In dieser Arbeit werden die Freiheitsbegriffe von Hannah Arendt und Karl Marx gegenübergestellt und verglichen. Dabei werden Struktur, Bedeutung und innerer Kontext beider Konzeptionen herausgearbeitet. Marx' Freiheit setzt sich explizit von der bürgerlichen Freiheit ab, ist umfassender als diese. Freiheit kann es für den Menschen erst in der kommunistischen Gesellschaft geben, in der der Mensch zu sich selbst findet. Arendts Freiheitsbegriff dagegen basiert auf freiheitlichen Grundrechten, geht aber ebenfalls weiter und ist umfassender. Freiheit bei Arendt ist eine Freiheit des Individuums, das sich in der Gemeinschaft selbst findet. Im ergebnisoffenen Handlungsprozess kommunizieren Menschen, unterbrechen Prozesse und stoßen neue an. Die Eigenheit des jeweiligen Individuums ist Bedingung für die Selbstverwirklichung in der Gemeinschaft.
Resultat der Untersuchung ist, dass Arendt und Marx zwar teils gegensätzlich bis antagonistisch zueinander stehen, dass ihre Theorien sich aber gleichzeitig wechselseitig ergänzen und gegenseitige blinde Flecken aufzeigen.
Inhalt
1. Einleitung
2. Abriss der Geschichte des Freiheitsbegriffs
3. Karl Marx' Begriff der Freiheit
3.1 Marx' politische Philosophie
3.2 Kritik der kapitalistischen Produktionsweise
3.3 Kritik des bürgerlichen Freiheitsbegriffs
3.4 Freiheit bei Karl Marx
4. Hannah Arendts Begriff der Freiheit
4.1 Leben und Werk
4.2 Totalitarismus: Die radikalste Negation der Freiheit
4.3 Vita Activa
4.4 Freiheit bei Hannah Arendt
5. Diskussion: Arendt vs. Marx
5.1 Arendts Kritik an Marx
5.2 Marx' mögliche Kritik an Arendt
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
"Freeing yourself was one thing; claiming ownership of that freed self was another." -Toni Morrison
1. Einleitung
Wenige Begriffe haben so sehr die Herzen und die Geschichte bewegt wie der Begriff der Freiheit. Freilich kann der Begriff der Freiheit dabei ganz unterschiedlichen politischen Ideen und Idealen als Projektionsfläche dienen. Sowohl die französische Revolution, als auch die Sprache der Nationalsozialisten beschworen die Freiheit als ihre wegweisende Fackel. Auch heute, in Zeiten des vielbesagten „arabischen Frühlings“ fungiert der Freiheitsbegriff als Antriebsmotor, als Kompassnadel und Pol der Aktivisten1. Selbst religiöse Bewegungen, die nicht explizit politisch orientiert sind, preisen die Freiheit, die durch ihren Glauben erfahrbar werden soll. Und in dem George W. Bush die Freiheit zum Leitmotiv des War on Terror wählte benannte er gleichzeitig das zentrale Identifikationsund Distinktionsmerkmal der westlichen Kultur. Die Freiheit ist also ein zentraler, aber um so umstrittener Begriff. Er eignet sich vorzüglich dafür, eine positive Gegenvision zu einem als unerträglich empfundenen Dasein zu evozieren. Gerade darum liegt es nahe, dass die beiden „Theoretiker der menschlichen Misere“2, Karl Marx und Hannah Arendt, auf die eine oder andere Weise ein besonderes Verhältnis zur Freiheit haben. Tatsächlich ist er, sowohl für Marx' als auch für Arendts Theorie zentral. Beide Denker befassen sich mit politischen Themen, und entwickeln insofern auch einen politischen Freiheitsbegriff. Der Besprechung von Marx' und Arendts Freiheitsverständnissen und ihrem Verhältnis zueinander soll ein kurzer Abriss der Geschichte des Freiheitsbegriffs vorangestellt werden, der auch einige begriffliche Präzisierungen beinhaltet. Anschließend soll Marx' und Arendts Freiheitsbegriffe im Kontext ihrer Gesamtwerke konturiert werden.
Man kann Arendts Freiheit als Antithese der Freiheit von Marx sehen, zumal v.a. in Zeiten des kalten Krieges Arendts Begrifflichkeiten als Waffe gegen den „sozialistischen“ Ostblock genutzt wurde. Ich verfolge die Leitidee, dass Arendts Konzeption der von Marx zwar in vielen Punkten antagonistisch gegenübersteht, aber dass die Vorstellung einer reinen Antithese dem nicht gerecht wird. Vielmehr ergänzen sich beide Theorien an zentralen Stellen, weisen auf gegenseitige Widersprüche und blinde Flecken hin.
2. Der Begriff der Freiheit
In der griechischen Polis und der römischen Republik vollzogen sich politische und soziale Veränderungen immer auch im Medium politischer Öffentlichkeit. Darum war das Wort eine wichtige Waffe. Gerade der Begriff der Freiheit wurde schon damals vielfach und von allen Parteien für die jeweiligen Ziele eingesetzt. Die Spartaner zogen in den Peloponnesischen Krieg für die „Freiheit“ des aus ihrer Sicht von Athen geknechteten Sparta. Cäsar präsentierte sich als Vorkämpfer für die Freiheit. Die Parole wurde aber auch von seinen Mördern gewählt. Die Kaiser stellten sich selbst als Garanten der Freiheit dar, ihre Gegner sahen sie als Feinde der Freiheit3. Freiheit war also schon in der Antike ein umstrittenes und vielseitig umkämpftes Schlagwort. Ein zentrales Aspekt war aber allen Deutungen gemeinsam: Die Unterscheidung von Freiheit und Knechtschaft. Freiheit bedeutet in diesem Sinn immer auch eine Freiheit von Zwang, Fremdherrschaft und Not. Bei den Griechen und Römern wurde i.d.R. die Freiheit auf einen bestimmten Trägerkreis begrenzt. In der attischen Demokratie konnten bspw. nur erwachsene Männer frei sein. Frauen, Kinder und Sklaven galten als unfrei. Arbeit war Sache der Sklaven. Es gab aber auch damals schon Argumentationen, die in Richtung eines universalistischen Verständnisses von Freiheit liefen. Alkidamas sagte: Gott hat alle Menschen freigelassen; die Natur hat niemanden zum Sklaven gemacht.“4 Diese Freiheit kommt also allen Menschen gleichermaßen zu. Mit dem Untergang republikanischer Freiheit tröstete man sich dort gerne mit der unantastbaren 'inneren Freiheit'. Selbst bis zu den Sklaven sind diese Gedanken vorgedrungen. Allein der galt nach dieser Anschauung als frei, der sich aus allen Abhängigkeiten löste - seien sie politisch, sozial oder natürlich - und diese Außenwelt für unwesentlich erklärt. Dies impliziert aber auch die Marginalisierung des Kampfes für äußere Freiheit, beispielsweise der Abschaffung die Sklaventums, da diese äußeren Umständeja unwesentlich seien. Diese Anschauung stimmt mit der christlichen Anschauung überein, wie sie später etwa Thomas von Aquin lehrte. Frei seien zwar alle Menschen, aber nur vor Gott. Wahre Freiheit war das frei sein von Sünde und Tod5. Darum zieht sich die Dominanz des inneren Freiheitsbegriff bis in das Mittelalter hinein. Hier wurden der partikulare Freiheitsbegriff, in dem es darum ging, bestimmte Privilegien und Rechte eines Standes oder ein Zunft zu verteidigen, und der universale gleichermaßen dominant6. Letzterer wurde durch die christliche Tradition verbreitet, bezog er sich aber eher auf die „innere Freiheit“ vor Gott7. Auch im Mittelalter wurde die Freiheit als Kampfbegriff in politischen und religiösen Konflikten verbreitet. Die Jahre der Bauernbefreiung mögen hier als nur ein besonders bekanntes Beispiel unter vielen dienen.
Zu Zeiten der Aufklärung bekam die Idee eines universalen Freiheitsbegriffs starken Auftrieb8. Gerade die Offenheit des Begriffs kann als Grund für seine Mobilisierungskraft angesehen werden9. Bei Kant steht die Freiheit im Zentrum des Menschseins an sich, nämlich als die Fähigkeit vernunftgemäß zu handeln. Sich für oder gegen seine Bedürfnisse entscheiden zu können, macht somit Freiheit aus. Dies wird auf der politischen Ebene erweitert, als der Würde des Menschen, der politisch entsprochen werden muss10. Auch Hegel war begeisterter Verfechter von Freiheit und Gleichheit. Er versteht den Lauf der Geschichte als Entwicklung des Begriffs der Freiheit11. Sehr stark wurde ab dieser Zeit der Begriffs der Freiheit als Rechtsgleichheit, und mit ihm verschiedene bürgerliche Emanzipationsbewegungen. Gleichzeitig ertönte auch scharfe Kritik an diesem bürgerlichen Freiheitsbegriff, da die reine Rechtsgleichheit nicht die Abhängigkeiten der Menschen von Ressourcen in Betracht zieht12, was die „Freiheit“ aus dieser Sicht zur Farce macht. Auch in den Bewegungen und Konflikten des 19. und 20. Jahrhundert war die Freiheit ein Kampfbegriff, namentlich der kalte Krieg, in der die Freiheitsfrage ins Zentrum der Auseinandersetzungen rückte. Ein bekannte und einflussreiche begriffliche Unterscheidung machte Isaiah Berlin, nämlich die zwischen positiver und negativer Freiheit13. Negative Freiheit bezeichnet die „Freiheit von“, also das frei sein von äußeren und inneren Zwängen. Positive Freiheit bezeichnet die „Freiheit zu“ etwas, beispielsweise der Freiheit zu bestimmten Rechten.
3 Karl Marx' Freiheitsbegriff 3.1 Karl Marx' politische Philosophie
Karl Marx (1818 - 1883) war Philosoph, Ökonom, Gesellschaftstheoretiker und Protagonist der Arbeiterbewegung. Seine kontrovers diskutierte Arbeit entstand im Frühkapitalismus, in dem die Entwicklung der Produktivität oftmals im krassen Gegensatz stand, zum erschreckenden Los, beispielsweise der englischen Arbeiterschaft, die er vor Ort studierte14. Gemeinsam mit Friedrich Engels gilt er als Begründer des Marxismus15, und gilt damit als wichtigster Theoretiker des Sozialismus und des Kommunismus. Auch die sowjetrussische Ideologie berief sich auf den Marxismus als ihre Grundlage. Marx erarbeitete die Theorie des Historischen Materialismus, nach der die Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen verstanden wird16 ’. Als Ursache dieses zwangsläufigen Geschichtsprozesses wird die dialektische Spannung zwischen den Produktionsverhältnissen und den Produktivkräften angesehen. Damit verstand sich der Historische Materialismus als Überwindung des Idealismus Hegels, für den der Geist die Geschichte bewirke17.
Der Historische Materialismus gab seiner vielschichtigen Analyse und Kritik der kapitalistischen Produktionsweise die theoretische Grundlage. Die kapitalistische Produktionsweise sei die derzeitige Produktionsweise in diesem historischen Prozess, und die letzte Periode vor der Weiterentwicklung zum Sozialismus18. Sie zeichnet sich primär durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln aus. Der Antrieb für die privaten Warenbesitzer zu produzieren, ist die private Aneignung des Mehrwerts, der durch die Verwertung der Ware Arbeitskraft entsteht. Diese ist ohne Ausbeutung nicht denkbar, wie Marx zu Beginn seines Kapital I in der Untersuchung der Ware analysiert. Daraus leitet sich ab, dass Ausbeutung nicht eine Extremform der kapitalistischen Produktionsweise ist, sondern ihr Bestandteil. Marx arbeitet, von dieser Analyse ausgehend, verschiedene kapitalistische Gesetzesmäßigkeiten heraus. Zum einen entstehen zwei gesellschaftliche Klassen mit antagonistischen Interessen. Die Klasse der Bourgeoisie und die Arbeiterklasse, deren Verhältnis durch Zwang19 und Unterdrückung20 gekennzeichnet sei. Das Prinzip der
Verwertung der Ware Arbeitskraft durch die Kapitalisten sowie die Konkurrenz der isolierten Warenproduzenten erzeugen die Dynamik und den Zwang, den erwirtschafteten Mehrwert wieder zu kapitalisieren21. Dies erzeugt verschiedene Problematiken, u.a. eine Tendenz zu grenzenlosem Wachstum und zur fortschreitenden Ausdehnung der kapitalistischen Verwertungslogik auf alle Lebensbereiche. Besonders im Zusammenhang mit der Konkurrenz der vereinzelten Warenproduzenten entsteht eine Tendenz zur Verelendung der Arbeiterklasse22. Die „Anarchie der Produktion23 “ erzeuge konjunkturelle Krisen und Umweltzerstörung. Die Tatsache, dass die Arbeit der Arbeiterklasse, als eigentliche Lebensäußerung, zu einer „fremden Macht“ wird, die sich gegen sie wendet, wird von Marx als „Entfremdung“ des Menschen vom eigenen Wesen24 bezeichnet.
3.2 Marx' Kritik des bürgerlichen Freiheitsbegriffs
Der Begriff der Freiheit kann für Marx’ Philosophie als zentral angesehen werden25. Anders als etwa in den politischen Theorien antiker Philosophen bildet die Freiheit aber keine primär ethische oder moralische Kategorie. Freiheit im marxschen Sinne ist weitgehend teleologisch zu interpretieren. Sie bildet das historische Ziel und die Bestimmung der Menschheit. Diesen Freiheitsbegriff, den Marx in vielen seiner Texte mehr oder weniger deutlich konturiert, grenzt er vom bürgerlichen Freiheitsbegriff liberaler Prägung ab. Zwar gilt der sogenannte „junge Marx“ zunächst als Erbe der Französischen Revolution, bald wird er aber zum energischen Kritiker ihres Freiheitsverständnisses26. Der „bürgerliche Freiheitsbegriff“ wurde bevorzugtes Ziel von Ironisierungen und scharfer Kritik seinerseits. Das zeigt sich schon bei seinem Begriff des „doppelt freien Lohnarbeiters“, einer ironischen Bezeichnung von Marx für die nach der bürgerlichen Revolution entstandene Lage der Arbeiter.
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1 Aus Gründen besserer Lesbarkeit wird in diesem Text die „klassische“ männliche Form benutzt werden. Außerdem werden alle Zitate nach neuer Rechtschreibung umgeschrieben.
2 Ring (1989): 447.
3 Vgl.: Schlumbohm (1973): 8ff.
4 Ebenda: 11
5 Ebenda:12f. Auch gab es natürlich auch unter Christen dieser Interpretation gegenläufige Strömungen. Die Haupströmung aber wird hier beschrieben.
6 Der politische Freiheitsbegriff wurde zunehmend vielfältiger, da der damalige Ständeaufbau deutlich komplexer war. Es wurde beispielsweise zwischen adligen hochfreien und freien Bauern unterschieden, zwischen ererbter Urfreiheit und verliehenen. Vgl.: Ebenda
7 Vgl.: Schlumbohm (1973): 14f.
8 Vgl.: Bluhm (2007): 373
9 Ebenda: 374
10 Pfortden (2006): 11
11 Die Darstellung von Hegels Freiheitsbegriff wäre für den Rahmen dieser Arbeit zu aufwändig. Er ist aber auch für die Darstellungen nicht nötig, nur interessant.
12 Vgl.: Schönbohm (1973): 55f.
13 Allerdings wurde diese Unterscheidung schon vor ihm gemacht. Einflussreich wurde seine Arbeit wohl eher wegen weiterführender Gedanken. Vgl.: Stanford Encyclpedia ofPhilosophy, postive and negative freedom.
14 Vgl.: Karl Marx - MEW 9: 472-475
15 Ob Marx selbst „Marxist“ war oder nicht, wird vielfältig diskutiert. Es lässt sich aber sagen, dass die Thesen der marxistischen Bewegung stark vereinfacht sind (Vgl.: Unterscheidung zwischen „exoterischen und esoterischen Marx bei: Kurz (2000): 17ff.
16 Marx/Engels: (1983): 10
17 Auf den enormen Einfluss Hegels auf Marx' Philosophie kann im vorliegenden Rahmen leider nicht eingegangen werden.
18 Vgl. Marx: MEW42: 75
19 Vgl.:Marx_ MEW 25, 827. Das Wesen der Arbeit bleibe im Kapitalismus immer Zwangsarbeit.
20 „Eine unterdrückte Klasse ist die Lebensbedingung jeder auf Klassengegensatz begründeten Gesellschaft. Die Befreiung der unterdrückten Klasse schließt also notwendigerweise die Schaffung einer neuen Gesellschaft ein. ... Heißt dies, dass es nach dem Sturz der alten Gesellschaft eine neue Klassenherrschaft geben wird, die in einer neuen politischen Gewalt gipfelt? Nein. Die Bedingung der Befreiung der arbeitenden Klasse ist die Abschaffung jeder Klasse.“ Marx, Karl: MEW 4:181f.
21 Vgl.: Marx: MEW23:640ff.
22 Vgl.: Marx: MEW 23: 674 f.
23 „Gesetzmäßige Erscheinung der Planlosigkeit der kapitalistischen Wirtschaft als Gesamtprozeß, besonders in der Periode der freien Konkurrenz.“ Aus: http://www.wirtschaftslexikon24.net
24 „Lohnarbeit [als die spezifisch kapitalistische Form der Arbeit(Anmerkung HH)] ist sich selbst entfremdete Arbeit, der der von ihr geschaffene Reichtum als fremder Reichtum, ihre eigene Pro-duktivkraft als Produktivkraft ihres Produkts, ihre Bereicherung als Selbstverarmung, ihre gesellschaftliche Macht als Macht der Gesellschaft über sie entgegentritt. Vgl.: Marx: MEW 26.3: 255.
25 Vgl.: Bluhm (2005): 57
26 Ehlen (1998): 323
- Arbeit zitieren
- H. Hamade (Autor:in), 2011, Der Begriff der Freiheit bei Karl Marx und Hannah Arendt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/193936