Leseprobe
Inhaltsangabe
1. Einführung
2. Der Vampir in Literatur und Legende
3. Präsentation der verwendeten Primärliteratur
3.1 Stephenie Meyer: Die "Bis(s)"-Reihe
3.1.1 Informationen zu Werk und Autor
3.1.2 Inhalt der Romanreihe
3.2 Wolfgang Hohlbein: "Wir sind die Nacht"
3.2.1 Informationen zu Werk und Autor
3.2.2 Inhalt des Romans
4. Vergleich der beiden Romane
4.1 Lena und Bella: zwei Außenseiterinnen als Hauptfiguren
4.2 Ausgewählte Genderkonstruktionen bei Meyer und Hohlbein
4.3 Selbstreferenz und Neuordnung der Genrekonventionen
4.4 Religiöse und philosophische Ansätze in beiden Romanen
5. Zur Rezeption der Romane von Meyer und Hohlbein
5.1 Faszination von Jugendlichen durch Vampire
5.2 Mediale Inszenierung als Popularitätsschub
6. Fazit und Ausblick
7. Literatur- und Quellenangaben
1. Einführung
Betrachtet man die in Literatur und Film über die Dekaden beschriebenen Schauergestalten, so lässt sich ironischerweise dem untoten Vampir die längste Lebensdauer zuschreiben. Nicht nur das: er erfreut sich, nicht zuletzt durch den großen Erfolg der mittlerweile auf vier Teile angewachsenen „Bis(s)...“-Romanreihe von Stephenie Meyer derzeit wieder einer außerordentlichen Beliebtheit. Dem enormen Erfolg der Bücher folgte ein nicht minder großer bei den Verfilmungen; der vierte Roman wird in zwei Teilen auf die Leinwand gebannt, wobei der zweite Teil in diesem Herbst in den Kinos starten wird. Fast scheint es sogar so zu sein, als würden die Protagonisten, das menschliche Mädchen Bella Swan und der Vampir Edward Cullen, mit ihrer verbotenen Liebe eine ganze Generation Jugendlicher prägen. Oder ist es gar andersherum und ist es die "heutige Jugend", die durch die Herausstellung eigener Subkulturen dem Vampir des 21. Jahrhunderts ein neues Gesicht verleiht? Die Leserschaft der „Bis(s)...“-Reihe reicht jedoch auch hoch bis ins Erwachsenenalter. Damit hat sich, so scheint es, der Vampir emanzipiert: vom Gegenstand alter Mythen und Legenden aus den entlegendsten Teilen vor allem Osteuropas[1] bis hin zu einer literarischen Figur in phantastischen Romanen (allen voran ist hier natürlich Bram Stokers „Dracula“[2] zu nennen); über eine beliebte Figur in Horrorfilmen bis hin zu einem festen Teil der heutigen Gesellschaft mit neuen, menschlicheren Rollendefinitionen. Der Vampir in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts haust nicht mehr in verlassenen Burgen im Siebenbürgenland oder in Transsylvanien; er gleicht auch nicht mehr dem nahezu greisen Hausherrn mit Perücke und Umhang, den Schlaf am Tag ausschließlich im Sarg findend. Statt dessen ist er jung, schön und geht aufs College. Oder, auf der anderen Seite: er bestimmt das Nachtleben deutscher Großstädte mit seinen Clubs und seiner extravaganten Dekadenz.
Denn dass sich auch die hiesige Schriftstellerzunft dem neu erstarkten Phänomen annehmen würde, blieb zu erwarten, genau wie mittlerweile unzählige andere Bücher, Filme und Fernsehserien dem Erfolg von Stephenie Meyers "Bis(s)"-Reihe nacheifern. Mit "True Blood" und "Vampire Diaries" führen derzeit zwei sehr erfolgreiche TV-Formate in den Vereinigten Staaten das Erbe der neuen Vampire weiter.
Das prominenteste Beispiel hierzulande stammt hierbei von Wolfgang Hohlbein, seines Zeichens Deutschlands bekanntester Autor von Fantasy-Romanen (so sehr auch sein Ruf als Produzent von Massenware sich mit dem des bewundernswerten Vielarbeiters abwechselt), der nach dem Drehbuch von Jan Berger (und somit zu dem dazugehörigen Film von Dennis Gansel) mit „Wir sind die Nacht“ seinen Beitrag zum Genre leistete. Hier spielen drei weibliche Vampire die Hauptrolle, die ein Mädchen aus einem Berliner Problembezirk in ein dekadentes Nachtleben in Unsterblichkeit einführen. Durch die Tatsache, dass Hohlbein seinen Roman lediglich auf dem von Jan Berger geschriebenen Drehbuch basieren ließ und ganze (für die folgende Ausarbeitung durchaus bedeutsame) Handlungsstränge hinzu verfasste, kann das Werk allerdings durchaus als eigenständig betrachtet werden und ist, da die Vorlage bereits lange vor dem Erfolg der "Bis(s)"-Romane entstanden war, demnach dem Vorwurf der „Trittbrettfahrerei“ weitgehend zu Unrecht ausgesetzt.
Vielmehr ist es interessant, zu beobachten, wie sich unterschiedliche Autoren und Filmproduzenten, Kritiker und Fans, mit einem Jahrhunderte alten Phänomen nach wie vor so intensiv auseinandersetzen, dass eine derartige Umcodierung einer Gestalt wie dem Vampir in dem derzeit erlebten Umfang tatsächlich noch möglich ist. Auch, wenn fraglos viele Autoren vom derzeitigen Erfolg des Genres zu profitieren versuchen, findet doch jeder andere Blickwinkel auf Mythen und Legenden, auf Neuordnung des Genres und Einbettung ins Jetzt.
Dies soll Gegenstand der folgenden Ausarbeitung sein. Anhand der literarischen und, zumindest partiell, auch filmischen Beispiele von Stephenie Meyers "Bis(s)"-Reihe und Wolfgang Hohlbeins "Wir sind die Nacht" soll die Fragestellung, inwiefern die Entwicklung und Umcodierung des Vampirs vom Nachtschwärmer zum Puritaner und Popstar, den er im Heute verkörpert, vollzogen worden ist.
Dabei lohnt es sich einführend, das Augenmerk auf die soeben verwendeten Begrifflichkeiten zu legen, um die Relevanz der folgenden Ausführungen zu verdeutlichen. Wo der Nachtschwärmer als Synonym für den Vampir als solches verstanden werden kann, dessen Definition im Duden - ein "(nach dem Volksglauben) Toter, der nachts als unverwester, lebender Leichnam dem Sarg entsteigt, um Lebenden, besonders jungen Mädchen, Blut auszusaugen, indem er ihnen seine langen Eckzähne in den Hals schlägt"[3] - wohl dem Bild entspricht, das die meisten bei diesem Begriff vor sich sehen, lohnt es sich, beim Puritaner und Popstar genauer hinzuschauen. Auch unter dem Popstar können wir uns grundsätzlich viel vorstellen. Der Duden versteht darunter unter anderem jemanden, "der auf einem bestimmten Gebiet Berühmtheit erlangt hat"[4]. Gehen wir davon aus, dass der in der Popkultur verortete und in der Öffentlichkeit präsente Star eine Idolfunktion hat, sei noch angefügt, dass er demzufolge als "Gegenstand schwärmerischer Verehrung, meist als Wunschbild von Jugendlichen"[5] fungiert. Der Puritaner nun bezeichnet einen Anhänger des Puritanismus, einer Form christlichen Glaubens, die sich durch explizit praktizierte Prüderie und Sittlichkeitsfanatismus auszeichnet[6]. Wenn wir annehmen, dass ein Puritaner gleichzeitig mit seinen gelebten Werten als Popstar fungieren kann und zudem nicht nur mit einer ursprünglich diabolischen, vielfach mit Satan selbst in Verbindung gebrachten Kreatur wie dem Vampir, sondern auch mit dessen Sinnlichkeit und seiner im Lexikon der Phantastischen Literatur explizit beschriebenen Sexualität und Erotik[7] in Verbindung gebracht werden kann, ist dies durchaus als bemerkenswert zu bezeichnen.
Zunächst soll anhand eines Blicks auf die Historie eine Wissensbasis über das Auftauchen und die Besonderheiten von Vampiren geschaffen werden. Dieser Punkt beinhaltet auch die Entwicklung von der Gestalt aus Mythen und Überlieferungen bis hin zu dem, was wir heute unter dem Begriff "Vampir" verstehen. Der zitierte Eintrag im Duden hilft, dieses heute allgemeingültige Bild zu formen. Diese Ursprungs- und Entwicklungsbeschreibung ist deshalb bedeutsam, da, wie sich zu späterem Zeitpunkt herausstellen wird, die Protagonisten - ob menschlich oder vampirisch - ein zum Teil durchaus explizites Wissen über Vampirmythen und Vorkommen in der Literatur aufweisen. Weiter sollen die "Bis(s)"-Reihe und "Wir sind die Nacht" zunächst in ihren wesentlichen Zügen präsentiert, dann eingehender miteinander verglichen werden. Dabei liegt ein besonderer Fokus auf der Faszination von Vampiren auf gesellschaftliche Außenseiter; es wird die hohe Intertextualität und Selbstreferenz innerhalb der Romane herausgestellt, gebunden an die damit verbundenen Neuordnungen im Genre. Weiterhin soll, um die Geschlechtskonstruktionen des neuen Vampirs und damit dessen Umcodierung in ein gesellschaftliches Wesen in der heutigen Zeit zu verdeutlichen, an ausgewählten Aspekten der Genderforschung herausgestellt werden, inwieweit ein Umbruch stattgefunden oder auch nicht stattgefunden hat.
Die Transformation des Vampirs in einen Puritaner und Popstar, die wie ausgeführt inhaltlich vielleicht zunächst augenscheinlich einen Widerspruch darstellt, soll anhand ausgewählter Beispiele religiösen und philosophischen Subtextes innerhalb der Romane sowie eines Erklärungsversuchs der außerordentlichen Faszination, den Vampire heutzutage auf Jugendliche ausüben, anhand der Merkmale der dieser Tage omnipräsenten Emo-Kultur veranschaulicht werden. Eine wichtige Rolle spielt hierbei fraglos auch die Aufbereitung der Romanvorlagen in abendfüllende Kinofilme sowie die Einbettung der neuen Medien. Der konkrete Einfluss, speziell des Mediums Film, soll anhand des Starkults um die Hauptdarsteller Robert Pattinson und Taylor Lautner, letzterer stellt in "Twilight" den Werwolf dar, verdeutlicht werden. In einem Fazit soll im Hinblick auf die getätigten Beobachtungen der Faszination der neuen Vampire auch auf die Erwachsenengeneration jenseits der 20 auf den Grund gegangen werden; gleichzeitig wird versucht, einen Ausblick auf eventuelle weitere Forschungen zu richten.
2. Der Vampir in Literatur und Legende
„In Schlesien, und zwar in einem Dorfe Hozeploz genannt, sollen die Menschen nach
dem Tode sehr oft zu den ihrigen zurückkommen, mit ihnen essen und trinken, ja gar
mit ihren hinterlassenen Weibern sich fleischlich vermischen. Wenn reisende Leute zu
der Zeit, da sie aus den Gräbern herauskommen, durch das Dorf passieren, lauffen sie
ihnen nach und hucken ihnen auf ihre Rücken.“
(Tharsander, Schauplatz vieler ungereymter Meinungen, 1736) [8]
Das Lexikon der Phantastischen Literatur definiert den Vampir als "ambivalentes Wesen, das seinen Opfern, deren Blut er nachts aussaugt, um seine unheilige Existenz weiterzuführen, Angst, aber auch Lust einflößt"[9]. Möchte man versuchen, im Genre der Vampirliteratur Genrekonventionen zu bestimmen, erweist es sich als notwendig, das Augenmerk auf die Entwicklung des Genres sowie – weit grundlegender – auf die überlieferten, „tatsächlichen“ Vorkommnisse von Vampiren in der Geschichte zu lenken. Schließlich liegen vor allem die über Dekaden weitergetragenen Mythen und Legenden dem, was wir heute unter der klassischen Vampirgeschichte verstehen, zugrunde. Und nicht nur wir real existierenden Menschen kennen diese Geschichten: auch Bella Swan in der "Bis(s)"-Reihe und Lena aus "Wir sind die Nacht" kennen Dracula und sogar einige seiner Vorreiter.
Das zum Einstieg in dieses Kapitel gewählte Zitat geht zurück auf eine Legende aus dem Jahr 1736 und beschreibt sehr treffend die Ursprünge des Vampirmythos. Zwar hatte es auch zuvor bereits vereinzelt Aufzeichnungen über Wiedergänger oder Untote gegeben; ein zusammenhängendes, verbreiteteres Bild konkretisierte sich jedoch erst in dieser Zeit. Es handelte sich tatsächlich nicht von vornherein um das in fiktionalen Geschichten gezeichnete Bild des Blutsaugers aus der alten Schlossruine, sondern beginnt mit merkwürdigen Ereignissen in Verbindung mit angeblich auferstandenen Verstorbenen. Weiterhin wird in Überlieferungen häufiger von Schmatzlauten berichtet, die aus Gräbern an die Ohren der Vorbeikommenden drangen und im betreffenden Dorf ein großes Sterben nach sich ziehen. Dies wurde auch mit dem Auftreten der Pest in Verbindung gebracht:
„Man hat in Pestilenzzeiten erfahren, daß tote Leute, sonderlich Weibespersonen,
die an der Pest gestorben, im Grabe ein Schmätzen getrieben, als ein Saw, wenn sie isset: und das bey solchem Schmätzen die Pest heftig zugenommen, und gemeiniglichen im selben Geschlecht die Leute häufig nacheinander gestorben...“
(Martin Böhm, Predigten, 1601) [10]
Auch Martin Luther berichtet von derartigem aus seinem Geburtsort Wittenberg. Ein Pfarrherr habe ihm davon berichtet, dass „ein Weib auf einem Dorf gestorben wäre, und nun, weil sie begraben, fresse sie sich selbst im Grabe“[11]. Die Leute aus dem Dorf seien daraufhin vor Angst gestorben; vor Angst und Aberglaube.
Der französische Mediävist Claude Lecouteux unterscheidet bei den Vorläufern des in seinen grundsätzlichen Eigenschaften heute bekannten Vampirs gar zehn verschiedene Typen:
- den Rufer[12], der als Toter leibhaftig aufersteht und tötet, indem er die sterbende Person beim Namen ruft;
- den Klopfer[13], der bei den Menschen an die Türe klopft, woraufhin diese dem Wahn
verfallen und daran sterben;
- den Besucher[14], der aus seinem Grab steigt um bei den Dorfleuten Todesangst zu schüren;
- den Verschlinger[15], der weniger den Menschen das Blut aussaugt, als sie vielmehr ganz und gar zu verspeisen (was der Vampirthematik auch den Aspekt des
Kannibalismus beifügt);
- den Neuntöter[16], dazu auserkoren, genau neun seiner leiblichen Verwandten den Tod zu bringen;
- den Aufhocker[17], der im eingangs verwendeten Zitat bereits beschrieben wurde;
- den Alp[18], als zweites Ich einer Hexe oder als Untoter den Schlafenden angreifend und ihn würgend, ihnen auch das Blut aussaugend;
- den Würger[19], der dem Vampir in seiner Lebensweise (Schlaf im Sarg etc.) am ehesten ähnelt, allerdings eher als untoter Mörder von Schlafenden (ähnlich dem Alp) beschrieben und nicht explizit als Blutsauger bezeichnet wird;
- den Nachzehrer[20], der Legende über das Schmatzen aus Gräbern zuzuordnen, das vom Verzehr des Leichentuchs im Sarg stammt und nicht direkt tötet, sondern vielmehr durch eine Art „sympathetische Magie“[21] den sich nähernden Menschen den Tod bringt; sowie
- den Wiedergänger in Tiergestalt[22], häufig in der von Hunden oder Kälbern und nicht,
wie später in der Literatur verwendet, in der von Fledermäusen; zur
Mitternachtsstunde Reisende verfolgend und anfallend, die später an den dadurch
entstandenen Verletzungen verstarben.
Gemeinsam haben all diese Vampirvorläufer die Wiederauferstehung nach dem Tode; die (mitter)nächtliche Stunde als Zeitpunkt ihrer Angriffe sowie die tödliche Wirkung auf die von ihnen angegriffenen Menschen.
Die ersten Berichte über den Vampir in Form des Blutsaugers, den wir heute kennen, gehen zurück auf das Jahr 1732 und basieren auf den Aufzeichnungen von Feldchirurgen des Alexandrischen Regiments, die im Königreich Servien[23] an der türkischen Grenze auf ein Dorf gestoßen waren, in dem Gerüchte über Personen kursierten, denen das Blut ausgesaugt wurde[24]. Des Mordes verdächtigt wurde ein Dorfbewohner namens Arnod Paole, der zuvor unter Angriffen eines nicht näher definierten Vampirtyps litt und wiederholt bei okkulten Praktiken wie dem Einreiben mit Blut von Toten beobachtet wurde. Nach seinem Tod sei er wiederholt gesehen worden, woraufhin man sein Grab öffnete um festzustellen, dass Paole „gantz vollkommen unverwesen sey, auch ihm das frische Blut zu denen Augen, Nasen, Mund und Ohren herausgeflossen“[25]. Es soll auch beobachtet worden sein, dass Paole „nicht allein die Leute, sondern auch das Vieh angegriffen, und ihnen das Blut ausgesauget habe.“[26] Hier wird auch erstmals von dem Töten eines Vampirs durch einen hölzernen Pflock, der ihm durchs Herz getrieben werden müsse, berichtet. Die Leute, die von Angriffen durch Paole berichteten, seien ebenfalls hingerichtet worden, da „alle diejenige, welche von denen Vampirn geplaget und umgebracht würden, ebenfalls zu Vampirn werden müssen.“[27] , was man durch die Hinrichtung verhindern wollte. Ferner wird der Tod von weiteren Dorfbewohnern mit dem Verzehr des Fleisches der von Paole gebissenen Tiere in Verbindug gebracht[28]. Erwähnt wird in diesen Aufzeichnungen auch der Name Milloe, den Lecouteux ebenfalls bei seiner Abhandlung über den Vampirtyp Würger unter Berufung auf die selbe Quelle als Vampir nennt. Weiter werden in den Aufzeichnungen Befunde von exhumierten Leichen, die in Verbindung mit Vampirangriffen genannt wurden, beschrieben[29]. Stets erwähnt wird immer wieder eine bemerkenswerte körperliche Unversehrtheit; selbst bei Toten, die längst verfallen gewesen sein müssten: „Die Haut an Händen und an Füssen, samt den alten Nägeln fielen von sich selbst herunter, hergegen zeigeten sich nebst einer frischen und lebhafften Haut, gantz neue Nägel.“[30]
Betrachtet man die historischen Aufzeichnungen zum Vorkommen von Vampiren, fällt auf, dass sich – später in der Literatur reichlich aufgegriffen – als Gebiet mit den meisten überlieferten Vampirangriffen der Balkan und Osteuropa im Allgemeinen herauskristallisiert. Angesichts der vielen unterschiedlichen Auslegungen des Vampirbegriffs wie bei Lecouteux (s.o.) lohnt demnach ein Blick auf die mythologische Herkunft. Der Kulturwissenschaftler Norbert Borrmann nennt vor allem fünf verschiedene Erscheinungen, aus denen sich das heute geläufige Bild des Vampirs zusammensetzt. Dazu gehören neben Wesen, die Werwölfen ähneln (sogenannten Ghoulen) und Hexen (beide selbst mit eigener mythologisch wie faktisch fundierter Historie) auch untote Wiedergänger, nachtaktive Geister von Verstorbenen sowie andere als Blutsauger bezeichnete Wesen[31]. Claude Lecouteux wird bei den Zuordnungen konkreter und nennt elf Einflüsse auf heutige Vampire. Neben den bereits genannten Hexen und Werwölfen erwähnt er unter anderem den russischen Vârkolac[32], sich zusammensetzend aus Leichnam und Dämon, in Gestalt eines kleinen schwarzen Kindes das Blut saugend und Bissmale an der Brust des Opfers hinterlassend. Weiter nennt er den bulgarischen Grobnik[33] ; den Opyr[34], der auf verschiedene Herkünfte zurückgeht (polnisch: upierczyk; nordtürkisch: uber; griechisch: apyros; serbisch: piriti) und vom Namen her so viel bedeutet wie „fliegendes Gespenst“; den im Slawischen bekannten und durch Tolstoi und Puschkin ins Russische übertragenen Vurdalak[35] oder den griechischen Broukolakos[36]. Vom Wortstamm ist durch die in der Literatur durch Bram Stoker in „Dracula“ vorgenommene Verwendung des Begriffs der rumänischstämmige Nosferat[37] geläufig. Der Regisseur F.W. Murnau nannte seine „Dracula“-Verfilmung 1922 „Nosferatu“.
Wolfgang Hohlbein bedient sich in „Wir sind die Nacht“ mehrfach des rumänischen Begriffs des Strigoi[38], projiziert diesen allerdings in einen russischstämmigen Kontext. Dieser ausschließlich männliche Vampir wird in den Aufzeichnungen von Lecouteux in seinem Äußeren eher dämonengleich beschrieben, „barfuß, […] wie ein mit Haut bedecktes Skelett, manchmal wie kräftige Zwerge“[39]. Auch wird er als Wesen mit Pferdehufen und Gänsefüßen vorgestellt.
Ebenfalls aus dem Rumänischen stammt der weiterhin von Lecouteux genannte Moroiu[40]. Der Stafia[41], ein in Frauen- oder Tiergestalt auftauchender Wiedergänger, wird hier keiner eindeutigen Herkunft zugeordnet.
Lecouteux zufolge vereinen sich die Merkmale dieser unterschiedlichen Vampirbezeichnungen mit den ihnen eigenen, dazugehörigen Legenden zu dem, was wir im Deutschen bzw. im Romanischen als Vampir kennen. Im Laufe der Zeit, so Lecouteux weiter, sind Unterschiede zwischen den einzelnen, je nach Herkunft unterschiedlichen Formen von Wiedergängern durch die Überlieferungen ignoriert und getilgt worden, bis sich im Wesentlichen folgende drei Merkmale als allgemeingültig bewährt haben: das Auftauchen zur Mitternacht, die menschliche Herkunft und das Saugen von Blut.
Das Thema des Untoten, des Wiedergängers, hatte in der Literatur bereits Einzug erhalten bevor von Vampiren als solchen gesprochen werden konnte. Eine Erklärung könnte sein, dass die Thematik durch ihre Überlieferung in diversen Auslegungen von Volksglauben zu Volksglauben variierend, aber dennoch ausgebreitet existent war. Der allumfassende Wandel des Vampirs von einer realen Bedrohung in eine Figur aus der Literatur könnte jedoch auch dadurch erklärt werden, dass die österreichische Kaiserin Maria Theresia den Vampirglauben 1755 offiziell verbieten ließ[42] und zudem die Epoche der Aufklärung anbrach, die keine Angst vor wahrhaftigen Vampiren mehr zuließ – was wiederum dazu führte, dass der Vampir in der fiktionalen Literatur Verwendung fand. Vor allem in der Romantik lassen sich bereits Vorläufer heutiger Vampirromane finden. So griff beispielsweise E.T.A. Hoffmann das Motiv des Wiedergängers in seinen Werken „Die Elixiere des Teufels“ (1815) und „Der Sandmann“ (1817) auf, weniger allerdings verbunden mit einem Glauben an Schauergestalten aus Sage und Legende und auch die zentralen, den Wiedergänger als Vampir kennzeichnenden Aspekte aussparend, sondern den Teufel persönlich fürchtend. Dem Vampirmotiv näher hatte zuvor bereits Johann Wolfgang Goethe gestanden, der mit „Die Braut von Korinth“ (1798) die untote Geliebte des Jünglings als Frau von starrem Blut mit Haut „so kalt wie eis“[43], Blut trinkend darstellte. Der Vampir passte in seinen Eigenschaften als zwar im Grunde toter, dafür aber ewig junger und schöner Mensch trefflich in die Phantastik dieser Zeit.
Claude Lecouteux versteht als Gründerväter des Vampirromans die englischen Autoren John William Polidori, J. Sheridan Le Fanu sowie Bram Stoker[44]. Polidoris „Der Vampyr“ von 1819 gilt heute als erster Vampirroman überhaupt; Le Fanu brachte mit seiner Erzählung „Carmilla“ (1872) sowohl eine sadistische als auch eine sexuelle und gleichzeitig weiblich-homoerotische Komponente in das Genre und stützte sich damit auf die aus der klassischen Antike geläufigen Goules und Empusen[45], wie es zuvor bereits Alexej Tolstoj in seiner Erzählung „Die Familie des Vurdalak“ (1839), in der eine russische Familie durch die Vampirwerdung des Vaters dezimiert wird, und Théophile Gautier in „La Mort Amoureuse“ (1836) getan hatten. Le Fanu bezog sein Wissen über Vampire aus einer Abhandlung über Vampirologie des Augustinermönches Dom Calmet (1749) und beruft sich auf die überlieferte Legende des polnischen Upyr. Er stellt seine Carmilla als Wesen mit spitzen Eckzähnen und in Gestalt einer riesigen Katze dar, das letztlich durch den bekannten Pflock, der ihr durchs Herz getrieben, vernichtet wird. Durch die Darstellung von Erotik und Sexualität in diesem Roman wird das Treiben eines Pflockes ins Herz des Vampirs sexuell konnotiert[46].
Als das zentralste Werk für das phantastische Subgenre Vampirroman steht allerdings bis heute Bram Stokers „Dracula“ (1897). Stoker prägte mit seinem Roman die heute gängigsten Vampirklischees wie das Leben im Schloss, das Saugen von Blut, die Fähigkeit zur Verwandlung in Tiere und das Schwinden der Kraft des Vampirs bei Tagesanbruch. Und er arbeitete intertextual: seine Informationen über Vampire erlangte er im Vorfeld durch die ausgiebige Lektüre osteuropäischer Überlieferungen zum Auftauchen von Vampiren[47]. Außerdem stellte er mit Abraham Van Helsing dem Vampir erstmals eine bis heute oft variierte, in der Vampirologie bewanderte Nemesis gegenüber, die neue Formen der Vampirbekämpfung einbrachte und Knoblauch als für Vampire schädlich etablierte. Laut Lecouteux war jedoch der Einsatz von Knoblauch in Rumänien schon gang und gebe; er wurde „in den Mund, die Nase und die Ohren des Toten [gesteckt], damit er sich nicht in einen Wiedergänger (strigoi) verwandle.“[48]
Bis heute gab es in der Literatur unzählige Nachkömmlinge der klassischen „Dracula“-Geschichte. In filmischer Hinsicht sind bei den klassischen Werken vor allem F.W.Murnaus „Dracula“-Verfilmung „Nosferatu“ sowie die ersten Dracula-Filme der Hammer-Studios zu nennen. Der Vampir hat in der jüngeren Filmgeschichte die unterschiedlichsten Darstellungsformen erfahren. Die Bandbreite reicht von grotesk mutierte Kreaturen in Robert Rodriguez’ „From Dusk Till Dawn“ (1996) über den melancholischen Dandy in Neil Jordans Anne-Rice-Verfilmung „Interview mit einem Vampir“ (1994) bis hin zum von Selbstscham und Verzweiflung getriebenen Kindvampir in Tomas Alfredssons „So finster die Nacht“ (2008) nach dem Roman von John Ajvide Lindqvist, in dem das Mädchen Eli sich sogar einem pädophilen Mann anbietet, damit dieser Blut für sie beschafft.
[...]
[1] vgl. Zondergeld (1983), S. 296 ff.
[2] Bram Stoker: Dracula, 1897
[3] siehe Duden Online (2011)
[4] siehe ebd.
[5] siehe ebd.
[6] vgl. Betz u.a. (Hrsg.) (2008), S. 37ff.
[7] vgl. Zondergeld (1983), S. 297: "Der Biß des Vampirs, der auch das Opfer zum Vampir macht, hat eine rein sexuelle Komponente. Der V.-Mythos wurde vor allem im 19. Jahrhundert dazu benutzt, "perverse" erotische Beziehungen auf verhüllte Weise zu schildern; die Nähe zwischen phantastischer und erotischer Literatur bleibt immer spürbar."
[8] siehe Sturm / Völker (Hrsg.) (1973), S. 11, Z. 12ff
[9] siehe Zondergeld (1983), S. 297
[10] siehe Sturm / Völker (Hrsg.) (1973), S. 9, Z. 23ff.
[11] siehe ebd., S.9, Z.6ff.
[12] vgl. Lecouteux (2008), S. 74 ff.
[13] vgl.ebd., S.77ff.
[14] vgl.ebd., S.79ff.
[15] vgl.ebd., S.83ff.
[16] vgl.ebd., S.87ff.
[17] vgl.ebd., S.90
[18] vgl.ebd., S.90ff.
[19] vgl.ebd., S.92ff.
[20] vgl.ebd., S.95ff.
[21] siehe ebd., S.95, Z.24
[22] vgl. ebd., S.100ff.
[23] heute: Serbien
[24] vgl. Sturm / Völker (Hrsg.) (1973), S.17
[25] siehe ebd., S.18, Z.11ff.
[26] siehe ebd., S.18, Z.26ff.
[27] siehe ebd., S.18, Z.22ff.
[28] vgl. ebd., S.18. Z.38
[29] vgl. ebd., S.19ff
[30] siehe ebd., S.19, Z.21ff.
[31] vgl. Borrmann (1999), S. 47
[32] vgl. Lecouteux (2008), S.103
[33] vgl. ebd., S.104
[34] vgl. ebd.
[35] vgl. ebd., S.105
[36] vgl. ebd., S.106
[37] vgl. ebd., S.110
[38] vgl. ebd., S.111
[39] siehe ebd., S.112, Z.
[40] vgl. ebd., S.113
[41] vgl. ebd., S.114
[42] vgl. Helm (2008), S. 11
[43] Goethe, Johann Wolfgang: Die Braut von Korinth. In: Sturm / Völker (Hrsg.) (1986) S.15-20, Z.111
[44] vgl. Lecouteux (2008), S.18
[45] vgl. ebd., S.21
[46] vgl. Zondergeld (1983), S. 297
[47] vgl. ebd.
[48] siehe ebd., S.27, Z.8ff.