Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Definition zentraler Begriffe
3. Die Verdrängungsthese
3.1. Stützung der Verdrängungsthese
3.2. Kritik an der Verdrängungsthese
3.3. Fazit
4. Die Funktion von Trauerritualen
5. Traditionelle Trauerrituale im Kulturvergleich
6. Trauerrituale in der modernen Gesellschaft
6.1. Bestattung in Deutschland
6.2. Der rituelle Gehalt moderner Trauerrituale
6.3. Die Bestattung- nur noch ein Ritualismus?
7. Ausnahmesituationen
8. Schlussfolgerungen
Bibliographie
1. Einleitung
Die Frage nach der Ritualisierbarkeit von Trauer in der modernen Gesellschaft scheint sich zunächst gar nicht zu stellen. Denn es gibt offensichtlich auch in modernen Gesellschaften Abläufe und Zeremonien, die jeder mit Trauer und Tod in Verbindung bringt, beispielsweise die Beerdigung. Das soll in dieser Arbeit auch gar nicht bezweifelt werden. Vielmehr geht es darum, herauszufinden, inwiefern diese Zeremonien als Rituale bezeichnet werden können, also inwieweit sie verbindlichen und verbindenden Charakter haben. Dabei werden Ansätze eine Rolle spielen, die den Gedanken unterstützen, dass Trauer in der modernen Gesellschaft nicht (mehr) ritualisiert werden kann: Die Individualisierungs- und die Verdrängungsthese. Der Vergleich mit traditionellen Trauer- und Bestattungsritualen wird es dann ermöglichen, die Ritualisierbarkeit von Trauer in modernen Gesellschaften zu überprüfen. Als Einstieg in die Thematik sollen aber im Folgenden zunächst die zentralen Begriffe definiert und voneinander differenziert werden: Ritual- Ritus- Ritualisierung- moderne Gesellschaft.
2. Definition zentraler Begriffe
Gerade „Ritual“ und „Ritus“ werden häufig synonym verwendet. Für eine tiefgründige Analyse ist es aber wichtig, zwischen beiden Begriffen zu unterscheiden. Das Ritual kann umschrieben werden als „Technik zur Bewältigung der Allgemeinheiten und Besonderheiten des Alltags“ (Weis 2003: 285). In der dieser Arbeit zu Grunde gelegten Definition von Ritual soll außerdem die Wiederholung, die Anzahl der Teilnehmer, der symbolische Gehalt und die Abgrenzung vom Alltäglichen eine Rolle spielen. So wird vorausgesetzt, dass es sich bei einem Ritual um eine Technik handelt, welche in bestimmten Situationen immer wieder angewendet wird. Gerade die Wiederholbarkeit bietet die Möglichkeit der einfachen Bewältigung wiederkehrender, schwieriger oder ungewohnter Situationen. Die Teilnehmerzahl soll zumindest größer eins sein, im Idealfall aber sogar alle Mitglieder einer sozialen Gruppe umfassen. Ein Ritual kann dementsprechend nicht individuell sein. Das Ritual muss einen symbolischen Gehalt haben, welcher allen Teilnehmern bewusst ist, was zugleich die Abgrenzung vom Alltäglichen gewährleistet.
Das tägliche Zähneputzen würde in der gegebenen Definition kein Ritual darstellen und auch die individuelle Trauerarbeit eines einzelnen nicht. Rituale sind dazu da, Verhaltenssicherheit zu bieten (vgl. Weis, 2003: 286), besonders in ungewohnten oder außeralltäglichen Situationen. Darunter fällt der Todesfall, welcher bei der Auseinandersetzung mit Trauerritualen in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen soll. Dies hat den Grund, dass ein Todesfall ein greifbarer Moment ist, der sich gut analysieren lässt und zumeist mehrere Personen, Angehörige und Bekannte, betrifft. Demnach lassen sich an dem Beispiel der Trauerarbeit wiederkehrende Abläufe besser erkennen als an anderen Trauerbewältigungsprozessen, beispielsweise die nach einer Trennung. Die Trauer nach einem Todesfall soll mit Hilfe eines Rituals in bestimmte Bahnen gelenkt werden (vgl. Schäfer, 2002: 8). Damit kann verhindert werden, dass sich Individuen aus ihrem sozialen Umfeld zurückziehen und desintegrieren.
Der Ritus stellt dann die konkrete Umsetzung des Rituals dar: Zeremonien, Bräuche und ähnliches. Riten sollen dabei helfen, Veränderungen oder Interaktionsabbrüche zu bewältigen und eine Reintegration nach Krisen erleichtern (vgl. Weis, 2003: 288). Die Abgrenzung von Ritual und Ritus fällt allerdings schwer, da die Übergänge fließend sind. Die Ritualisierung bezeichnet den Vorgang, dass Verhaltensweisen in gewisser Weise standardisiert werden, häufig in Verbindung mit Musik, Tanz, Verhaltensabfolgen.
Zuletzt noch ein paar Worte zum Begriff der „modernen“ Gesellschaft. Im Zusammenhang dieser Arbeit ist die moderne Gesellschaft in Abgrenzung zur traditionalen zu sehen. Der Übergang wurde vor allem durch Industrialisierung, Urbanisierung, Säkularisierung und Individualisierung geprägt. Im Allgemeinen sind damit all jene Gesellschaften gemeint, die zur „westlichen Welt“ zählen, also hauptsächlich Europa und Nordamerika.
3. Die Verdrängungsthese
Bereits 1955 veröffentlichte der englische Soziologe Geoffrey Gorer einen Essay mit dem aufsehenerregenden Titel „Pornography of Death“. Darin schildert er, dass der Tod und das Sterben im 20.Jahrhundert ähnlichen Tabucharakter haben wie im 19.Jahrhundert Sexualität und die Geburt.
Durch die verbesserten medizinischen Standards wird der Tod aus dem Bewusstsein der jüngeren Bevölkerung nahezu komplett verdrängt und zu einem relativ unwahrscheinlichem und seltenem Ereignis (vgl. Gorer 1955: 51). Der Tod wird dadurch zu etwas Unaussprechlichem und Abstoßendem (vgl. Schäfer, 2002: 12): er wird aus der Gesellschaft verdrängt. Dabei handelt es sich nicht um eine Verdrängung auf individueller Ebene, sondern betrifft eher die soziale Struktur (vgl. ebd.: 17). Auch Norbert Elias erörtert diese Entwicklung, für ihn stellt die Verdrängung des Todes eine Begleiterscheinung des abendländischen Zivilisationsprozesses dar (vgl. Elias, 1982: 56f). Die Möglichkeit, affektiv auf emotionale Ereignisse, wie der Tod eines ist, zu reagieren, wird immer geringer. Ab dem Punkt, wo der Tod tabuisiert wird, gibt es kaum noch eine Möglichkeit, sich offen und unvoreingenommen darüber auszutauschen. Das kann dazu führen, dass sich Betroffene zurückziehen und sich mit ihrer Trauer alleingelassen fühlen.
3.1. Stützung der Verdrängungsthese
Zahlreiche Abläufe im Umgang mit dem Tod können die These der Verdrängung des Todes unterstützen (vgl. Schäfer 2002: 21ff). Dazu zählt vor allem, dass Personen, welche im Sterben liegen, oft aus ihrem privaten Umfeld herausgerissen werden. Der Tod im Krankenhaus oder in einer sonstigen medizinischen Einrichtung ist der Normalfall. Er wird also vom Rest des Lebens separiert, Sterbende depersonalisiert und isoliert. Der Tod wird zunehmend nicht mehr als natürliches Phänomen angesehen. Gerade bei jungen Sterbenden wird vielmehr ärztliches Versagen unterstellt. Besonders bei unvorhergesehenen Todesfällen, beispielsweise Fehlgeburten, wird alles daran gesetzt, den Leichnam schnell und vor allem professionell zu „entsorgen“. So werden Fehlgeburten oder tote Säuglinge nur auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern zur Beerdigung frei gegeben. Andernfalls landen sie in einer dafür vorgesehenen Mülltonne.
Bauman prägte den Begriff der „Dekonstruktion der Sterblichkeit“: der Tod scheint einerseits zu einer heilbaren Krankheit zu werden, während er andererseits zum alltäglichen Alptraum wird. Denn durch die Verdrängung und die vielfältigen Möglichkeiten, Todesursachen zu bekämpfen wird die Begegnung mit dem Tod noch gefürchteter (vgl. Bauman 1994: 207ff).
Die ewige Jugend wird das Ziel, die Illusion der Unsterblichkeit immer glaubwürdiger vermittelt. Zahllose Anti-Ageing Produkte versprechen, den Prozess des Alterns zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen. Der Tod ist nicht länger ein natürliches Ereignis, genauso wie die Geburt, sondern er wird zum Feind, welchen man mit allen Mitteln zu bekämpfen versuchen muss. Falls er dann doch eintritt, sollte er möglichst „vertuscht“ werden. Die Trauerarbeit findet zumeist „im Stillen“ statt. Dazu trägt auch der Individualisierungsprozess in der modernen Gesellschaft bei. Charakteristisch für die moderne Gesellschaft ist vor allem das vernunftsbestimmte, rationale Handeln. Traditionale Sozialbindungen wurden zugunsten individueller Autonomie aufgelöst (vgl. Schäfer 2002: 14). Diese Entwicklung kann ambivalent gesehen werden. Zum einen führt sie zu größerer (sozialer) Mobilität und Entscheidungsmöglichkeiten nehmen zu.
Andererseits kann gerade darin eine Gefahr bestehen, nämlich dann, wenn das Individuum nicht selbstbewusst genug ist, um mit den errungenen Freiräumen umzugehen. Die Gefahr besteht in der Desorientierung und demzufolge der Isolation, der Abgrenzung von der Gesellschaft und dem Gefühl, nicht dazuzugehören. Bereits Durkheim beschrieb diese Gefahr am Übergang von der Gemeinschaft zu Gesellschaft, wenn die Menschen mit den neu gewonnenen Möglichkeiten überfordert sind und ihnen die Orientierungspunkte genommen werden.
3.2.Kritik an der Verdrängungsthese
Alleine aufgrund der mangelnden empirischen Belege kann die Verdrängungsthese nicht pauschalisiert werden. Unstrittig ist, dass es regionale und auch schichtspezifische Unterschiede im Umgang mit Tod und Trauer gibt. Nicht für alle ist die Unsterblichkeit der größte Wunsch. Spätestens, wenn sie mit schwerer Krankheit oder großen Problemen konfrontiert werden, ist der Tod hin und wieder ein herbeigesehntes Ereignis.
Doch trotz aller Individualisierung wird dem Menschen die Verantwortung für sein eigenes Leben nicht vollständig zugestanden: Das Verbot der Sterbehilfe ist aktuell eines der umstrittensten Themen in Deutschland. Menschen, die sich den Tod als Erlösung vorstellen, werden in dem Wunsch, zu sterben, nicht unterstützt.
Der Gedanke, dass man sich den Tod aus tiefstem Herzen wünscht, um sein Leiden zu beenden, scheint an dieser Stelle nicht vertretbar. Stattdessen werden künstliche lebenserhaltende Maßnahmen eingeleitet, die das Leben erhalten sollen.
3.3.Fazit
Es gibt gute Argumente für die Verdrängungsthese, besonders in Verbindung mit den stattgefundenen Individualisierungsprozessen. Es scheint schlüssig, die Verdrängungsthese auf bestimmte Bereiche der Trauer zu beschränken. Besonders der direkte Umgang mit den Sterbenden und die Rituale unmittelbar nach dem Tod und in der Trauerphase sind davon betroffen (vgl. Feldmann 1990: 88f). Die Schwierigkeit der Ritualisierbarkeit von Trauer in der modernen Gesellschaft wird also durch die Verdrängungsthese bestätigt. Auch die Individualisierung untergräbt einen zentralen Bestandteil von Ritualen: die kollektive Durchführung.
Dennoch soll im Folgenden die Funktion von Trauerritualen betont und ihre Wichtigkeit hervorgehoben werden. Im Anschluss werden kurz Trauerrituale traditioneller Kulturkreise beleuchtet, um die Möglichkeiten der Ritualisierung von Trauer zu unterstreichen. Daran anschließend soll verglichen werden, inwiefern sich diese Strukturen in der Trauerbewältigung moderner Gesellschaften wiederfinden lassen.
4. Die Funktion von Trauerritualen
Arnold von Gennep folgend stellen Trauerrituale, insbesondere aber die Bestattung, sogenannte Übergangsriten1 dar. Außeralltägliche und unerwartete Situationen wie ein Todesfall stören das soziale und individuelle Leben eines Menschen (vgl. Van Gennep 1999: 23). Übergangsriten sollen diese Störung abschwächen und die Reintegration des Individuums fördern. Van Gennep gliedert einen Übergangsritus in drei Stufen: Trennung, Umwandlung und Angliederung. (vgl. ebd.: 21) All diese Stufen müssen erfolgreich genommen werden, um den Tod eines Menschen verarbeiten zu können. Ein Trennungsritus leitet die Trauerphase ein.
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1 Van Gennep unterscheidet in seiner rbeit nicht zwischen „Ritual“ und „Ritus“. Demnach werden beide Begriffe in diesem Abschnitt synonym verwendet.