Die nationalsozialistische Ideologie im Deutschunterricht der Volksschulunterstufe


Magisterarbeit, 2012

116 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis:

Abkurzungsverzeichnis

1. Thematische Einfuhrung
1.1 Zielsetzung und zentrale Fragestellung
1.2 Forschungsstand, Quellen, Methodik

2. Vorgeschichte
2.1 Die Volksschule im Kaiserreich
2.2 Das Schulsystem in der Weimarer Republik

3. Leitgedanken nationalsozialistischer Ideologie

4. Erziehungstheorien im Nationalsozialismus
4.1 Hitlers Ideale
4.2 Ernst Krieck
4.3 Alfred Baeumler
4.4 Vergleichende Zusammenfassung

5. Machtergreifung und Zugriff auf die Volksschule
5.1 Veranderungen des Schulsystems
5.2 Lehrerbildung
5.3 Richtlinien, Lehr- und Stundenplane 1933-1937
5.4 Die Reichsrichtlinien fur die unteren vier Jahrgange der Volksschule
Exkurs: Herrschaftsstruktur im NS - eine Debatte

6. Fibeln im Dritten Reich
6.1 Funktionen und Merkmale
6.2 Fibelbearbeitung ab 1933
6.3 Merkmale der untersuchten Fibeln

7. Fibelanalyse
7.1 Hermeneutik
7.2 Das Fuhrerbild
7.2.1 Motive des Fuhrerbildes in der NS-Propaganda
7.2.2 Die Vermittlung des Fuhrerbildes
7.2.3 Zusammenfassung
7.3 Das Fuhrungsprinzip
7.3.1 Die Vermittlung des Fuhrungsprinzips
7.3.2 Zusammenfassung
7.4 Die Volksgemeinschaft
7.4.1 Die Vermittlung der Volksgemeinschaft
7.4.2 Zusammenfassung
7.5 Die Rassenideologie
7.5.1 Die Vermittlung der Rassenideologie
7.5.2 Zusammenfassung
7.6 Lebensraumideologie

8. Schlussbetrachtung
8.1 Ergebnisse
8.2 Wiederbeginn

Quellen- und Literaturverzeichnis

Verzeichnis verwendeter Fibeln

Literatur

Abbildungsverzeichnis:

Abbildung 1: Darstellung Hitlers als Kinderfreund bei Westermann und Diesterweg

Abbildung 2: Hitler in Uniform als strenger, ernster Mann

Abbildung 3: Hitler als Wachter uber Disziplin undFleifi

Abbildung 4: Darstellung des Fuhrungsprinzips in Text undBild

Abbildung 5: Fuhrung und Gefolgschaft unter Jungen der HJ

Abbildung 6: Deckblatt „Pimpf und Kuken“, Gefolgschaft bei Jungpimpfen

Abbildung 7: Fuhrung und Gefolgschaft im kindlichen Spiel

Abbildung 8: Ein NSV-Mann sammelt auf der Strafie Geld und Hilfspakete ein

Abbildung 9: Gleichartigkeit bei der Darstellung von Pimpfen undHitlerjungen

Abbildung 10: Typenhafte Darstellung von BDM-Madels und Jungmadel

Abbildung 11: Rassisch nicht interpretierbare Zeichnung der Kinder bei Westermann

Abkurzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Thematische Einfuhrung

1.1 Zielsetzung und zentrale Fragestellung

Um die Zukunft und Weiterentwicklung der nationalsozialistischen Bewegung sicherzu- stellen, handelte auch die Padagogik ab 1933 nach den Vorgaben des Regimes. Die Jugendlichen wurden in verschiedenen Schultypen NS-konform erzogen und ausgebil- det und die Machthaber schickten sie fruhzeitig an die Front oder zu militarischen Einsatzen im Reich. Der Moglichkeit zur freien Selbstentfaltung beraubt, verloren sie nach 1945 den oftmals tief verinnerlichten Glauben an eine Welt aus kollektivistischen Werten, kritikloser Gefolgschaft und rassenideologischen Zielvorstellungen. Die Plane der Alliierten sahen vor, dass sie radikal umerzogen werden sollten, um den demokrati- schen Neubeginn zu garantieren. Die Sozialisation der ca. 18-Jahrigen war somit gepragt vom Bezugsrahmen der NS-Ideologie und vom biografischen Bruch nach Kriegsende.

Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach der Ideologisierung von Erziehung und Padagogik im Dritten Reich nach. Anhand von 16 nationalsozialistischen Fibeln soll ermittelt werden, inwiefern die ideologischen Leitgedanken auch Teil der Grundschul- arbeit waren. Das Untersuchungsmaterial stammt aus dem Georg-Eckert-Institut fur internationale Schulbuchforschung in Braunschweig. Anhand dieses Samples wird untersucht, ob die ersten Lesebucher der ca. siebenjahrigen Schuler die konkreten politisch-ideologischen Intentionen des Regimes widerspiegeln. Zudem werden sie auf Manipulationstechniken hin analysiert, die das Erreichen der Erziehungsziele unterstutzen sollten. Auf diese Weise soll die Frage beantwortet werden, ob die Fibeln als ein Medium der totalen Ideologisierung und Indoktrination dienen konnten. Das Quellenmaterial stammt aus dem Zeitraum 1933 bis 1943 und wurde von den beiden Schulbuchverlagen Westermann und Diesterweg veroffentlicht. Neben der qualitativen Analyse der ideologischen Elemente in den kurzen Textpassagen und Illustrationen wird ein erster Vergleich zwischen den in Konkurrenz stehenden Verlagen angestrebt. Nicht untersucht wird der ideologische Einfluss auf den real stattfindenden Unterricht, sondern ausschliefilich die offiziellen Verordnungen und die Fibelinhalte.

Die vorliegende Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Nach einer kurzen Darstellung der Institution Schule im Kaiserreich und der Weimarer Republik werden die wesentlichen Leitmotive nationalsozialistischer Ideologie und die daraus resultierenden Veranderungen in der Padagogik ausgefuhrt. Die Machtergreifung im Bereich des Schulwesens wird anhand zahlreicher Erlasse und Richtlinien beschrieben; ebenso werden die Veranderungen auf dem Gebiet der Lehrerbildung in ihren wichtigsten Konsequenzen dargestellt. Den Schwerpunkt bilden die Analyse des Quellenmaterials und die Herausarbeitung der Ergebnisse nebst neuen Fragestellungen.

1.2 Forschungsstand, Quellen, Methodik

Die ersten wissenschaftlichen Arbeiten uber die Erziehung im Nationalsozialismus Ende der 1950er und 60er Jahre zeichnen das Bild eines Systems, das in seiner Totalitat einen Spiegel der gesamten Herrschaftsstruktur im Nationalsozialismus darstellte. Insbesondere Gamm und Stippel ubertragen die damalige Sichtweise einer monolithi- schen Machtstruktur auf ein Erziehungssystem, das konsequent und ohne Widerspruche die nationalsozialistische Ideologie vermittelte und s n der heranwachsenden Generation sicherstellte.[1]

Lingelbach hingegen kritisiert diese Position als methodisch nicht hinreichend unter- mauert: Es gebe keinen historischen Nachweis fur dieses monokausale Deutungsmuster. Die Erziehungsarbeit sei mitnichten als eine „konsequente Verwirklichung einer geschlossenen politisch-padagogischen Konzeption zu begreifen“[2]. Vielmehr handelte es sich um ein Spannungsfeld aus divergierenden Interessen einzelner Machte und deren Konkurrenzkampfen untereinander. In diesem Geflecht von Abhangigkeiten konkurrierten neben der Erziehungswissenschaft auch die Institution Schule, die Lehrer bzw. das Ausbildungssystem und die auberschulischen Organisationen. Es ist Lingelbachs Verdienst, die wesentlichen padagogischen Grundannahmen sowie die Macht der auBerschulischen Jugendorganisationen als wichtige Einflussfaktoren auf ein sich permanent veranderndes Erziehungssystem herausgestellt zu haben.

Einen wichtigen Beitrag leistet daruber hinaus Flessau in seiner Habilitationsschrift „Schule der Diktatur“. Aus ebenfalls totalitarismustheoretischer Perspektive untersucht er zahlreiche Schulbucher sowie offizielle Richtlinien und findet hierbei Belege fur eine konsequente Ideologisierung des Erziehungssystems[3]. Gotz kritisiert dieses Deutungs- muster. Sie stellt in ihrer Untersuchung uber die innere Ausgestaltung der Grundschule eine breite Materialbasis bestehend aus Verordnungen zur Verfugung, die einen anderen Schluss nahelegen. Demnach beruhte das Bildungssystem des Nationalsozialismus nicht auf einer konsequenten und einheitlichen Ideologisierung, sondern sei vielmehr gepragt gewesen von Uneinheitlichkeit und Diskontinuitat und sei raumlich sehr unterschiedlich mit ideologischen Inhalten durchdrungen. Eine systematisch oder planvoll verlaufende Indoktrination lasse sich nicht erkennen.[4]

Keines der viel zitierten Werke uber die Erziehung im Nationalsozialismus beschaftigt sich ausschlieBlich mit Schulbuchern der Volksschule. Erst Thiele widmet sich in seiner Dissertation den Fibeln der spater ausschlieBlich als Grundschule bezeichneten unteren vier Jahrgange. Vor allem seine quantitative Auswertung von 124 Fibeln erlaubt einen Einblick in die Praxis der Schulbuchverlage.[5]Jedoch greifen seine qualitativen Deutungen nach Meinung des Autors nicht tief genug. Daher wird die vorliegende Arbeit der Frage nach der Ideologisierung der NS-Fibeln ausschlieBlich nach qualitati­ven Aspekten nachgehen. Hierbei soll ein interdisziplinarer Ansatz verfolgt werden: Erziehung im Nationalsozialismus kann nach Meinung des Autors nicht allein durch Kategorien aus der Geschichts- und Erziehungswissenschaft verstanden werden. Erkenntnisse aus der Psychologie bereichern einen mehrdimensionalen Erklarungs- ansatz und helfen das AusmaB einzelner MaBnahmen zur Indoktrination junger Schuler besser zu verstehen.

2. Vorgeschichte

2.1 Die Volksschule im Kaiserreich

Die wesentlichen Grundlagen des vielgliedrigen Schulsystems wurden durch die preufii- sche Schulpolitik im 18. und 19. Jahrhundert geschaffen. Seither haben die Themen Finanzen, Unterrichtsgestaltung und Dauer der Ausbildung in den verschiedenen Schul- typen nie an Aktualitat verloren. In der Folge wurde Deutschland trotz des starken kirchlichen Einflusses zum Schulstaat. Neben der Wehr- und Steuerpflicht gehorte auch die Schulpflicht zu den Aufgaben der Burger. Nie zuvor griff der Staat so tief in das Leben der Burger ein, beeinflusste die individuellen Lebenschancen der Menschen und formte mittels dieser Politik die Gesellschaft. Das Gymnasium wurde die Lehrstatte fur den Nachwuchs der gebildeten und privilegierten Minderheit; fur den Mittelstand bildete sich die Realschule heraus. Die Volkschule hingegen wurde von der grofien Mehrheit der Menschen besucht. Auf diese Weise wurde die soziale Trennlinie im gesellschaftlichen Teilbereich Schule reproduziert.[6]

Das preufiische Volksschulwesen wurde Vorreiter fur die anderen deutschen Staaten; auch im Ausland verfolgte man die Entwicklung aufmerksam. Das Schulsystem wurde in der Folge ein wesentlicher Bestandteil politischer Auseinandersetzungen, denn der Ausbau der Schulverwaltung schien der Obrigkeit ebenso notwendig zu sein wie die Restriktion der Lerninhalte. Die Frage, wer die Bestimmungsmacht uber den Schultyp haben sollte, durch den die breite Masse des Volkes, die Untertanen, aber auch die kunftigen Wahler gingen, war von hochster Wichtigkeit. Die Machthaber in Regierung und Verwaltung waren sich daruber im Klaren, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Erneuerung im Bildungssystem und gesellschaftlichen Veranderungen bestand.[7]

Die funktionalen Beziehungen zwischen Bildungssystem und anderen gesellschaftlichen Teilbereichen kristallisierten sich im ausgehenden 19. Jahrhundert immer deutlicher heraus. Die zunehmende Differenzierung und Komplexitat der kapitalistischen Wirt- schaftsweise, die fortschreitenden kulturellen wie technischen Entwicklungen und die sich dadurch verandernde Sozialstruktur im Kaiserreich fuhrten zu einem immer feineren Geflecht von Wechselbeziehungen. Die Institution Volkschule lag fortan im Spannungsfeld verschiedener Interessen. Ungeachtet der Erwartungen z. B. aus der Wirtschaft, konnte sie schrittweise eine Eigendynamik entwickeln, die sich auch auf den Lehrkorper, die Schuler und den Unterricht auswirkte8.

Die Schule der breiten Masse wurde einerseits instrumentalisiert, um das Herrschafts- verhaltnis zu sichern und revolutionare Triebe bereits im Keim zu ersticken. Gottes- furcht, Konigstreue und die bestehende Ordnung sollten verinnerlicht werden. Anderer- seits traten in einer Zeit zunehmender Rationalisierung (und auch Sakularisierung) gerade in den protestantischen Territorien die Qualifikation immer deutlicher in den Vordergrund. Sie galt als Triebfeder in der sich industrialisierenden Lebenswelt der Menschen. Einfache Grundkenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen waren nicht mehr ausreichend. Abstraktion, Reflexion und methodisches Lernen fuhrten in der Folge zu einem Emanzipationsverlangen der Burger und der Entdeckung der Autono- mie. Laut Nipperdey ist dies der Hintergrund der Bildungs- und „Leserevolution“ in Deutschland.[9]Jeder Mensch sollte ein nutzliches Mitglied der Gesellschaft werden; die innerweltliche Lebenserfullung trat in den Vordergrund. Dieser zunehmenden Mobili- sierung der Gesellschaft wurde die Stabilisierung mit politischen Mitteln entgegen- gestellt: Nach und nach wurde im Zuge der fortschreitenden Burokratisierung in allen Gemeinden die Schulpflicht durchgesetzt. Dadurch sank die Analphabetenrate, doch wurden durch das dreigliedrige Schulsystem zugleich die Grenzen der Bildung zemen- tiert: Die Staatsdiener wurden im Gymnasium ausgebildet, die Untertanen in der Volksschule.[10]

Die Allgemeinen Bestimmungen betreffend das Volksschul-, Praparanden- und Seminarwesen von 1872 fuhrten in Preufien zu den von Lehrern seit Jahrzehnten geforderten Verbesserungen: Die subsidiaren Zuschusse des Staates an die Einzelstaaten wurden nahezu verdreifacht, 1888 wurde zudem die endgultige Schulgeldfreiheit fur Eltern der Volksschulkinder durchgesetzt. Damit stiegen auch Einkommen und Ansehen der einst von Pauperisierung bedrohten Lehrer. Die Zahl der Lehrerseminare wuchs deutlich; diese hatten nun keinen provisorischen Charakter mehr. In der „Neuen Ara“ gelang es den Lehrern ferner, ihren Organisationsgrad zu steigern und die Institutionalisierung der Volksschule selbstbewusster denn je voranzutreiben.[11]

Bei den konkreten Inhalten des Schulunterrichts wurde klar von der Welt der Arbeit, allem Praktischen und Handwerklichen getrennt; theoretisch war der Unterricht durchaus neuhumanistisch beeinflusst.[12] Doch lag der Fuhrungselite nichts ferner, als die Heranwachsenden zum AuBern von Kritik und zur Intellektualitat zu befahigen. Falsche Gleichheitserwartungen hatten moglicherweise zu Unzufriedenheit und Frustra­tion fuhren konnen, die der Nahrboden fur revolutionare Aktivitaten hatten werden konnen. So wurde beim Unterrichtsstoff auf die Achtung des Gegebenen, auf Tradition und Autoritat (Hierarchie auch unter Schulern) groBter Wert gelegt. Die Klassenstarke betrug am Ende des Kaiserreiches in der Stadt durchschnittlich 50, auf dem Land bis zu 200 Kinder. Die Umgangsformen waren stark vom preuBischen Militarismus gepragt. Die damalige Fachliteratur sah vor, die Kinder „zutraulich“ zu machen, mittels „Anschauungsubungen“ sollte ihnen die „Zucht und Ordnung“ im Kaiserreich deutlich gemacht werden. Die „Kommandos“ des Lehrers, das Sprechen der Schuler im Chor, das „Abmarschieren“ aus dem Klassenzimmer sowie das „Einexerzieren“ bestimmter Verhaltensweisen sollten dazu fuhren, dass sich die heranwachsende Generation „leichtund sicher leiten laBt“13.

Die Unterrichtsmaterialien thematisierten meist nationale Angelegenheiten wie die voll- endete Reichseinigung und Kaiser Wilhelm I. und II. In Lesebuchern und Liedern wurde das harmonische Idyll des Reiches und das zeitlose Heimatgefuhl beschworen; viele Lobreden auf den Kaiser und seine Frau galt es zu lesen und auswendig zu lernen. Daneben nahmen Flotten- und Kolonialthemen einen wichtigen Platz ein und der Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich wurde immer wieder herausgearbei- tet. Ab 1880 gerieten erstmals auch Hygiene und Gesundheitsregeln in den Fokus: Der Lehrer achtete fortan auf saubere Kleidung und darauf, dass die Kinder Seife zum Waschen verwendeten; eingefordert wurden das Zahneputzen, das regelmaBige Auswaschen des TrinkgefaBes sowie eine gesunde Korperhaltung der Schuler.[14]Bei „Lugen, Widersetzlichkeiten, Rohheit und UnfleiB“ gab es die von Direktoren angeordnete und ab 1881 mancherorts auch burokratisch klar geregelte Prugelstrafe.[15]

Die Schuler der Volksschule waren am Ende des Jahrhunderts angemessen auf ihr weiteres Leben vorbereitet: Sie konnten in der Arbeitswelt FuB fassen, Handwerker werden, in einem Betrieb oder einer Fabrik arbeiten. Trotz der Beschrankung des Lehrstoffes in der Volksschule wurden einige Schuler spater Sozialdemokraten oder Teil der Arbeiterbewegung. Offensichtlich standen einige Lehrer den gesellschaftlichen Veranderungen aufgeschlossen gegenuber und konnten ihre Methoden entsprechend weiterentwickeln. Die Versuche der Obrigkeit, mit politischen Mitteln gegen den gesell- schaftlichen Evolutionsprozess vorzugehen, begunstigte erst die Entwicklung hin zu mehr Politisierung und Auseinandersetzung mit dem Bestehenden.[16]Und dennoch bleibt es verglichen mit anderen Staaten unmoglich, zwischen Fortschritt und Fort- schrittshemmung, Aufbruch und Beharrung zu gewichten; gerade diese Ambivalenzen sind charakteristisch fur das Kaiserreich.[17] In der Langzeitperspektive ist die Entwick- lungsgeschichte der Volksschule jedoch eine klare Aufstiegsgeschichte.

2.2 Das Schulsystem in der Weimarer Republik

Die Revolution von 1918/19 hatte kaum Auswirkungen auf das Spannungsfeld und die verschiedenen Interessen an der weiteren Formung des Schulsystems. Doch trat an die Stelle des Obrigkeitsstaates nun eine Republik mit demokratisch gewahlter National- versammlung. Demokratische Werte hielten alsbald Einzug in den neuen Staatsburger- kunde-Unterricht, und das Schulsystem war erstmals darauf ausgerichtet, den sozialen Aufstieg zu ermoglichen. Primares Ziel war nun die freie Selbstentfaltung der jungen Generation bei gerechter Verteilung der Lebenschancen.

Ende November 1918 hob der preubische Kultusminister Adolf Hoffmann (USPD) die geistliche Aufsicht uber die Schule auf. Das Ende der Bevormundung durch die Kirche wurde von fast allen Lehrern positiv aufgenommen. Die Weimarer Koalition von SPD, DDP und Zentrum einigte sich sieben Monate spater mit Verabschiedung der Verfassung auf weitreichende Reformen im Schulwesen:

- Die konfessionsubergreifende Simultanschule sollte fortan zur Regelschule werden; uber den Besuch des Religionsunterrichts entschieden die Eltern. Die Einzelheiten sollte ein Reichsgesetz regeln (dieses kam aber vor 1933 nicht zustande). So blieb es grobtenteils bei den Konfessionsschulen (Art. 174). Verfassungsnorm und Schulwirklichkeit drifteten hier deutlich auseinander18.
- Mit der Einfuhrung des dreistufigen Schulsystems von Grundschule, Mittelschule und Hoherer Schule beging der Staat einen bedeutenden Akt der Egalisierung (Art 146). Hierdurch wurden unzahlige Formen privater Vorschulen, die zur Vorberei- tung der kunftigen Gymnasiasten dienten, abgeschafft. Die in sich gestufte Einheitsschule loste die Dreigliedrigkeit des vorherigen Systems auf und betonte so die Chancengleichheit.
- Die Schulpflicht wurde konsequent bis zum 18. Lebensjahr ausgedehnt (Art. 145). Auf acht Grundschuljahre folgte nun die vierjahrige Fortbildungsschule; oder aber es fiel nach vier Jahren die Entscheidung fur die sechsjahrige Mittelschule oder die neunjahrige Hohere Schule.
- Mit der Verfassung wurde die oben erwahnte „Staatsburgerkunde“ eingefuhrt: Dabei wurde Wert auf die Vermittlung des deutschen Volkstums wie auf die Betonung der „Volkerfreundschaft“ gelegt.
- Die Lehrerbildung wurde neu organisiert: Das Abitur war nun Voraussetzung fur den Besuch der neu eingefuhrten Padagogischen Akademie. Die nach Akademisie-[18]

rung strebenden Volksschullehrer forderten zunachst eine langere Universitatsaus- bildung, was mit einer hoheren Besoldung einhergegangen ware, doch kam auch hier kein verbindliches Reichsgesetz zustande. Trotz sozialem Statusgewinn trafen die Grundschullehrer weiterhin die Missgunst und das Uberlegenheitsgefuhl der gymnasialen Oberlehrer.

In den zwei Jahrzehnten von 1911 bis 1931 stieg die Anzahl der allgemeinen Schulen um mehr als 65 Prozent auf 52.961. Vor 1933 waren 75 Prozent hiervon Landschulen, an denen 45 Prozent aller Lehrer tatig waren. Diese Landschulen waren meist noch ein- oder zweiklassig angelegt, wohingegen die meisten Stadtschulen bereits auf sieben Klassen ausgebaut waren. Inzwischen war auch die Feminisierung des Lehrerberufs zu erkennen: Von 22 Prozent vor dem Krieg stieg der Anteil der Lehrerinnen bis 1933 auf ein Viertel; 48.300 Frauen ubten nun den Beruf der Lehrerin aus, blieben aber auch in der Weimarer Republik mit einem um ca. 10 Prozent niedrigeren Gehalt stark benach- teiligt.[19]Sie lernten gemeinsam mit ihren Kollegen (in Koedukation) an einer der nach wie vor konfessionsgebundenen Padagogischen Akademien. Nur wenige Lander richte- ten auch fur die Ausbildung der Grundschullehrer Fakultaten an ihren Universitaten und Technischen Hochschulen ein.[20] Mit der Einfuhrung des Reichsbesoldungsgesetzes im April 1920 gab es auch finanzielle Verbesserungen fur die Lehrerschaft. So konnten Grundschullehrer 74 Prozent des Grundgehalts eines Oberlehrers erreichen, was einer Verbesserung von 178 Prozent entsprach. Freilich verschlechterte sich die finanzielle Lage mit Einsetzen der Inflation, der Wahrungsunion und der Besoldungsreform drastisch21.

Die Sparmafinahmen von Kanzler Bruning fuhrten zu weiteren Einbufien; das Gehalt einer Grundschullehrerin lag nun unter dem einer Stenotypistin - in dieser instabilen Situation wurde auch von der „Verproletarisierung“ der Lehrerschaft gesprochen. Laut Breyvogel entstand dadurch ein „Loyalitatskonflikt“ und „Identifikationsbruch mit dem parlamentarischen Verfassungsstaat und den Parteien der Weimarer Koalition22.“

In der Wahrnehmung der Lehrer waren die Notverordnungen - die unter Umgehung des Parlaments getroffenen Entscheidungen - die Ursache ihrer angespannten Lebens- situation. Die Verlautbarungen der Regierung wirkten willkurlich wie ungerecht. Die zunehmende Destabilisierung des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Systems trieb die Lehrerschaft zu grofien Teilen in nationalsozialistische Vereinigungen. Die hohe Stimmenausbeute der NSDAP bei den Wahlen im September 1930 lasst darauf schliefien, dass auch Teile der Lehrerschaft und des Deutschen Lehrervereins nach rechts gedriftet waren. Laut Mitgliederstatistik waren bis 1930 2.000 Lehrer in die NSDAP eingetreten, 1933 waren es bereits 12.900. Bolling zeigt auf, dass hierbei die Gymnasiallehrer haufiger vertreten waren als die Volksschullehrer. Im Wesentlichen handelte es sich um junge Lehrer, die auf dem Land lebten, seit einigen Jahren resig- niert ihren Beruf ausubten und die zunehmende Verarmung erlebten. Die relative Benachteiligung, die sie in jedem Lebensbereich (auch beim Materialmangel in der Schule) zu spuren bekamen, machte sie anfallig fur die ideologischen Versatzstucke, die ihnen die NSDAP anbot. Sie lehnten den Wirtschaftsliberalismus strikt ab, verbanden sozialistische Ideologieelemente mit volkischem Gedankengut und strebten nach neuer Fuhrungsstruktur auch in den Schulen. Der 1929 von Hans Schemm gegrundete Nationalsozialistische Lehrerbund (NS LB) kam den Lehrern entgegen, indem er ihnen weitgehende Versprechungen machte, wie die lang ersehnte Einfuhrung der universitaren Ausbildung. Schliefilich sollte der neue Typus Lehrer die geistige Elite der deutschen Gesellschaft ausbilden; die burgerlichen Parteien der Weimarer Koalition hatten dies nur verhindert.

Dass der NSLB uber kein konkretes Schulprogramm verfugte, wurde indes kaum wahr- genommen. Die Lehrervereine, die nun in unmittelbarer Konkurrenz zum NSLB standen, sollten laut Ernst Krieck - im Dritten Reich einer der Hauptvertreter der nationalsozialistischen Erziehungswissenschaften - „erobert“ werden. Nach und nach drangen Nationalsozialisten in Fuhrungspositionen vor und entschieden die[22] vereinsinternen Auseinandersetzungen fur sich, sodass sich schon vor der Machtergreifung 1933 die Lehrervereine den Nationalsozialisten stark angenahert hatten.[23]

Bolling beschreibt die soziale Rolle und politische Mentalitat der Volksschullehrer am Ende der Weimarer Republik als enorm zwiespaltig. Ursprunglich aus der unteren Mittelschicht stammend, unterrichteten die Lehrer grofitenteils Kinder der Arbeiter- schaft, verfugten uber den Rang eines Staatsbeamten und strebten nach dem Status des akademischen Gymnasiallehrers. Bis 1933 gelang keine Integration in das Bildungs- burgertum, auch die Emanzipation auf kirchlichem Sektor konnte nicht verwirklicht werden. Dieser Alternativlosigkeit setzte die NSDAP die Vision eines starken Staates gepaart mit volkischem Idealismus entgegen24.

3. Leitgedanken nationalsozialistischer Ideologie

Im folgenden Abschnitt wird zunachst der Ideologiebegriff in seinen verschiedenen Bedeutungen kurz dargestellt, um im Anschluss die Kerngedanken der nationalsozia- listischen Ideologie zu umreiBen. Diese besitzen erkenntnisleitende Funktion bei der spateren Quellenanalyse der NS-Fibeln. Eine einheitliche Konzeption von NS-Ideologie lasst sich in der Literatur nicht finden. Jedoch zeigen sich sowohl in den politischen Schriften der 1930er Jahre als auch in der aktuellen Fachliteratur wiederkehrende Grundannahmen, auf denen das hier beschriebene Konstrukt der NS-Ideologie basiert25.

Als Erster versuchte Francis Bacon (1561-1626) den Begriff der Ideologie systematisch zu erfassen. In seiner Idolen-Lehre beschreibt er die Falschheit des Bewusstseins und Denkens, die durch Einschrankungen, Storungen, Trubungen oder Verfalschungen selektiver sprachlicher Formen hervorgerufen wird. Die Ursachen und Mechanismen falscher Vorstellungen und Meinungen sollten aufgeklart und aufier Kraft gesetzt werden. Dabei wird religiosen Vorstellungen sowie politischen und staatlichen Institu- tionen eine vernunfwidrige Funktion attestiert, die lediglich zur Machtsicherung und -konsolidierung des jeweiligen Regimes beitragen soll.[26]

Diese Ideologiekritik erfuhr erstmals durch Napoleon I. eine klare Ablehnung. Er unter- wirft die aufklarerische Utopie selbst dem Ideologieverdacht und bezeichnet sie als „verstiegene Produkte unpraktischer Schwarmgeister“. Die wirklichkeitsfernen Ideen wurden lediglich unter dem Deckmantel der Vernunft propagiert und seien „zum Zwecke der Massenlenkung ungeeignet“. Ihre Verbreitung und Umsetzung konne dazu fuhren, die latenten aggressiven und destruktiven Energien der Menschen freizusetzen27.

Karl Marx hingegen halt die idealistischen Ideen der Aufklarung fur nicht ausreichend, um die verfalschten Denkformen der Menschen zu uberwinden. Den Grundkonsens der burgerlichen Gesellschaft, dass die Menschen bereits in einer vernunftigen Gesellschaft leben, in der Freiheit und Gleichheit garantiert werden, lehnt Marx ab. Seiner Meinung nach resultiert diese Selbsttauschung aus den gesellschaftlichen Strukturprinzipien.

Grundsatzlich gehe von der antagonistischen Klassenstruktur eine entscheidende Wirkung auf das Bewusstsein der Menschen aus. Ideologien seien hierbei nur „Teil-

erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens“, z. B. „juristische, politische, religiose,kunstlerische oder philosophische Bewufitseinsformen“28.

Spatere Arbeiten insbesondere von Karl Mannheim (1893-1947) zeigen eine erneute Umdeutung des Begriffs. Ideologie wird hier starker psychologisiert, d. h. vom Indivi- duum her gedacht. Demnach konstituiert sich menschliches Denken nie im sozial freien Raum. Die Gebundenheit des Seins im sozialen Raum bewirke zwangslaufig Verzerrungen des Denkens. Dies schlage sich in jedem Individuum unabhangig von der Schichtzugehorigkeit nieder29.

Ein wesentlicher Grundsatz der nationalsozialistischen Ideologie war die sozial- darwinistische und biologistische Vorstellung eines Kampfes ums Dasein aller Volker und Rassen. Hierbei wird die Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809-1882), der zufolge sich die Pflanzen- und Tierwelt durch naturliche Selektion entwickeln, auf die menschliche Gesellschaft ubertragen. Der Kampf wird als fundamentales Gesetz der Natur begriffen und von Hitler und Goebbels wiederholt zum zentralen Motiv auch des nationalsozialistischen Staates stilisiert30.

Hitler beschreibt, wie der Kampf zwischen den Rassen die Gesundheit und Wider- standskraft der Art fordere und gleichsam den Ausgangspunkt einer Weiterentwicklung und „die Vorbedingung zu allem menschlichen Fortschritt“ darstelle. Die Natur gebe die Notwendigkeit vor, dass der Bessere und Starkere uber den Kranklichen und Schwachen siege31.

Der Begriff der Rasse wird in den ideologisch gefarbten Texten ebenfalls zentral. Hans F. K. Gunther (1891-1968) beschaftigte sich bereits in der Weimarer Republik mit den

Merkmalen verschiedener Volksgruppen und fuhrt in seiner reich bebilderten „Rassen- kunde“ aus:

„Eine Rasse muB demnach eine Ubereinstimmung der leiblichen und seelischen Zuge bei alien ihrer Vertreter aufweisen und muB aus sich heraus immer wieder Menschen mit den gleichen leiblich-seelischen Zugen hervorbringen.“[32]

Gunther unterscheidet zwischen nordischer, westischer, dinarischer, ostischer, ostbalti- scher und falischer Rasse, wobei die erstgenannte dem nationalsozialistischen Ideal entspricht. Sie sei die hochste, wertvollste und einzig kulturschopfende Rasse. Hitler fuhrt weiterhin aus, dass nur wenige, eventuell nur eine Rasse dazu in der Lage sei, „Wissenschaft und Kunst, Technik und Erfindungen“ hervorzubringen. Nahezu alle Errungenschaften seien das „schopferische Produkt des Ariers“, der „so den Weg zum Beherrscher der anderen Wesen dieser Erde emporsteigen“ konne33.

Die arische Rasse werde die „niederen Menschen“ unterwerfen und als „erste techni- sche Instrumente“ zur Schaffung von Kultur nutzen. Dieser Prozess konne laut Hitler gefahrdet werden, wenn es zu einer Vermischung des arischen Blutes mit minder- wertigem Blut komme; damit gehen eine „Niedersenkung des Rasseniveaus“ und der „korperlich-geistige Ruckgang“ einher. Der „Herrenstandpunkt“ musse daher ruck- sichtslos aufrechterhalten werden.[34]Dabei lege die arische Rasse eine besondere Opfer- bereitschaft an den Tag. Der Selbsterhaltungstrieb und Aufopferungswille sei ihre starkste und bedeutendste Eigenschaft, wobei der Arier „alle Fahigkeiten in den Dienstder Gemeinschaft“ stelle[35].

Die groBe Bedeutung der Korperbeschaffenheit durchzieht die gesamte NS-Ideologie und wird auch in den Erziehungsgrundsatzen wiederholt betont. Im Verlauf der vorliegenden Arbeit sollen die Fibeln u. a. auf die Darstellung korperlicher Merkmale untersucht werden. Daher sei die NS-Rassenkunde kurz dargestellt.

Gunther fasst in seinem Werk die Merkmale der nordischen Rasse zusammen und vergegenstandlicht sie in Form zahlreicher Skizzen und Fotografien. Der Arier sei neben seiner hellen Haut vor allem „schlank“ und messe „im Mittel 1,75 [...], doch sind

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Manner bis zu 1,90 m nicht allzu selten.“[36]Die Gestalt des Mannes sei breitschultrig und schlank, aber kraftig. Die nordische Frau hingegen zeichne sich durch leicht schmalere Schultern und breitere Huften aus.[37] Die Schadelform des nordischen Mannes wird als „langkopfig“ und „schmalgesichtig“ beschrieben, aus der sich die typische „Quaderform“ ergebe. Dadurch, so Gunther, ergebe sich ein „scharfer Gesichtsschnitt“ und es entstehe „der Eindruck des Angriffslustigen“[38].

Weitere rassetypische Merkmale seien das blonde Haar, die Bindehaut steche durch „das weifieste Weifi“ aller Rassen hervor, die Regenbogenhaut sei blau bis grau und der sich daraus ergebende Blick sei zuweilen „schrecklich“ und lasse stets die „Wildheit des [39] Ausdrucks“ erkennen.

Der grofite denkbare Gegensatz zur nordischen Rasse bildet im Nationalsozialismus der Jude - propagandistisch oft im abwertenden kollektiven Singular gebraucht. Er steht fur die Negativfigur schlechthin, den Feind, die „Gegenrasse“, den „Schmarotzer“ und „Schadling“ in allen Lebensbereichen. Er sei verantwortlich fur alle innen- und aufienpolitische Probleme.[40]Hitler beschreibt das bosartige Kalkul des Juden und die von ihm ausgehende Bedrohung fur die „rassischen Grundlagen“ des deutschen Volkes. Zudem sei er mutwilliger „Kulturzersetzer“, der Aufopferungswille gehe im Gegensatz zum Arier nicht uber den individuellen Selbsterhaltungstrieb hinaus.[41]Ebenfalls fester Bestandteil der NS-Ideologie ist das judische Wesensmerkmal des Lugens, Tauschens und Betrugens. Laut Hitler sei das Judentum keine Religionsgemeinschaft. Es fehle der notige Idealismus und somit auch der Glaube an das Jenseits. Die Behauptung, es handle sich um eine Religion, sei lediglich sundhafte Tarnung und verhelfe „den Schmarotzern“ sich „auszubreiten“ und das „Wirtsvolk“ absterben zu lassen.[42]

Nach der nationalsozialistischen Rassenlehre soil nun die Idee der Volksgemeinschaft als ein weiterer zentraler Leitgedanke der NS-Ideologie dargestellt werden. Der Gedanke und Wunsch, dass die Menschen fureinander eintreten, stellt fur Noack einen der wichtigsten Grunde fur die breite Akzeptanz des Nationalsozialismus im Volk dar. Nationaler Sozialismus stand fur die Auflosung der Klassen und des Standesdunkels. Die Arbeiter- und Bauernschaft sollten starker gewurdigt werden, fur die Unterstutzung der Armen wurde Wert auf die offentliche und private Fursorge gelegt.[43]Laut Hitler gelte es, die „Arbeitnehmer [...] dem internationalen Wahne zu entreifien, aus ihrer sozialen Not zu befreien, dem kulturellen Elend zu entheben und als geschlossenen, wertvollen, national fuhlenden und national sein wollenden Faktor in die Volksgemeinschaft zu uberfuhren.“[44]

Die Idee der Volksgemeinschaft besitzt fraglos kollektive und antiindividualistische Zuge. Teil dieser Schicksals-, Opfer- und Kulturgemeinschaft konnte nur sein, wer den Kriterien der Rassenlehre nach Arier ist. Zur Aufrechterhaltung und weiteren Verbreitung wurden zahlreiche Feste verordnet, Eintopfsonntage eingefuhrt und das Winterhilfswerk (WHW) als Stiftung des offentlichen Rechts gegrundet.[45]

Ein weiterer ideologischer Leitgedanke ist das Fuhrer-Gefolgschafts-Ideal. Das dahinter stehende Prinzip ist wesentlich fur das Verstandnis der Organisationsstruktur des Dritten Reiches. Innerhalb der nordischen Rasse, der Herrenmenschen, werden die Fuhrenden selektiert und mit Entscheidungsbefugnissen ausgestattet, wobei sich eine strikte Kommandostruktur ergibt, an dessen Spitze Hitler steht (vgl. Abschnitt 5.5). Anstelle des parlamentarischen Prinzips in Form einer Vertretungskorperschaft entstan- den lediglich Beratungsstabe, die den Fuhrer in seiner Entscheidungsfindung unter- stutzten und seine Befehle ausfuhrten.[46]

„Immer wird der Fuhrer von oben eingesetzt und gleichzeitig mit unbeschrankter Vollmacht und Autoritat bekleidet. [...] Es ist eine der obersten Aufgaben der Bewegung, dieses Prinzip zum bestimmenden nicht nur innerhalb ihrer eigenen Reihen, sondern auch fur den gesamten Staat zu machen.“[47]

Hitler selbst war keiner hoheren Instanz gegenuber verpflichtet; an Gott glaubte er nicht. Er war der totalitare vom Schicksal vorherbestimmte Fuhrer, der unbedingten Gehorsam forderte und aktiv an seinem Nimbus und Fuhrerkult arbeitete.

Die vierte Leitidee in der nationalsozialistischen Ideologie bezieht sich auf Hitlers Lebensraumtheorie. Demnach stehe dem deutschen Volk aufgrund seines hohen Rasse- wertes entsprechender Lebensraum zu. Durch den Versailler Vertrag war Deutschland jedoch militarisch, finanziell und geografisch stark getroffen worden.[48] Das Volk musse nun wiedererstarken und sich den ihm zustehenden Lebensraum erkampfen. Hitler ging es bei dieser Forderung nicht um die Rache fur Versailles, den Kampf gegen England oder die Wiederherstellung der Grenzen von 1914. Sein Ziel war es, „den Boden in Einklang zu bringen mit der Volkszahl“ (biologische Expansion) und ein nach Osten ausgedehntes Kontinentalreich zu schaffen.[49]Im Parteiprogramm der NSDAP liest sich dieses Ziel wie folgt:

1. Wir fordern den ZusammenschluB aller Deutschen auf Grund des Selbstbestim- mungsrechtes der Volker zu einem GroB-Deutschland.
2. Wir fordern die Gleichberechtigung des deutschen Volkes gegenuber den ande- ren Nationen, Aufhebung der Friedensvertrage von Versailles und St. Germain.
3. Wir fordern Land und Boden (Kolonien) zur Ernahrung unseres Volkes und Ansiedlung unseres Bevolkerungs-Uberschusses.
4. Staatsburger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rucksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.[50]

Die Volker im Osten waren laut der NS-Rassenlehre von niederem Rang und sollten im Zuge der Ausdehnung versklavt werden. Hitler griff folgerichtig zunachst Polen, anschlieBend die zweite Kontinentalmacht Frankreich und zuletzt die Sowjetunion an. Die Menschen in den bis Kriegsende besetzten Gebieten wurden unterworfen.

Nach der Konkretisierung der Leitvorstellungen nationalsozialistischer Ideologie werden im folgenden Abschnitt die daraus abgeleiteten erziehungswissenschaftlichen Dogmen herausgearbeitet.

4. Erziehungstheorien im Nationalsozialismus

Trotz der unterschiedlichen Interessen rivalisierender Institutionen gab es Grundsatze, Prinzipien und Postulate, an denen sich die Erziehungsarbeit im Nationalsozialismus orientierte. Diese gelangten nach der Machtergreifung allmahlich auch in die staatlichen Schulen.

Im Folgenden soll ein Schlaglicht auf diese Grundsatze geworfen werden. Ausgehend von Hitlers Maximen u. a. in „Mein Kampf" ‘ werden die Ideen der federfuhrenden Padagogen des Nationalsozialismus kurz dargestellt und diskutiert. Dabei wird der Begriff der „Erziehung“ im Nationalsozialismus deutliche Konturen bekommen und kann auf seine Funktion hin untersucht werden.

4.1 Hitlers Ideale

Bereits in seinem politischen Grundlagenwerk „Mein Kampf", erstmals erschienen 1924, stellt Adolf Hitler vor dem Hintergrund seiner Biografie die Grundzuge seiner Weltanschauung dar und entwirft sein ideologisches Programm. Im Abschnitt „Erziehungsgrundsatze des volkischen Staates" fuhrt Hitler in aller Deutlichkeit und im gleichbleibend holzernen Stil aus, was er unter „Erziehung" versteht. Daneben tauchen seine Glaubenssatze zum gleichen Thema wiederholt in verschiedenen Reden und Gesprachen auf. Auf dem Boden der nationalsozialistischen Ideologie wollte Hitler die Erziehung revolutionieren:

„Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort oft zum ersten Male uberhaupt eine frische Luft bekommen und fuhlen, dann kom- men sie vier Jahre spater vom Jungvolk in die Hitlerjugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre. Und dann geben wir sie erst recht nicht zuruck in die Hande unserer alten Klasse und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder in das NSKK und so weiter. Und wenn sie dort zwei Jahre oder anderthalb Jahre sind, und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs Monate geschliffen [...] und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassen- und Standesdunkel da oder dort vorhanden sein sollte, das ubernimmt die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre. Und wenn sie nach zwei, drei oder vier Jahren zuruckkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall ruckfallig werden, sofort wieder in die SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben. [...] und sie sind glucklich dabei.“[51]

Hitler stellt hier deutlich heraus, dass die Schule nur eine unter vielen Institutionen sein soil, die der Indoktrination von Kindern und Jugendlichen dienen. Auch die auBer- schulischen NS-Organisationen waren maBgeblich an der Erziehung beteiligt. Ziel dieser Erziehung sei es, „gegebenes Menschenmaterial“ zu „schleifen“ und auf diesem Weg Soldaten auszubilden, die bis in den Tod kampfen. Hitler fuhrt weiter aus:

„Meine Padagogik ist hart. Das Schwache muB weggehammert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttatige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich.

Jugend muB das alles sein. Schmerzen muB sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zartliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muB erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schon will ich meine Jugend. Ich werde sie in allen Leibes- ubungen ausbilden lassen. Ich will eine athletische Jugend. Das ist das erste und wichtigste. So merze ich tausende von Jahren der menschlichen Domestikation aus.

So habe ich das reine, edle Material der Natur vor mir. So kann ich das Neue schaffen.“[52]

Hitlers Worte bedeuten nicht weniger als die Zerstorung der Individualitat. Er wirft der Weimarer Republik Verantwortungslosigkeit vor. Um mit der Revolution auf dem Gebiet der Erziehung fortfahren zu konnen, musse mit den bisherigen padagogischen Maximen und Leitgedanken gebrochen werden[53]. Die neuen Leitgedanken sind in „Mein Kampf ‘ auf den Punkt gebracht:

„Der Volkische Staat hat seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie [...] einzu- stellen [.] auf das Heranzuchten kerngesunder Korper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen Fahigkeiten. Hier aber wieder an der Spitze die Entwicklung des Charakters, besonders die Forderung der Willens- und Entschluss- kraft, verbunden mit der Erziehung zur Verantwortungsfreudigkeit, und erst als letztes, die wissenschaftliche Schulung.“[54]

Der nach diesen Methoden erzogene Mensch ist wesentlicher Bestandteil des Ringens um Zuwachs von Macht und Lebensraum. Er soll den Erfolg der nationalsozialistischen Bewegung einschlieBlich des NS-Gedankenguts auf lange Sicht sicherstellen.[55]

Der Begriff der „Rasse“ ist hier zentral. Nach Hitler sind es die Arier (oder die nordische Rasse), die einzig und allein dazu in der Lage sind, Hochkulturen hervorzu- bringen. Sie seien jedoch bedroht von einer anderen Rasse, dem Judentum, dem gefahr- lichsten Gegner, den es zu bekampfen und „auszurotten“ gelte. Um diesen Kampf gewinnen zu konnen, mussen Mafinahmen ergriffen werden, um den „nordischen Rassekern“ wieder zur Elite im Volk aufsteigen zu lassen. Hitler fuhrt somit biologisti- sche Argumente vor, spricht von „Auslese“, dem „Starkeren“ und somit „Hoher- wertigen“, der fur den weiteren Machtzuwachs der Bewegung sorgen solle. Laut Hitler sei letztlich diese Macht der Motor der Geschichte.[56]

Diese Grundsatze wurden zum padagogischen Dogma der Erziehungsfunktionare. Sie versuchten ein Erziehungssystem aufzubauen, das auf die Forderung der Kinder gesun- der Eltern zugeschnitten war. Sie waren das „kostbarste Gut des Volkes“, aus ihnen sollte die spatere Elite gewonnen werden, die das Volk fuhrt und die Bewegung erfolgreich vorantreibt. Auf dem Weg dorthin mussten die Kinder ihre „notwendige Stahlung fur das spatere Leben erhalten“ - und zwar durch korperliche Ertuchtigung, fur die nun der Lehrplan der Schulen freigeraumt wurde. Denn „das jugendliche Gehirn [soll] im allgemeinen nicht mit Dingen belastet [werden], die es zu 95 % nicht braucht und daher auch wieder vergifit.“ Intellektuelle Fahigkeiten waren somit zweitrangig: So seien Fremdsprachen kaum wunschenswert, auch die Fahigkeiten beim Lesen und Rechnen konnten auf einem niedrigen Niveau bleiben.

„Die gesamte Bildungs- und Erziehungsarbeit des volkischen Staates mud ihre Kronung darin finden, dass sie den Rassesinn und das Rassegefuhl instinkt- und verstandesmadig in Herz und Gehirn der ihr anvertrauten Jugend hineinbrennt. Es soll kein Knabe und kein Madchen die Schule verlassen, ohne zur letzten Erkenntnis uber die Notwendigkeit und das Wesen der Blutreinheit gefuhrt worden zu sein.“[57]

Erziehung ist somit das Instrument sowohl fur die politische Schulung als auch fur eine angemessene Berufsvorbereitung. Sie soll eine fanatische Nationalbegeisterung erzeugen; der Unterricht ist nur Mittel zu eben diesem Zweck. Es musse die Einsicht vermittelt werden, dass der volkische Staat um sein Dasein kampfen musse. Demgegen- uber solle nur Fachwissen fur den spateren Beruf und die jeweiligen Aufgaben vermittelt werden. Beide Ziele sollten sich dabei immer am Prinzip der Leistung orien- tieren: Gleich welcher Art die Ausbildung ist, ob korperlich, ob es um Allgemein- bildung, fachspezifisches Wissen oder politische Gesinnung geht - die personliche [58] Leistung bleibt immer das Auslesekriterium fur Staat, Wirtschaft und Gemeinschaft. Erst wenn dieser Mechanismus funktioniere, sei die „arische Menschheit“ fur den Entscheidungskampf gegen das Judentum gewappnet.

Die Fahigkeiten und Eigenschaften eines eifrigen, „blind“ gehorsamen Soldaten werden im NS-Erziehungssystem erworben und gleichzeitig zu dessen Norm erhoben: Neben der Willens- und Entschlusskraft stehen „Schweigsamkeit, Treue, Opferbereitschaft, Mutgefuhl, Angriffsgeist, Angriffsmut und Selbstvertrauen.“ Die „gesamte Erziehung und Ausbildung muB darauf angelegt werden, ihm [dem jungen Menschen] die Uberzeugung zu geben, anderen unbedingt uberlegen zu sein.“[59]

Der Erziehung der Madchen raumt Hitler in seinen Texten hingegen kaum Platz ein: Sie mussen auf die Aufgaben der Mutterrolle vorbereitet werden, sodass sie die nachste Generation von Soldaten groBziehen konnen.[60]

Die NS-Erziehung, so schlussfolgert Lingelbach, war das wichtigste Instrument zur Sicherung und Ausweitung der staatlichen Macht. Entstehen sollte eine „fanatisierte Kampf- und Leistungsgesellschaft“, ein Volk, das „zusammengeschweiBt“ ist und in dem standige „rassehygienische MaBnahmen“ gepaart mit korperlicher Ertuchtigung auf den herbeigesehnten Kampf vorbereiten.[61]Hitler stellt diese instrumentelle Funktion der Erziehung kurz nach der Machtergreifung in seiner Reichenhaller Rede fest:

„Seit zweieinhalbtausend Jahren sind [...] nahezu samtliche Revolutionen geschei- tert, weil ihre Fuhrer nicht erkannt haben, dass das Wesentliche [...] nicht die Machtubernahme sondern die Erziehung der Menschen ist.“[62]

Diese Ausfuhrungen bedeuten die Nichtbeachtung des Eigenrechts und der Bedurfnisse der Kinder. Negiert werden auch traditionelle Erziehungsgrundsatze der Weimarer Republik wie auch der humanistischen Auffassung von Erziehung und Bildung, der zufolge die freie Selbstentfaltung des Individuums im Mittelpunkt steht. Hitlers Ausfuh- rungen folgend entfallt jede padagogisch-moralische Verantwortung gegenuber den Kindern. Verantwortung gibt es ausschlieBlich gegenuber der Rasse, dem „Menschenmaterial“, der „Substanz“.[63]

Mit Hitlers Ausfuhrungen - gleich zu welchem Thema - wurde gleichzeitig das Voka- bular bereitgestellt, dessen sich die Erziehungsfunktionare wiederholt bedienten: Die Militarisierung der Sprache durchdrang zunehmend die Lebensbereiche nicht nur der Kinder. Begriffe wie Kampf, Schlacht, Einsatz, Einheit, Front, Durchbruch durchziehen alle Kapitel von „Mein Kampf ‘ wie auch Hitlers Reden. Somit sind auch jegliche offentliche Verlautbarungen von NS-Funktionaren mit diesen Schlagworten durchsetzt. Die bedrohliche Wirkung dieser Sprache lasst sich nicht leugnen; die allgemeine Brutalisierung wurde zum Selbstzweck, zum Qualitatsmerkmal der „Herrenmenschen“ und der heran-„gezuchteten“ Elite im Nationalsozialismus.[64]

In groBer inhaltlicher Nahe zu Hitlers Idealen stehen die Ansichten einflussreicher Parteifunktionare und Padagogen. Bevor in den folgenden Abschnitten auf die Padagogen Ernst Krieck und Alfred Baeumler eingegangen wird, kurz einige Anmerkungen zu den Ersteren. Dazu gehort Alfred Ernst Rosenberg (1893-1946), der 1934 von Hitler zum „Beauftragten des Fuhrers fur die Uberwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“ ernannt wurde. Fast taglich erschienen im „Volkischen Beobachter“ seine Hetze gegen alles Judische, seine Verschworungstheorien und die altbekannte wie wirkungsvolle Gleichsetzung von Judentum und Sowjetregime. In Ernst Pipers Monografie wandelt sich die Sicht auf Rosenberg vom „vergessenen Gefolgsmann“ zum Chefideologen des NS-Systems. Hitler bedankte sich 1933 fur Rosenbergs Einsatz um die „geistige Zertrummerung der uns gegenuberstehenden feindlichen Gedankenwelt“; das politisch Erreichte musse nun weltanschaulich gesichert werden.[65]

Ebenfalls eine zentrale Position nimmt der Reichsjugendfuhrer Baldur von Schirach (1907-1974) ein. Von Hitler 1931 ernannt, machte er die Mitgliedschaft in der Hitler- jugend ab 1936 fur alle deutschen Jungen und Madchen ab dem 10. Lebensjahr zur Pflicht. Sie wuchs in der Folge auf sechs Millionen Mitglieder an. Schirach wurde mit ihrer fortwahrenden Inspektion beauftragt. Sein Ziel war es, den Einfluss auf die Erzie- hung im Nationalsozialismus bestandig zu optimieren. Um die Vorherrschaft uber das Bildungssystem im Reich zu erlangen, versuchte er das Schulsystem und die NS- Jugendorganisationen starker miteinander zu verzahnen.[66]

4.2 Ernst Krieck

Die maBgeblichen Vorstellungen und Prinzipien der NS-Padagogik wurden von Ernst Krieck (1882-1947) entwickelt und publiziert. Dabei fuhrte der ehemalige Volksschul- lehrer und Autodidakt die Leitvorstellungen des NS-Regimes konsequent mit seinen schon in den 1920er Jahren entwickelten padagogischen Theorien zusammen. Fur sein Hauptwerk „Philosophie und Erziehung“ (1922) wurde ihm von der Universitat Heidelberg die Ehrendoktorwurde verliehen, 1934 ubernahm er hier den Lehrstuhl fur Philosophie und Padagogik. Krieck war einer derjenigen Wissenschaftler, die sich muhelos in die Gedankenwelt des neuen Fuhrerstaates einfugen konnten. Er erkannte die sich ergebenden Karrierechancen und wirkte fortan als regimetreuer Gelehrter. Aus- gangspunkt von Kriecks Theorie der „Reinen Erziehungswissenschaft“ ist die von ihm konstatierte Unordnung in der deutschen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg. Diesem chaotischen Zustand musse mit der Unterstutzung auch anderer Wissenschaften begegnet werden, um wieder eine lebendige Einheit von Volk und Politik entstehen zu lassen. Nur durch Nationalbewusstsein und Deutschtum konne sodann das „Dritte Reich“ entstehen, das eine neue Form von Menschenwurde und Humanitat bedeute.[67]

Krieck klart zunachst Begriff und Gegenstand der Erziehung. Es handle sich hierbei nicht um die zielgerichtete Aufgabe einer Institution, die den Nachwuchs anleite und ausbilde. Vielmehr sei Erziehung eine Grundgegebenheit, die durch verschiedene For- men von Kommunikation allgegenwartig auf die Mitglieder der Gesellschaft einwirke. Dabei bestehe eine permanente Wechselbeziehung der Gemeinschaft und ihrer Glieder, wobei vier Formen der wechselseitigen Einflussnahme und Erziehung zu unterscheiden seien:

1. Die Gemeinschaft erzieht die Glieder.
2. Die Glieder erziehen einander.
3. Die Glieder erziehen die Gemeinschaft.
4. Die Gemeinschaft erzieht die Gemeinschaft.

Laut Krieck ist die hochste Ebene gleichbedeutend mit dem Volk. In ihm werden die wohlorganisierten Glieder (Verbande, Vereine, Kirchen, Gemeinde usw.) mit ihren unterschiedlichen Funktionen integriert.

Diese „autonome Erziehungsidee“ sei der eigentliche Gegenstand der Padagogik: Indi- vidualitat und Personlichkeit finden hiernach ihre hochste Form nicht in der Differenz zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft, sondern in der vollkommenen Eingliederung in die Volksgemeinschaft.[68]Letztere „zuchtet“ allein durch ihre Wirkung der Gemein­schaft den „Typus“ eines angeglichenen Individuums nebst weiteren „vollwertigen Gliedern“. Kriecks Begrifflichkeit bediente sich vor der „Machtergreifung“ keineswegs darwinistischer und biologistischer Erklarungsmuster. Ziel war die rein geistige Ver- vollkommnung und Formung der Personlichkeit im Sinne einer organisch aufgebauten Gemeinschaft, die aus sich heraus einen genormten Entwicklungsgang beschreitet. Die Pragung der Heranwachsenden gehe folgerichtig automatisch vor sich, jedoch sei das deutsche Volk durch jenen chaotischen Zustand, in dem es sich noch befinde, zunachst

[...]


[1]Vgl. Hans-Jochen Gamm: Fuhrung und Verfuhrung. Padagogik des Nationalsozialismus, Munchen 1964 sowie Fritz Stippel: Die Zerstorung der Person. Kritische Studien zur nationalsozialistischen Padagogik, Donauworth 1957.

[2]Karl Christoph Lingelbach: Erziehung und Erziehungstheorien im nationalsozialistischen Deutsch­land, Frankfurt a. M. 1987, S. 13.

[3]Vgl. Kurt-Ingo Flessau: Schule der Diktatur, Lehrplane und Schulbucher des Nationalsozialismus, Munchen 1977.

[4]Vgl. Margarete Gotz: Die Grundschule in der Zeit des Nationalsozialismus, Eine Untersuchung der inneren Ausgestaltung der vier unteren Jahrgange der Volksschule auf der Grundlage amtlicher MaB- nahmen, Bad Heilbrunn 1997.

[5]Vgl. Jan Thiele: Der Beitrag der Fibeln des Dritten Reiches zur Vermittlung der nationalsozia- listischen Ideologie - eine kritische Analyse ihrer Inhalte, Dissertationsschrift, Oldenburg 2005.

[6]Vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866, Burgerwelt und starker Staat, Munchen 1983, S. 451.

[7]Vgl. ebd., S. 452.

[8]Vgl. Peter Lundgreen: Sozialgeschichte der deutschen Schule im Uberblick: Teil 1. 1770-1918, Gottingen 1980, S. 9-11.

[9]Vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 466.

[10]Vgl. L. Klaus Hartmann: Schule und Staat im 18. und 19. Jahrhundert: Zur Sozialgeschichte der Schule in Deutschland, Frankfurt a. M. 1974, S. 256-258.

[11]Zur Organisation der Lehrer in Vereinen und ihrer „Verberuflichung“: Rainer Bolling: Sozialge- schichte der deutschen Lehrer: Ein Uberblick von 1800 bis zur Gegenwart, Gottingen 1983, S. 53-91.

[12]Vgl. Fritz Blattner: Geschichte der Padagogik, Heidelberg 1968, S. 201-227.

[13]Karl Heilmann: Handbuch der Padagogik: Band 2, Leipzig 1904, S. 309-312.

[14]Vgl. Karl Heilmann: Handbuch der Padagogik., S. 315.

[15]Beispiel eines Regulativs der Hamburger Oberschulbehorde bei: Adolph Micolci: Das Unterrichts- wesen des Hamburgischen Staates, Hamburg 1884, S. 386.

[16]Vgl. Thomas Nipperdey: War die Wilhelminische Gesellschaft eine Untertanen-Gesellschaft? In: Ders.: Nachdenken uber die deutsche Geschichte: Essays, Munchen 1986, S. 172-185, hier 182-184.

[17]Zur demografischen, politischen und industriellen Revolution, der sozialen Frage und der Sonder- wegsdebatte vgl. zusammenfassend: Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte: Band 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, Munchen 1995, S. 1250-1295.

[18]Die Verfassung der Weimarer Republik ist im Internet einsehbar: www.dhm.de/lemo/html/dokumente/ verfassung/index.html (abgerufen 11.04.2011).

[19]Zahlen bei: Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte: Band 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Grundung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, Munchen 2003, S. 454.

[20]Vgl. dazu die Studie von Rita Weber: Die Neuordnung der preufiischen Volksschullehrerbildung in der Weimarer Republik: Zur Entstehung und gesellschaftlichen Bedeutung der Padagogischen Akademien, Frankfurt a. M. 1984, S. 241-259.

[21]Zur Niederlagenerfahrung der Lehrer im Besoldungskonflikt und den Konstitutionsprozess der Lehrervereine siehe: Wilfried Breyvogel: Die soziale Lage und das politische Bewufitsein der Volksschullehrer 1927-1933: Eine Studie zur Gewerkschaftsfrage in der Volksschullehrerschaft, Regensburg 1979, S. 16-30 u. 45-61.

[22]Wilfried Breyvogel: Die soziale Lage und das politische Bewufitsein der Volksschullehrer 1927 1933, S. 174.

[23]Vgl. Rainer Bolling: Volksschullehrer und Politik: Der Deutsche Lehrerverein 1918-1933, Gottingen 1978, S. 203-209.

[24]Vgl. ebd., S. 227-228.

[25]Die folgenden Ausfuhrungen zur NS-Ideologie erheben nicht den Anspruch auf Vollstandigkeit.

[26]Vgl. Karl-Heinz Hillmann: Worterbuch der Soziologie, Stuttgart 1994, S. 352. Vgl. auch Kurt Lenk (Hg.): Ideologie: Ideologie und Wissenssoziologie, Darmstadt 1978, S. 50-52.

[27]Vgl. ebd., S. 34.

[28]Karl Korsch: Der prazise marxistische Ideologiebegriff. In: Iring Fetscher: Der Marxismus: Seine Geschichte in Dokumenten: Philosophie, Ideologie, Okonomie, Soziologie, Politik, Munchen 1968, S. 154-155.

[29]Vgl. Karl-Heinz Hillmann: Worterbuch der Soziologie, S. 353. Vgl. Karl Mannheim: Wissenssoziolo- gie: Auswahl aus dem Werk, Berlin und Neuwied 1964, S. 322-323.

[30]Vgl. Peter Widmann: Sozialdarwinismus. In: Wolfgang Benz u. a. (Hg.): Enzyklopadie des National- sozialismus, Stuttgart 1997, S. 739.

[31]Adolf Hitler: Mein Kampf, Munchen 1937, S. 315-317.

[32]Hans F. K. Gunther: Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes, Munchen und Berlin 1943, S. 11.

[33]Adolf Hitler: Mein Kampf, S. 317.

[34]Ebd., S. 324.

Ebd., S. 325-326.

[35]Hans F. K. Gunther: Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes, S. 38.

[36]Ebd., S. 40.

[37]Ebd., S. 43-46.

[38]Ebd., S. 73-76.

[39]Adolf Hitler: Mein Kampf, S. 334. Vgl. Werner Bergmann: Antisemitismus. In: Wolfgang Benz u. a.

[40](Hg.): Enzyklopadie des Nationalsozialismus, Stuttgart 1997, S. 366.

[41]Adolf Hitler: Mein Kampf, S. 330, 334, 357.

[42]Ebd., S. 334. Daneben wurden die Charaktereigenschaften und korperlichen Merkmale wiederholt auf Hetzplakaten der NSDAP sowie im Film „Jud Sufi“ (1940) thematisiert. Vgl. Juliane Wetzel: Jud Sufi. In: Wolfgang Benz u. a. (Hg.): Enzyklopadie des Nationalsozialismus, S. 531.

[43]Winfried Noack: Die NS-Ideologie, Frankfurt a. M. 1996, S. 49-50.

[44]Adolf Hitler: Mein Kampf, S. 374.

[45]Vgl. Michael Haibl: Volksgemeinschaft. In: Wolfgang Benz u. a. (Hg.): Enzyklopadie des National­sozialismus, S. 786.

[46]Vgl. Gunter Neliba: Fuhrerprinzip. In: Ebd., S. 475.

[47]Adolf Hitler: Mein Kampf, S. 378-379.

[48]Vgl. Winfried Noack: Die NS-Ideologie, S. 34-36.

[49]Adolf Hitler: Mein Kampf, S. 737.

[50]Gottfried Feder: Das Programm der N.S.D.A.P. und seine weltanschaulichen Grundgedanken, Munchen 1930, S. 19.

[51]Adolf Hitler: Rede in Reichenberg am 02.12.1938. Abgedruckt im Volkischen Beobachter vom 04.12.1938, zitiert nach Benjamin Ortmeyer: Schulzeit unterm Hitlerbild, Analysen, Berichte, Dokumente, Frankfurt am Main 1996, S. 21.

[52]Adolf Hitler, zitiert nach Hermann Rauschning: Gesprache mit Hitler, Zurich, New York 1973,

S. 237.

[53]Vgl. Franz Rodehuser: Epochen der Grundschulgeschichte, Bochum 1989, S. 273.

[54]Adolf Hitler: Mein Kampf, S. 459.

[55]Vgl. Ulrich Herrmann: Probleme einer „nationalsozialistischen Padagogik“. In: Ulrich Herrmann (Hg.): Die Formung des Volksgenossen, Weinheim, Basel 1985, S. 9-24, hier S. 10-20. Herrmann beschreibt, wie sich Hitlers Weltanschauung aus verschiedenen Einflussen entwickelte, bis auch padagogische Maximen abgeleitet werden konnten.

[56]Karl Christoph Lingelbach: Erziehung und Erziehungstheorien im nationalsozialistischen Deutsch­land, S. 28.

[57]Adolf Hitler: Mein Kampf, S. 464, zitiert nach: ebd., S. 29-31.

[58]Zum Uberlegenheitsgefuhl und Sozialdarwinismus im Nationalsozialismus vgl. Benjamin Ortmeyer: Schulzeit unterm Hitlerbild, Analysen, Berichte, Dokumente, Frankfurt a. M. 1996, S. 20.

[59]Adolf Hitler: Mein Kampf, S. 456.

[60]Vgl. ebd., 1937, S. 459-460.

[61]Karl Christoph Lingelbach: Erziehung und Erziehungstheorien im nationalsozialistischen Deutsch­land, S. 32

[62]Adolf Hitler in seiner Rede vor SA-Fuhrern in Bad Reichenhall am 03.07.1933, zitiert nach ebd., S. 32.

[63]Vgl. Renate Preising: Willensschulung, Zur Begrundung einer Theorie der Schule im Nationalsozia­lismus, Koln 1976, S. 103-105. Preising sieht im Erziehungsbegriff des Nationalsozialismus eine „Erziehung hin zur Haltung“, eine „Charakterformung“, welche die Reflexion des Individuums unterdruckt und sein Werden ausschlieBlich einem auBeren Ziel folgen lasst. Der „Erzogene“ kann sich somit nicht mehr freimachen vom „irrationalen Weltbild der kulturellen Umwelt“.

[64]Georg Schwingl: Die Pervertierung der Schule im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zum Begriff „Totalitare Erziehung“, Regensburg 1993, S. 115. Schwingl fuhrt weiter aus, dass die Semantik nach und nach ebenfalls verandert wurde. Die militarischen Begriffe, so die Intention, sollten eine verstarkt positive Konnotation erhalten.

[65]Alfred Rosenberg: Gestaltung der Idee, Munchen 1942, S. 23, zitiert nach: Ernst Piper: Alfred Rosen­berg. Hitlers Chefideologe, Munchen 2005, S. 323.

[66]Zur Einfuhrung der Adolf-Hitler-Schulen vgl. Michael Wortmann: Baldur von Schirach, Hitlers Jugendfuhrer. Bohlau, Koln 1982, S. 144.

[67]Karl Christoph Lingelbach: Erziehung und Erziehungstheorien im nationalsozialistischen Deutsch­land, S. 67-77.

[68]Franz Rodehuser: Epochen der Grundschulgeschichte, S. 282.

Ende der Leseprobe aus 116 Seiten

Details

Titel
Die nationalsozialistische Ideologie im Deutschunterricht der Volksschulunterstufe
Hochschule
Universität Hamburg
Autor
Jahr
2012
Seiten
116
Katalognummer
V194240
ISBN (eBook)
9783656198635
ISBN (Buch)
9783656200031
Dateigröße
2462 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nationalsozialismus, NS, Schule im NS, Volksschule, Grundschule, Ideologie, 1933, 1945
Arbeit zitieren
Alexander Hochgräfe (Autor:in), 2012, Die nationalsozialistische Ideologie im Deutschunterricht der Volksschulunterstufe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/194240

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