Vorliegt ein Textauszug der „Traumnovelle“ von Arthur Schnitzler, erstmalig erschienen 1926. Die Novelle thematisiert die Probleme des Paares Albertine und Fridolin und nutzt sowohl Träume als auch Erlebnisse, um die Unterdrückung sexueller Sehnsüchte der beiden zu verdeutlichen.
Arthur Schnitzler
Traumnovelle
Analyse und Interpretation von Fridolins zweitem Besuch bei Herrn Gibiser unter be- sonderer Beachtung kommunikationspsychologischer Elemente von Tim Blume
Vorliegt ein Textauszug der „Traumnovelle“ von Arthur Schnitzler, erstmalig erschienen 1926. Die Novelle thematisiert die Probleme des Paares Albertine und Fridolin und nutzt sowohl Träume als auch Erlebnisse, um die Unterdrückung sexueller Sehnsüchte der beiden zu verdeutlichen.
Der aktuellen Szene, Fridolins zweitem Besuch beim Kostümverleiher Gibiser, ist ein erster Besuch Fridolins bei selbigem vorangegangen. Fridolin ging in dieser ersten Szene zum Kostümverleiher Gibiser, um sich für eine Orgie, von der er von einem alten Studienkollegen erfahren hatte, ein passendes Kostüm zu besorgen. Bei Gibiser angekommen, trifft er zu später Stunde auch dessen minderjährige Tochter Pierette, die sich mit zwei Männern offensichtlich sexuell vergnügt hat oder sexuell vergnügen wollte, und ist über deren Tätigkeit verwundert, woraufhin er Gibiser anspricht, der von allem nichts zu wissen scheint und die Situation so hingestellt, dass es aussieht, als seien die beiden Herren Einbrecher. Gibiser kündigt an, sie der Polizei zu übergeben und bezeichnet seine Tochter als wahnsinnig. In der Folge kündigt Fridolin, seines Zeichens Arzt, an, bei der Rückgabe der Kostüme über das Vorgefallene zu reden.
Die vorliegende Textstelle beschreibt jene Begegnung: Nach der Rückgabe des Kostüms spricht Fridolin Gibiser unverblümt auf das Verhalten seiner Tochter an, vor dem Gibiser auszuweichen versucht. Als Fridolin einen der Herren, denen er in der Nacht begegnet war, aus Pierettes Zimmer kommen sieht, sieht sich Fridolin in seiner unausgesprochenen Vermutung der Nacht bestätigt (Gibiser bietet sexuelle Dienstleistung gegen Bezahlung an) und äußert diese Bestätigung in einem „Ach so.“. Gibiser scheint erneut nicht zu wissen, wovon Fridolin spricht. Anstatt die Polizei zu rufen, habe sich Gibiser „auf anderem Weg“ mit den Herren geeinigt. Gibiser beendet das Gespräch mit einem erotisch konnotierten Angebot und Fridolin verlässt verärgert das Haus. Daraufhin telefoniert er mit seinem Dienstmädchen und seiner Frau und erkundigt sich nach den Neuigkeiten. Trotz der Tatsache, dass das Hören ihrer Stimme ihm gut getan hat, ist er nach seiner Aussage „in der Tiefe seiner Seele“ mit ihr fertig.
Im folgenden Schritt wird der vorliegende Textauszug analysiert, wobei vor allem die erzählerische Darbietungsform samt ihrer Leserwirkung und kommunikationspsychologische Elemente genau betrachtet werden sollen. Festzuhalten ist, dass der vorliegende Auszug einem großen Teil wörtliche Rede enthält, die sich zu etwa gleichen Teilen auf Fridolin und Gibiser verteilt. Diese Form des auktorialen Erzählens schafft Distanz zwischen Leser und redender Person. Im weiteren Text liegt ferner die Erzählform des personalen Er-Erzähler aus Sicht Fridolins vor, der das Geschehen aus seiner Sicht beschreibt und im Gegensatz zum auktorialen Erzähler der wörtlichen Rede weniger distanziert zum Leser ist. Gedankenzitate, die einen Rückblick auf die erste Begegnung geben, lassen sich ebenso finden, hier nähert sich Fridolin immer mehr den Leser an. Die Verwendung des personalen Erzählstils und der häufigen wörtlichen Rede schaffen zusammenfassend gesagt eher eine Distanz zwischen Leser und Erzähler, wohingegen das Gedankenzitat Leser und Erzähler näher zusammenrücken lässt. Durch die Darstellung von Gedanken und Gefühlen Fridolins wird dem Leser die Einstellung Fridolisn zu den „Geschäftspraktiken“ Gibisers - der Prostituierung seiner Tochter - deutlich, eine Wertung geschieht hierbei ebenso aus Fridolins Sicht.
Mit der Darstellung von Fridolins Unbehagen hinsichtlich Gibisers Verhalten und dem „Fertig-Sein“ mit seiner Frau spitzt sich die Handlung in diesem IV. Kapitel immer mehr zu und findet schließlich ihren Höhepunkt in Kapitel V mit der Vertiefung der angedeuteten Hass- und Rachefantasien nach dem Bekanntwerden von Albertines Traum.
Hinsichtlich der Rollenverteilung während des Gesprächs zwischen Fridolin und Gibiser lässt sich feststellen, dass es zu Beginn scheint, als hätte Fridolin die Führung. Dem „Ton eines Untersuchungsrichters“ - eine Position, in der sich Fridolin sicherlich gerne sähe, um die Ungerechtigkeit Gibiser zu seiner Tochter zu rächen - spricht er den „einigermaßen verwunderten“ Gibiser direkt auf seine Tochter an. Daraufhin zuckt Gibiser merklich, doch seine Gefühlslage ist nicht zu erkennen - Gibiser fühlt sich dennoch durch Fridolin ertappt. Doch - hier ändert sich die getroffene Annahme, dass Fridolin Redeführer ist - Gibiser weiß sich zu beherrschen und antwortet, Ahnungslosigkeit vortäuschend.
Obwohl Fridolin an ihn appelliert, einen Arzt zurate zu ziehen und damit dem Leser zu verstehen gibt, dass die Ich-Botschaft klar ausdrückt, dass er dieser Arzt sein will, ermahnt er Gibiser - der auf unverschämte Art antwortet und somit kurzzeitig die Rolle des Gesprächsbeherrschenden übernimmt - wenig später, ihm diese nicht ausgesprochenen, aber dennoch verstanden Worte, nicht in den Mund zu legen.
Von besonderem Interesse ist auf Fridolins „Ach so.“. Im Kontext der Novelle wird aus diesem Verständnis ausdrückenden (Sach-Ebene) Worten ein zentrale Botschaft: „Ich, Fridolin, habe nun den Beweis, dass Pierette eine Prostituierte ihres eigenen Vaters ist“ (Ich-Botschaft). „Du, Gibiser, bis verachtenswert, weil du so mit deiner Tochter umgehst“ (Du-Botschaft) und „Hör auf, so mit ihr umzugehen“ (Appell). An diesem Beispiel werden die vier Ebenen einer Botschaft besonders deutlich. Obwohl vorher nur annäherungsweise für den Leser nachvollziehbar war, dass Pierette eine Prostituierte ist, hat er jetzt die Gewissheit, dass dem so ist.
Fridolin versucht weiter in der Wunde zu „bohren“ und stellt fest, dass Gibiser darauf verzichtet hat - obwohl beim ersten Treffen angekündigt - die Polizei zu verständigen. Die Antwort Gibisers darauf scheint für den Leser ein Geständnis zu sein: „Wir haben uns auf anderem Wege geeinigt [...]“ drückt zum einen aus, dass Fridolin erkannt hat, was abgelaufen ist (Du-Botschaft), zum anderen aber auch, dass Gibiser nicht mehr über die Sache sprechen möchte (Ich-Botschaft). Sein Appell an Fridolin, zu gehen, verstärkt durch „kühl[e]“ Sprache und das Aufstehen zusätzlich. Obwohl Gibiser Fridolin anbietet, seine Dienste als Kostümverleiher erneut in Anspruch zu nehmen (vgl. „Mönchsgewand“, Sachenebene), drückt er gleichzeitig aus, dass Fridolin gerne auch seine Dienste als Zuhälter in Anspruch nehmen darf (Du-Botschaft). Fridolin bekundet sein Desinteresse nonverbal, indem er die Tür hinter sich zuschlägt.
Diese Szene ist, wie bereits genannt, für den Verlauf der Handlung hin zum Höhepunkt von Bedeutung. Ferner verdeutlicht sie mehrmals ausführlich kommunikationspsychologische Elemente und geht auch auf das am Anfang dieser Analyse genannte Thema der Novelle ein: die Unterdrückung sexueller Sehnsüchte. Obwohl Fridolin gefallen an Pierette zu finden scheint, widersteht der Versuchung, sich auf sie einzulassen.
Es ist erkennbar, dass der Novelle ohne diese Szene etwas fehlen würde. Ich selbst betrachte die Szene als gut gelungen, da Schnitzler Botschaften nicht direkt und „wört- lieh“ weitergibt, sondern sie durch geschickte Wahl erzählerischer Darbietungsformen und kommunikationspsychologische Elemente zu „verschlüsseln“ vermag, so dass sich der Leser erst intensiv mit den Figuren auseinandersetzen muss, um diese Botschaften zu verstehen.
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- Arbeit zitieren
- Tim Blume (Autor:in), 2011, Arthur Schnitzler: Traumnovelle. Analyse und Interpretation von Fridolins zweitem Besuch bei Herrn Gibiser unter besonderer Beachtung kommunikationspsychologischer Elemente, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/194352