Leseprobe
Inhalt
I. Kunst als Totenbeschwörung
II. Zivilisationskritik am Beispiel des "writers block"
III. Zur Problematik des Erinnerns Seite
Inschrift des Schweigens
I. Kunst als Totenbeschwörung
Heiner Müllers lyrischer Text "Mommsens Block"[1] lässt sich, abgesehen von einigen Gedichten[2], als seine erste literarische Reaktion auf die das Ende der statischen Ost-West-Teilung markierenden Ereignisse von 1989 aufnehmen. Müllers dramatisches Werk stand seit jeher - rezeptionsästhetisch gesehen - im Zeichen der Mauer, deren fragwürdige Legitimation letztlich seine Topoi bestimmen musste. Die zum Westen hin abgeschottete DDR ermöglichte das Müllersche Drama als kritischen Rückgriff auf geschichtliche Kulminationspunkte, an denen die Frage des Opfers des Individuums für die Gesamtheit, die Opposition kapitalistischen Eigensinns und sozialistischen Verzichtdenkens durchspielbar war[3]. Anhand des Scheiterns der proletarischen Revolution, welches die Politik zum Schicksal des Volkes bestimmte, war daher im Blick auf die Geschichte die Utopie stets greifbar. Seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten Osteuropas ist der utopische Kontext unter dem Aspekt seiner staatspolitischen Inanspruchnahme Vergangenheit.
"Mommsens Block" stellt das jüngste Zeugnis der Abkehr Müllers von der Rolle des Kritikers im sozialistischen Staat dar. Die im Westen den Staat ersetzende Gesellschaft bedeutet den Verlust der Referenz auf die Utopie[4]. Müller schreibt daher kein Drama, sondern als Lyriker über die Schreibhemmung des Dramatikers. In "Mommsens Block" tritt der Autor selbst in den Vordergrund und reflektiert über die Gründe literarischen Schweigens, "wissend der ungeschriebene Text ist eine Wunde/ aus der das Blut geht das kein Nachruhm stillt" (9). Im wesentlichen allerdings vollzieht Müller diese Selbstreflexion durchgängig in indirekter Weise. Bereits der Titel deutet daraufhin, hinter dem sich die im Englischen vorhandene Ambivalenz des Wortes "block" verbirgt: Mommsens Statue und gleichwohl Mommsens "writers block" sind gemeint. Genauer charakterisieren lässt sich der Text als Gespräch mit einem Toten, als Totenbeschwörung. "Das Drama war ja ursprünglich - jedenfalls die Tragödie - Totenbeschwörung, und das hat jetzt noch Sinn"[5]. Dieser Sinn besteht in einer radikalen Zivilisationskritik. Sprache als Mitteilung unter Lebenden sei in der Gegenwart auf ihren Informationsgehalt reduziert, demgegenüber schaffe einzig der Dialog mit den Toten Kultur. "Es geht darum, dass die Toten einen Platz bekommen. Das ist eigentlich Kultur"[6]. Die Gegenwart bietet Müller keine Identifikationsfläche, daher der Rückgriff auf den ersten deutschen Nobelpreisträger Theodor Mommsen.
Eine weitere Verdeutlichung der sich dem Diskursiven entziehenden Sprache des Textes liefert Müllers Abgrenzung von Nietzsches Verhältnis zu Mommsen. Nietzsches in ängstlicher Identifikation mit dem Brandunfall in Mommsens Charlottenburger Wohnsitz verfasste briefliche Äußerung, die im Text zitiert wird, endet mit einer abrupten Distanzierung: "Ist das Mitleid? Aber was geht mich Mommsen an? Ich bin ihm gar nicht gewogen" (5). Müller kommentiert diese Wendung als "Furcht vor der Einsamkeit versteckt im Fragezeichen" und bekennt sich darauf zu seiner eigenen Einsamkeit (5). Während Nietzsche, der glänzende Rhetor, Diskursivität monumanisch besetzt, reflektiert Müller seinen Text nur mehr im Modus von Mommsens Schreibhemmung. "Wer ins Leere schreibt braucht keine Interpunktion" (5). Der "ins Leere" geschriebene Text kann als Absage an jegliche Form von Diskursivität verstanden werden und weist zudem - das assoziiert die ähnlich lautende Wendung "wer mit dem Meißel schreibt/ hat keine Handschrift" (1) - auf seine formale Beziehung zur lateinischen Inschrift[7] hin. Wie das Schriftdenkmal hat nämlich, so ließe sich die Analogie ausformulieren, auch der Müllersche Text monumentalen Charakter: er ist Dokument und richtet sich an keinen lebenden Adressaten.
II. Zivilisationskritik am Beispiel von Mommsens "writers block"
"Mommsens Block" beginnt mit einer montageartigen Aufzählung einiger Versuche von Historikern, Mommsens "Schreibhemmung" gegenüber der römischen Kaiserzeit zu erklären, die ihn nach dem dritten Band seiner "Römischen Geschichte" befiel. Als Gründe sind zunächst aufgeführt: a) Mommsens wissenschaftliches Interesse, das in erster Linie dem Studium lateinischer Inschriften galt, deren Korpus sich während der römischen Kaiserzeit verringert habe. Der Grund für seine Vorliebe für Inschriften liege in der anonymen Meißel-Schrift, welche größeres Vertrauen in die Mitteilung verbürge als die über mehrere Zwischenstufen tradierten Handschriften, denn "die Steine lügen nicht" (1). b) Dagegen sei "kein Verlass auf die Literatur" (1), der römische Geschichtsschreiber und Kritiker der Kaiserzeit Tacitus habe die Abgründe der Geschichte und mit ihnen die Frage nach den Toten als "Last" betrachtet und Geschichtsschreibung durch den "Tanz der Vokale auf den Gräbern" poetisiert (1). c) Mommsens Verehrung kam nach Cäsar, dessen Monarchie durch den Senat noch auf republikanischen Strukturen basierte, keinem Monarchen mehr zu. Mommsen schreibt über Cäsar: "Auch als unumschränkter Herr von Rom blieb er in seinem Auftreten der Parteiführer... nie hat ihn der Tyrannenschwindel erfasst."[8]
Müller führt einen weiteren Grund für Mommsens Schreibhemmung an, der mir hinsichtlich des zivilisationskritischen Standpunkts dieses Textes besonders interessant erscheint. Der bürgerliche Linke Mommsen, dessen politische Tätigkeit in Gegnerschaft zu Bismarck stand, habe im Grunde deshalb nicht über die römische Kaiserzeit schreiben können, da bereits aus dem dritten Band seiner "Römischen Geschichte" zu schließen sei, "dass der Geburtshelfer Bismarck/ zugleich der Totengräber des Reiches war" (2).
[...]
[1] H. Müller, Mommsens Block, in: Drucksache 1 des Berliner Ensembles, Berlin 1993. Der Text lehnt sich, wie Gustav Seibt in der FAZ vom 1.6.93 anmerkt, formal an lyrische Großformen wie die "Cantos" von Ezra Pound an. Die Bezeichnung "Gedicht" erscheint mir hierfür dennoch überstrapaziert. (Nachfolgende Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe).
[2] H. Müller, Ein Gespenst verlässt Europa, Berlin 1990.
[3] siehe H. Müllers Inszenierung "Duell Traktor Fatzer" am BE, 1993.
[4] vgl. den Artikel "Wer mit dem Meißel schreibt, hat keine Handschrift" von Gustav Seibt in der FAZ vom 1. 6.1993. Dort heißt es: "Die DDR war ganz Staat und so wenig Gesellschaft wie nur möglich."
[5] "Das Jahrhundert der Konterrevolution", H. Müller im Interview mit Frank M. Raddatz, in: Zur Lage der Nation, Berlin 1990, S. 87.
[6] "Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft", H. Müller im Interview mit Frank M. Raddatz, in: Jenseits der Nation, Berlin 1991, S. 23.
[7] Th. Mommsen sammelte und edierte sämtliche lat. Inschriften im Corpus Inscriptionum Latinarum.
[8] Th. Mommsen, Römische Geschichte, Bd. 3, Berlin 1857, S. 441.
- Arbeit zitieren
- Magister Artium Michael Birkner (Autor:in), 1994, Inschrift des Schweigens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/194324
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