Spätestens seit Pedro Almodóvar für Hable con ella seinen zweiten Oskar gewonnen hat, gilt er als der erfolgreichste europäische Regisseur.
Ein allgemeiner Überblick über die spanische Filmlandschaft zeigt, wie sehr sich das Kino Almodóvars von den damals verbreiteten Filmen unterschied. Almodóvar bezieht sich in vielerlei Hinsicht auf das cinematographische Erbe, sei es in Form des Zitats, der Hommage oder der Persiflage.
Um die Entwicklung Almodóvars Spaniens zu verdeutlichen, wird sein Gesamtwerk chronologisch betrachtet, denn seine Filme beziehen sich nicht nur auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen, sondern auch aufeinander.
Almodóvars Kinofilme spiegeln die Stimmungen einer Gesellschaft im Umbruch. Während er diese Zeit filmisch verarbeitete, wurde er ihr Chronist und prägte sie zugleich. Natürlich gab es noch weitere Faktoren, die die Entwicklungen im neuen Spanien beeinflusst haben. Pedro Almodóvar hat als erfolgreichster spanischer Filmemacher das Bild Spaniens im In- und Ausland maßgeblich beeinflusst.
Die Zusammenhänge zwischen dem Selbstverständnis Spaniens, seinem Bild im Ausland und den Filmen Almodóvars werden durch die soziokulturelle Analyse seines cinematografischen Werks deutlich. Im Vordergrund der Untersuchung stehen die Fragen, inwieweit das „Spanische“, insbesondere das Bild des „neuen Spanien“ in den Filmen repräsentiert ist, inwieweit Almodóvar die Entwicklung eines neuen spanischen Selbstverständnisses mitgeprägt hat, und woran es lag, dass das Ausland sich für seine Filme zu interessieren begann. Die Resonanz, die Almodóvar dabei in den Medien fand, spiegelt seine Bedeutung im gesellschaftlichen Kontext, Interviews mit Zeitzeugen illustrieren Bild weiter.
Ein Überblick über die Entwicklungen seit dem Bürgerkrieg 1936 verdeutlicht, wie einschneidend die Veränderungen nach Francos Tod waren, und von welcher Zeit Almodóvar geprägt wurde. Dafür werden auch die Wechselwirkungen der historisch-politischen Situation mit gesellschaftlich-kulturellen Aspekten betrachtet. Die drei Bereiche Staat und Kirche, Gesellschaft und Geschlechterrollen werden analog für die Zeit vor und nach 1975 dargestellt und anschließend ihre Repräsentation in den Filmen analysiert.
Inhalt
Vorwort
Von Franco zum „neuen" Spanien
1 Spanien unter Franco
1.1 Von 1936 bis 1959: Die Zeit der Isolation
1.2 Staat und Kirche: Die Säulen des Regimes
1.3 Die franquistische Gesellschaft
1.4 Traditionelle Geschlechterrollen
1.5 Von 1960 bis 1975: Apertura – die Zeit der Öffnung
2 Das „neue" Spanien
2.1 Von 1975 bis 1982: Transición democrática – die Zeit der Übergangs
2.2 Der allmähliche Wandel von Staat und Kirche
2.3 Die neue Gesellschaft: eine kulturelle Revolution
2.4 Neubewertung der Geschlechterrollen
2.5 Von 1982 bis heute: Die Zeit der Integration
3 Die spanische Filmlandschaft
3.1 Das System der Zensur
3.2 Das Vakuum nach Franco
3.3 Der Umgang mit der Erinnerung
3.4 Neue Freiheiten im Film
Pedro Almodóvar und sein Werk
4 Leben und Werk
4.1 Biografie
4.2 Autobiografische Filmaspekte
4.3 Undergroundfilme
4.4 Die Filme Almodóvars im Kontext
Pepi, Luci, Bom y otras chicas del montón
Laberinto de pasiones
Entre tinieblas
¿Qué he hecho yo para merecer esto?
Matador, 1986
La ley del deseo
Mujeres al borde de un ataque de nervios
¡Átame!
Tacones lejanos
Kika
La Flor de mi secreto
Carne trémula
Todo sobre mi madre
Hable con ella
La mala educación
5 Die Repräsentation des Spanischen im Werk Almodóvars
5.1 Stereotype
5.2 Die Repräsentation von Staat und Kirche
5.3 Die Utopie einer neuen Gesellschaft
5.4 Die neue Vielfalt der Geschlechterbilder
5.5 Formale Aspekte
Sprache
Musik
Bedeutung der Schauspieler
6 Der Repräsentant des neuen Spanien
6.1 Almodóvar im Spiegel der Presse
6.2 Eine integrative Symbolfigur in Spanien
6.3 Bedeutung für die Rezeption Spaniens im Ausland
Anhang
Zeittafel
Literatur
Vorwort
Spätestens seit Pedro Almodóvar in diesem Jahr für Hable con ella seinen zweiten Oskar gewonnen hat, gilt er als der erfolgreichste europäische Regisseur. Vom Do-it-yourself Filmemacher, der kurz nach dem Ende der Diktatur sein Debüt mit Pepi, Luci, Bom y otras chicas del montón hatte, zum gefeierten Starregisseur von Todo sobre mi madre verlief seine Entwicklung ähnlich der Spaniens vom rückständigen Agrarland zu einem liberalen und modernen Teil Europas.
Um die Zusammenhänge zwischen dem Selbstverständnis Spaniens, seinem Bild im Ausland und den Filmen Almodóvars zu verdeutlichen, eignet sich die soziokulturelle Analyse. Ein Bereich, der trotz zahlreicher Veröffentlichungen über Pedro Almodóvar bisher kaum betrachtet wurde, ist die Bedeutung seines cinematografischen Werks für die Rezeption Spaniens in Deutschland. Im Vordergrund dieser Untersuchung steht die Frage, inwieweit das „Spanische“, insbesondere das Bild des „neuen Spanien“ in den Filmen repräsentiert ist, inwieweit Almodóvar die Entwicklung eines neuen spanischen Selbstverständnisses mitgeprägt hat, und woran es lag, dass das Ausland sich für seine Filme zu interessieren begann. Die Resonanz, die Almodóvar dabei in den Medien fand, spiegelt seine Bedeutung im gesellschaftlichen Kontext, Interviews mit Zeitzeugen haben das Bild erweitert.
Ein Überblick über die Entwicklungen seit dem Bürgerkrieg 1936 verdeutlicht, wie einschneidend die Veränderungen nach Francos Tod waren, und von welcher Zeit Almodóvar geprägt wurde. Dafür werden zunächst die Wechselwirkungen der historisch-politischen Situation mit gesellschaftlich-kulturellen Aspekten sowohl für das franquistische als auch das demokratische Spanien betrachtet. Die drei Bereiche Staat und Kirche, Gesellschaft und Geschlechterrollen werden analog für die Zeit vor und nach 1975 dargestellt und anschließend ihre Repräsentation in den Filmen analysiert.
Die franquistische Zeit definiert dabei vereinfacht das „alte“ Bild Spaniens, das die Antithese zum „neuen“ Spanien bildet. Diese Terminologie soll selbstverständlich nicht ignorieren, dass die spanische Geschichte lange vor Franco begonnen hat. Für die Bewertung der Filme ist das spanische Kulturerbe aber weniger aus Sicht einer historischen Gesamtbetrachtung als seine tradierte Ikonographie von Bedeutung.
Ein allgemeiner Überblick über die spanische Filmlandschaft zeigt, wie sehr sich das Kino Almodóvars von den damals verbreiteten Filmen unterschied. Almodóvar bezieht sich in vielerlei Hinsicht auf das cinematographische Erbe, sei es in Form des Zitats, der Hommage oder der Persiflage.
Um die Entwicklung – die Almodóvars und die Spaniens – zu verdeutlichen, wird sein Gesamtwerk chronologisch betrachtet, denn seine Filme beziehen sich nicht nur auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen, sondern auch aufeinander.
Almodóvars Kinofilme spiegeln die Stimmungen einer Gesellschaft im Umbruch. Während er diese Zeit filmisch verarbeitete, wurde er ihr Chronist und prägte sie zugleich. Natürlich gab es noch weitere Faktoren, die die Entwicklungen im neuen Spanien beeinflusst haben. Doch auch wenn die Einflussmöglichkeiten eines einzigen Regisseurs auf die Entwicklung einer ganzen Gesellschaft begrenzt sind, hat Pedro Almodóvar als erfolgreichster spanischer Filmemacher das Bild Spaniens im In- und Ausland maßgeblich beeinflusst.
Von Franco zum neuen Spanien
1 Spanien unter Franco
1.1 Von 1936 bis 1959: Die Zeit der Isolation
1936 wurde Francisco Franco Chef der national spanischen Regierung, während in Spanisch-Marokko eine Revolte begann, die sich zu einem der blutigsten Bürgerkriege der spanischen Geschichte entwickelte.
Der Bürgerkrieg war die größte Zäsur der spanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts – bis zu seinem Ende am 1. April 1939 kamen mehr als eine halbe Million Spanier ums Leben, fast ebenso viele gingen ins Exil.
1939 errichtete Franco eine Diktatur, die fast vierzig Jahre bestehen sollte. Spanien verließ den Völkerbund und war – nach dem Sieg der Alliierten über Deutschland von der UNO als faschistisch totalitäres System geächtet und von den USA boykottiert – politisch isoliert und von der internationalen Wirtschaft ausgeschlossen.
Noch in den fünfziger Jahren litt Spanien unter den Folgen des Bürgerkriegs, das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Arbeitnehmer lag unter dem Vorkriegsniveau. Vor allem die ländlichen Regionen Andalusien, Extremadura und La Mancha, in der Almodóvar in dieser Zeit geboren wurde, litten unter der wirtschaftlichen Lage.
1.2 Staat und Kirche: Die Säulen des Regimes
Die enge Verbindung von Staat und Kirche bildete die Grundlage des franquistischen Gesellschaftssystems. Ein Konkordat schaffte 1953 „die Rahmenbedingungen für eine im modernen Europa äußerst unübliche Vernetzung von Staat und Kirche“.[1] Gleichzeitig waren viele Mitglieder der katholisch-christlichen Vereinigung “Opus Dei“[2], einer der umstrittensten rechten Organisationen der katholischen Kirche[3], aktiv an der Regierung beteiligt.
Ein kostenloses und flächendeckendes staatliches Schulsystem existierte nicht. Der Besuch einer Klosterschule war für die ärmeren Kinder – wie auch Almodóvar – oft die einzige Möglichkeit, eine bessere Ausbildung zu erhalten. Den Bestand der Diktatur sicherten das Militär, die paramilitärische Guardia Civil und die Policia Arminada, die nationale Polizei, die mit weitreichenden Privilegien ausgestattet waren:
Die Polizei unterlag einer besonderen Protektion durch Staat und Gesetz. Die Auswahl der Mitglieder erfolgte unter strenger Kontrolle ihrer Loyalität gegenüber dem franquistischen Regime. Folglich waren es in der Regel Personen, die dem extrem rechten Flügel angehörten.[4]
Polizei und Militär galten als korrupt und besonders die Guardia Civil war wegen ihrer Brutalität und ihrer Willkür gefürchtet.
1.3 Die franquistische Gesellschaft
Der Staat kontrollierte nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Isolation und Armut führten zu einer stummen Unzufriedenheit:
Die politische Isolation Spaniens und die wirtschaftlichen Restriktionen in den fünfziger Jahren sowie das soziale und kulturelle Defizit der franquistischen Gesellschaft im Vergleich zu anderen westlichen Staaten prägten das Volk. Ein Gefühl der Minderwertigkeit prägte die Befindlichkeit großer Teile der spanischen Bevölkerung.[5]
Laut geäußerte Kritik gab es kaum. Eine politische Opposition war zwar „in Form von örtlichen Guerillas, Untergrundgewerkschaften, enttäuschten Falangisten, unbeugsamen liberalen und ungeduldigen Monarchisten durchaus präsent, blieb jedoch weitgehend wirkungslos. Die führenden Persönlichkeiten der Volksopposition waren tot, im Exil oder im Gefängnis, und die von der Furcht gelähmten Mittelschichten begnügten sich mit verbalen Angriffen […] Die Protektion durch die Nazis und die italienischen Faschisten hatte tiefe Spuren in der Presse, der Polizei sowie den Jugendorganisationen hinterlassen.“[6] Armut und Perspektivlosigkeit belastete die Bevölkerung. Die wirtschaftliche Situation verschlechterte sich stetig.
1.4 Traditionelle Geschlechterrollen
Die Konzentration von Macht bei den Anhängern des rechten Flügels in Kirche und Staat begründete ein konservatives Geschlechterverständnis. Die franquistische Gesellschaft war zutiefst patriarchalisch. Vor allem die Rechte der Frauen, die vor dem Bürgerkrieg ein dem übrigen industrialisierten Europa vergleichbares Niveau hatten, wurden nach der Machtergreifung Francos stark beschnitten. Ihre Rolle beschränkte sich auf die der „fürsorgenden Mutter“ und „liebenden Ehefrau“:
Francoist marriage manuals suggested that a perfect casada must combine the role of woman (happy, tender and compassionate by nature): selfless companion to husband, tireless homemaker; and ideal mother.[7]
Die Gesetzgebung ging dabei weit über eine bloße Benachteiligung hinaus. Sie nahm Frauen praktisch jede Möglichkeit, ein eigenständiges und unabhängiges Leben zu führen. Frauen durften nicht arbeiten und konnten ohne die Einwilligung ihres Mannes weder einen eigenen Pass noch ein eigenes Bankkonto beantragen. Außerehelicher Geschlechtsverkehr oder eine sonstige „Beschmutzung der Ehre“[8] gab dem Mann sogar das Recht der straffreien Tötung seiner Ehefrau oder Tochter.
Das franquistische Geschlechterverständnis wurde durch eine einseitige Auslegung des Katholizismus gestützt. Das für die spanische Rechtsprechung des Franquismus bestimmende Geschlechterbild beschreibt Kreis:
Ein rigoroser Katholizismus […] mit all seinen restriktiven Konsequenzen für die Frau bis hin zur Negierung ihrer Selbstentfaltung (in Familie, Erziehung, Arbeit und Politik), ihres Selbstwertes (ihr als „wesenhaft“ zugeschriebene umfassende Inferiorität, gesetzlich auf einer Stufe mit Kindern, Taubstummen und Irren, Ausgeliefertsein an die Willkür des Ehemanns, Rechtlosigkeit im Erb- und Besitzrecht usw.), ihren Anspruch auf Glück (Leidensideologie) und gar auf ihr Leben (geforderte Selbstaufgabe für den Mann bis hin zum Suizid).[9]
Der Führungsanspruch des Mannes wurde demgegenüber betont:
Dem Mann […] wurde die Rolle als ‚gottgewollt’ […] höherwertiger und dominierender Teil im zweigeschlechtlichen System zugewiesen. Er galt in der Geschlechterhierarchie als der ‚Kopf’, der ‚Repräsentant von Geist und Kultur’, als geistig, physisch und moralisch stark, aktiv und schöpferisch, als ‚Stellvertreter Gottes’ und ‚höchster Index’, zu dessen alleiniger Selbstentfaltung und Glück die Frau – einzige Legitimation ihres Daseins – […] beitragen durfte.[10]
Diese starre Dichotomie ließ weder Männern noch Frauen Spielraum. Die gegengeschlechtliche Anziehung definierte die Norm, „andere Formen des Begehrens wurden als Abweichungen verstanden“.[11] Homosexualität war zwar nicht ausdrücklich verboten, doch das schwammige Ley de vagos y maleantes[12] konnte vielfältig und willkürlich interpretiert werden, so dass die meisten Homosexuellen es vorzogen, sich nicht öffentlich zu erkennen zu geben.
1.5 Von 1960 bis 1975: Apertura – die Zeit der Öffnung
Zu Beginn der fünfziger Jahre stand Spanien wirtschaftlich und politisch im Abseits. Erst die Entwicklungen des Kalten Krieges zwangen die USA 1953 dazu, das Land an die westlichen Allianz gegen den Kommunismus zu binden. Das Handelsembargo wurde aufgehoben. Spanien war wegen seiner katastrophalen wirtschaftlichen Situation gezwungen, sich im Gegenzug dem Tourismus zu öffnen.
Von 1954 bis 1962 wichen der Autarkiegedanke und der Dirigismus der offenen Intervention ausländischen Kapitals und dem Liberalismus.[13]
Die Öffnung, die man in Spanien mit dem Begriff apertura beschreibt, bildete die Grundlage für einen immensen wirtschaftlichen Aufschwung, den man rückblickend als (spätes) spanisches Wirtschaftswunder bezeichnete.
Das Wirtschaftswachstum erreichte in den sechziger Jahren fast acht Prozent, das Bruttosozialprodukt nahm von 1964-1969 um 35 Prozent zu.[14]
Bis zum Ende der sechziger Jahre hatte sich Spanien von einer Agrar- zu einer Wirtschaftsnation gewandelt. Dabei konzentrierte sich das plötzliche Wirtschaftswachstum jedoch vor allem auf einzelne Regionen. Die Unterschiede zwischen den prosperierende Städten und den rückständigen und verarmten ländlichen Regionen wuchsen, verstärkt durch die Abwanderung junger Leute in die Städte.
Durch das plötzliche Wirtschaftswachstum veränderte sich das Leben in einer Geschwindigkeit, die für viele beängstigend war. Spanien hatte in weniger als einem Jahrzehnt nachgeholt, wofür andere Länder mehr als ein halbes Jahrhundert benötigt hatten. Durch den Tourismus veränderte sich die Situation weiter. Innerhalb weniger Jahre kamen jährlich fast 30 Millionen Touristen ins Land.[15]
Der schnelle Wandel Spaniens von einer traditionellen Agrargesellschaft zu einer modernen Industrienation führte zu einem Konflikt zwischen den veränderten ökonomischen Verhältnissen und dem noch immer vom franquistischen Regime propagierten konservativen Wertesystem.
Noch herrschte Franco unnachgiebig und unangefochten über das spanische Volk, zensierte die Presse und schaltete Gegner, so nötig, gewaltsam aus. Auch die Kirche verfocht mit Strenge und Macht Moral und Sitte, aber die Spanier waren bereits mit dem Keim der Freiheit, Konsumismus und Liberalität infiziert. Mit der apertura endete nicht nur die ökonomische Autarkie und Mangelwirtschaft, auch die Fundamente der ideologisch-moralischen Werte begannen zu wanken.[16]
Mit der apertura waren liberale Ideen ins Land gelangt. Damit war das Fundament der Diktatur aufgeweicht. Im Widerspruch zwischen dem politischen System und der gesellschaftlichen Realität zeigte sich die Destabilisierung der Diktatur immer deutlicher.[17]
Die späten sechziger Jahre, die Zeit, in der Almodóvar als Jugendlicher nach Madrid kam, waren von einem großen sozialen Konfliktpotential innerhalb der spanischen Gesellschaft geprägt. Hauptursache waren die wachsenden Unterschiede zwischen Armut und Reichtum und die verspätet einsetzende Moderne mit ihren gesellschaftlichen Umwälzungen, die dem propagierten Ideal der franquistischen Diktatur entgegenstanden.
Die Weltwirtschaftskrise 1973 verschärfte die Konflikte noch einmal. Die exportabhängige spanische Wirtschaft geriet durch die internationale Rezession unter Druck. Dem Wirtschaftsboom der sechziger Jahre folgten Massenentlassungen. Die Frustration über die ökonomische Situation und die steigende Arbeitslosigkeit äußerte sich immer öfter in Gewaltakten.
Im Dezember 1973 wurde Luis Carrero Blanco von Anhängern der baskischen ETA ermordet. Man hatte ihn als Nachfolger Francos designiert, weil er als Garant für den continuismo, das Fortbestehen des „Franquismus nach Franco“ galt, und man mit dem baldigen Tod des beinahe achtzigjährigen Diktators rechnete. Die Ermordung Blancos war ein sichtbares Anzeichen für die Schwäche des Regimes. Der Staat reagierte auf die Gewalt mit Gegengewalt. 1975 unterschrieb der todkranke Franco die Todesurteile über vier junge, linksgerichtete Guerillas.
Die Hinrichtungen lösten eine Welle der Empörung im In- und Ausland aus:
Selbst Regierungschefs vergaßen über Nacht diplomatische Manieren. Hollands [Ministerpräsident] den Uyl marschierte an der Spitze einer Anti-Franco Demonstration. Schwedens Premier Palme sprach von den Regierenden in Spanien als ,satanischen Mördern‘. Mexikos Präsident Echevérria forderte Spaniens Hinauswurf aus der UNO. In Lissabon äscherten Demonstranten unter den Augen der Polizei Spaniens Botschaft ein.[18]
Die Wut äußerte sich in immer häufiger in Gewaltakten. Vor allem in Madrid gab es täglich Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Polizei. Die ultrakonservativen Franco-Anhänger, die den Erhalt des faschistischen Regimes propagierten, standen unversöhnlich den linksgerichteten Jugendlichen gegenüber.
Franco starb am 20. November 1975 dreiundachtzigjährig in Madrid. Die konservativen Kräfte hatten zwar gehofft, dass König Juan Carlos - Francos offizieller Nachfolger - die Prinzipien des Franquismus in einer Monarchie weiter führen würde, aber die längste westeuropäische Diktatur des 20. Jahrhunderts war mit Francos Tod unwiderruflich zu Ende gegangen.
2 Das „neue“ Spanien
2.1 Von 1975 bis 1982: Transición democrática – die Zeit der Übergangs
Nach dem Tod Francos begann der Prozess, für die sich der Begriff transición democrática etablierte: der friedliche politische Übergang von der Diktatur zur Demokratie.
Unmittelbar nach dem Tode Francos wurde Juan Carlos I. zum König ausgerufen. 1976 ernannte er den weitgehend unbekannten jungen Politiker Adolfo Suárez von der Demokratischen Zentrumspartei (UCD: Unión de Centro Democrático) zum Premierminister.
2.2 Der allmähliche Wandel von Staat und Kirche
Aus Angst vor einer Destabilisierung blieben zunächst viele franquistische Machthaber im Amt. Erst 1977 fanden nach über 40 Jahren die ersten freien allgemeinen Wahlen – eleciones generales – statt. Adolfo Suárez wurde in seinem Amt bestätigt, Felipe González war als Vorsitzender der Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE: Partido Socialista Obrero Español) Oppositionsführer. Die beiden jungen Politiker waren die politischen Symbole des Neuaufbruchs. Zusammen initiierten sie einen bemerkenswerten friedlichen Demokratisierungsprozess und repräsentierten ein neues und modernes Spanien.[19]
Im folgenden Jahr wurde die erste demokratische Verfassung seit dem Bürgerkrieg verifiziert. Sie bildete die rechtliche Grundlage für die junge Demokratie.
Mit der Verfassung wurde ein staatliches Schulwesen eingeführt. Dadurch verlor auch die Kirche an direkter politischer Macht, weil der Einfluss der Klosterschulen auf die allgemeine Schulbildung schwächer wurde. Schritt für Schritt fanden Pluralismus und Säkularisation Eingang in die politische Realität.
2.3 Die neue Gesellschaft: eine kulturelle Revolution
Während sich die politischen Veränderungen sich nur allmählich zeigten, vollzog sich die eigentliche Revolution auf gesellschaftlicher Ebene:
Although the political transformation was a gradual one – transition rather than revolution – the change in the cultural environment was rapid – and at times excessive.[20]
Auf einen Schlag galten die konservativen Normen nicht mehr. Vor allem für die junge Generation bedeutete das Ende der Diktatur das Ende der restriktiven Wertvorstellungen der Vergangenheit:
While for many adults Spain’s new democracy represented the achievement of radical political ambition through peaceful means, for the younger generation it meant an instantaneous break with repressive social norms and regulations.[21]
Zugleich hegten vor allem die Jüngeren Argwohn gegenüber dem neuen politischen System. Rabe beschreibt diesen Übergangszustand:
Die heranwachsende nachfranquistische Generation befand sich Ende der siebziger Jahre in einem Umbruchstadium ohne fest definierte Werte: Die konservative, restriktive und bevormundende Ideologie Francos galt nach dessen Tod nicht mehr, ohne zunächst von konkreten neuen Leitlinien abgelöst worden zu sein. Die Jugendlichen fühlten sich von der Elterngeneration, repräsentiert durch Staat, Kirche und Gesellschaft im allgemeinen, im Stich gelassen. Nicht nur das politische System und die Gesellschaft befanden sich in einem Schwebezustand, auch die Jugend als eigene soziale Gruppe musste sich neu definieren.[22]
Die gesellschaftlichen Veränderungen vollzogen sich in Spanien wesentlich schneller als beispielsweise in den USA oder Westeuropa. Dort waren sie das Ergebnis sukzessiver Entwicklungsschritte. Während beispielsweise in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg die wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen nacheinander und graduell abliefen – zunächst das „Wirtschaftswunder“ in den fünfziger Jahren und erst im Anschluss die „kulturelle Revolution“ Ende der sechziger Jahre – fand diese Entwicklung in Spanien gleichzeitig und in einer enormen Geschwindigkeit statt.
Die Veränderungen kondensierten sich in der Hauptstadt Madrid und beeinflussten im Besonderen die Jugend.
Mit dem Ende der Diktatur entwickelte sich in Madrid eine eigenständige Subkultur, die unter dem Namen movida madrileña berühmt wurde. Der Name movida erinnert dabei beinahe trotzig an Francos movimiento.[23]
Die Entwicklung der movida begann schon 1975, ihre Hauptzeit waren jedoch die frühen achtziger Jahre. Zu ihrem Kern gehörten Maler, Sänger, Schauspieler und Fotografen.[24] Auch Pedro Almodóvar war ein fester Bestandteil dieser Jugendbewegung. Die Anhänger der movida verband nicht unbedingt eine kollektive Ideologie, wohl aber ein gemeinsames Lebensgefühl – zunächst die Euphorie über die neuen Freiheiten: Unabhängigkeit, neue Beziehungsmodelle und freie Sexualität. Alles schien möglich, alles war erlaubt. Die Jugend wollte nachholen, was jahrelang verboten war. Vorbilder waren die Jugendbewegungen anderer Länder, deren kulturelle Codes und deren liberale Sexualität – „freie Liebe“ galt als Symbol der Freiheit schlechthin. Die Zukunft schien zunächst voller neuer Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung.
Was die spanische Jugendbewegung von den Jugendbewegungen anderer Länder unterschied, war ihre weitgehende Akzeptanz, da sich nicht gegen ein etabliertes System richtete, sondern die Freiheiten lebte, die bisher jedem verwehrt waren.
Auch von offizieller Seite wurde die movida mehr und mehr als geeignete Vorzeigebewegung eines neuen Spanien erkannt, das sich vollständig von seinen franquistischen Wurzeln emanzipiert habe:
Spain’s youth culture was eventually welcomed by the political elite as the official image of Spain.[25]
Mit der movida glaubte man, indem man den Blick auf die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen lenkte, über den zum Teil sehr langsamen politischen Reformprozess und die sich mäßig entwickelnde Wirtschaft[26] hinwegtäuschen zu können. Mit der Vereinnahmung durch die Öffentlichkeit verlor die movida ihren eigentlichen Undergroundcharakter. Kulturelle Produkte, die eigentlich aus der Subkultur kamen, galten plötzlich als „offizielle Kultur“. Die Rolle der Jugend als Repräsentanten des neuen Spanien wurde dadurch sehr hoch bewertet:
The high profile of social and cultural transformation contrasted with the gradual changes in the political process. This had two effects: first, it ascribed what is arguably an over-determined role to youth cultures as the ambassadors of the new Spain. Second, the cultural legacy of liberated Spain originated mainly with a youth which would inevitably grow up.[27]
Die movida lässt sich daher kaum als einheitliche Bewegung verstehen. Sie entstand gleichermaßen aus einem Gefühl der Euphorie über die neuen Freiheiten wie aus einer Enttäuschung über die wirtschaftliche und politische Situation. Sie war eine Underground-Bewegung und wurde zugleich in den Rang „offizieller Kultur“ erhoben. Unzweifelhaft aber war die movida eine Bewegung, in der sich das Neue kondensierte und die sich über die Andersartigkeit vom vorherigen definierte. Unter anderem manifestierte sich dies auch darin, dass konservative Rollenmuster ihre Gültigkeit verloren und durch ein flexibleres Geschlechterverständnis ersetzt wurden.
2.4 Neubewertung der Geschlechterrollen
Die Jugend wollte sich nicht mehr in die starren Strukturen von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ pressen lassen. Alles war möglich, alles war erlaubt, ob schwul, lesbisch, bi- oder transsexuell. Diese scheinbare geschlechtliche Mobilität symbolisiert auch das große Interesse an Travestie- und Verkleidungskünstlern.[28]
Bewegung in das konventionelle Geschlechterverständnis brachten auch Veränderungen der Rechtspositionen. Im Zuge der transición verbesserten sich besonders die Rechte der spanischen Frauen.[29] Zunächst wurde dem Mann das Recht der straffreien Tötung seiner „untreuen“ Gattin abgesprochen. Noch 1975 wurde das eingeschränkte Berufsverbot abgeschafft, außerdem erlaubte man den Frauen die Führung eines eigenen Kontos und den Besitz eines Passes. Drei Jahre später garantierte die neue Verfassung das Grundrecht auf Freiheit und Gleichheit aller Spanier unabhängig von ihrer Geschlechtszugehörigkeit.
Gleichzeitig wurde dem Mann seine traditionelle Führungsrolle in Ehe und Familie abgesprochen, innerhalb des Familienrechts vollzogen sich wesentliche Änderungen, und auch die Möglichkeit der Ehescheidung wurde ins spanische Recht aufgenommen.[30]
2.5 Von 1982 bis heute: Die Zeit der Integration
Der Einfluss der reaktionären konservativen Kräfte war zu Beginn der achtziger Jahre noch immer groß. Weder die wirtschaftliche noch die gesellschaftliche Lage Spaniens waren zu diesem Zeitpunkt stabil. Eine hohe Arbeitslosenrate, eine ständig steigende Inflation und allein im Jahr 1980 beinahe 100 Attentatsopfer durch die Anschläge der ETA brachten die Regierung unter Suárez in eine schwere Krise. Die überzogenen Hoffnungen an den Wohlstand in der Demokratie wichen einer Ernüchterung. Das Wort d esencanto, Entzauberung, beschreibt die Stimmung der Zeit.[31]
In dieser angespannten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation versuchte Tejero, Obersleutnant der noch immer mächtigen Guardia Civil , im Februar 1981 einen Militärputsch. Wenn er auch nicht zuletzt am Auftreten des Königs scheiterte, zeigte der Putschversuch, wie instabil und gefährdet die junge spanische Demokratie noch war.
Adolfo Suárez trat von seinem Amt zurück. Bei den Neuwahlen 1982 erlangte die Sozialistische Arbeiterpartei ( PSOE) die absolute Mehrheit und Felipe González wurde neununddreißigjährig jüngster Staatschef Europas. Erst im Verlauf seiner Regierungszeit, auch felipisimo genannt, wandelte sich Spanien endgültig zu einer stabilen modernen und pluralistischen Gesellschaft.
González hatte das ehrgeizige Ziel, sein Land nach den vielen Jahren der Isolation in Europa zu integrieren. Nach jahrelanger Bewerbungsfrist konnte Spanien 1986 der Europäischen Gemeinschaft beitreten. Nach den Jahren im Schatten der franquistischen Diktatur galten die Spanier mit einem Mal als „Vorzeige-Europäer“.[32]
Eine Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte fand im Sog der rasanten Entwicklungen kaum statt. Die eigene Geschichte taugte nicht mehr zur Identifikation. Diesen Zustand der selbst gewählten „kollektiven Amnesie“ (Bernecker) beschreibt der Begriff desmemoria:
Es ist besser zu vergessen, das Vergessen heilt alles. Es gibt vereinzelte Stimmen, die die Erinnerung als Medizin empfehlen. Sie sind in der Minderheit. […] Heute ebenso wie dereinst [wird verkündet] – früher durch autoritäre Verbote, heute mittels Empfehlungen, Anweisungen, demokratischen Orientierungen – dass wir uns weiterhin unserer Geschichte schämen müssen. Dass ihre Verbreitung unter dem großen Publikum, der Masse, das, was man früher das Volk nannte, dessen kritischem Urteil, dem persönlichen Standpunkt des anderen, nicht empfehlenswert ist […]. das Beste, was man mit der Geschichte machen kann, außer sie zu verbieten, denn das ist rückständig – ist sie zu vergessen.[33]
Der Blick nach vorn ersetzte die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und war weniger schmerzlich.
Die kollektiven Bemühungen, die Vergangenheit zu verdrängen, können nicht losgelöst von einem tief sitzenden Minderwertigkeitskomplex der spanischen Gesellschaft gesehen werden, der durch Fortschrittsgläubigkeit, Konsumrausch und Europa-Euphorie kompensiert werden sollte.[34]
Doch angesichts des schnellen wirtschaftlichen Aufschwung, der nach dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft einsetzte, waren solche Fragen nicht vorrangig. Die Euphorie fand ihren Höhepunkt in drei symbolträchtigen Großereignissen. Im „Spanischen Jahr“ 1992 richteten sich die Augen der ganzen Welt auf Spanien – dort veranstaltete man die 500-Jahr Feier der Entdeckung Amerikas, die EXPO in Sevilla und die olympischen Sommerspiele in Barcelona.
Doch das Glück war nur von kurzer Dauer, der Aufschwung hatte danach ein jähes Ende. Eine rasant steigende Arbeitslosigkeit und politische Skandale erschütterten das Land. Die Euphorie des politischen, kulturellen und ökonomischen Aufbruchs war in den frühen Neunziger Jahren einer tiefen Verstimmung gewichen.[35]
Konflikte, die unter Franco jahrelang gewaltsam unterdrückt wurden, brachen wieder auf. Vor allem ging es um die Definition der regionalen Identitäten Kataloniens und des Baskenlandes. Spanien bemühte sich um die Neubestimmung von Hispanität in einem internationalen Kontext. Man suchte eine nationale Identität, die nichts mit dem rückständigen Image des Spanien unter Franco gemein hatte, gleichzeitig kämpften die Regionen um ihre Autonomie. Vilar konstatiert rückblickend:
Die sozialistische Partei hat den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft und den Eintritt in ein Spanien der Regionen gut vollzogen. Weniger gut dagegen den Übergang zu einem „Spanien der Nationalitäten […]. Die spanische Gesellschaft ist wie einst im „Goldenen Zeitalter“ durch eine gefährliche Kluft zwischen Arm und Reich und eine deutlich sichtbare Armut gekennzeichnet.[36]
Im Schatten der wirtschaftlichen und sozialen Probleme gewann die Terrororganisation ETA wieder an Sympathisanten.
Angesichts der Probleme geriet die sozialistische Regierung González nach zehn Jahren unter Druck während gleichzeitig die konservativen Rechtsparteien wieder Anhänger gewannen:
Die gemäßigten Parteien, die für einen oft beispielhaft genannten „demokratischen Übergang“ verantwortlich waren, haben sich aufgelöst. An ihre Stelle kam es zur Formierung einer traditionelleren Rechten, die von nostalgischen Reminiszenzen an den Franquismus keineswegs frei ist.[37]
1996 gewann die nationale Volkspartei Partido Popular die Wahl und der Konservative José Maria Aznar wurde Ministerpräsident. Unter seiner Regierung hat „schneller als erwartet die alte Rechte wieder die Fäden in die Hand genommen.“[38] Die Machtübernahme der rechten Volkspartei symbolisiert die Frustration über die ungelösten Probleme und die Angst vor allzu schneller Veränderung. Die anhaltende Spannung zwischen Armut und Reichtum und die Suche nach der Vereinbarung einer regionalen, einer spanischen und einer europäischen Identität bietet dabei nach wie vor Konfliktpotential.
Heute sinkt die Zustimmung zu Aznars Regierung, obwohl sich die Wirtschaft gut entwickelt und Spanien am Ende des 20. Jahrhunderts zu den führenden Industrienationen der Welt zählt.
Vor allem als Spanien – trotz Ablehnung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung – den zweiten Golfkrieg unterstützt und den Irak als Teil der amerikanischen Allianz gegen den Willen der UNO angreift, kommt es zu gewalttätigen Demonstrationen. Der Spiegel konstatiert:
Eine so starke Bürgerbewegung hat das seit dem Tod des Diktators Franco im November 1975 demokratische Spanien noch nie erlebt, nicht einmal, wenn es gegen baskischen Eta-Terroristen ging. Jüngsten Umfragen zufolge sind 91 Prozent der Spanier, mehr als anderswo auf der Welt, gegen einen Angriffskrieg.[39]
Seit der Einführung der Demokratie machen die Spanier immer wieder regen Gebrauch von der Möglichkeit, eine pluralistische Meinungsvielfalt auch öffentlich zu zeigen. Dagegen versucht sich Aznar zu wehren, indem er eine Ausweitung der Militärrechtsprechung plant, die unter anderem vorsieht, die Beteiligung an Demonstrationen gegen den Krieg unter Strafe zu stellen.[40]
Zusammenfassung
Die spanische Geschichte des letzten Jahrhunderts war geprägt von eruptiven und radikalen Prozessen des Wandels, die zu einem häufigen Wechsel von Euphorie- zu Katerstimmung geführt hat.
Auch wenn die Geburt der Demokratie für Spanien politisch keine „Stunde Null“ bedeutete, ist sie in der rückblickenden Wahrnehmung für viele Menschen der Beginn einer neuen Zeit.
In der Erinnerung war das franquistische Spanien trotz vereinzelter Öffnungsbestrebungen überwiegend repressiv. Polizei und Militär waren Symbole der Unterdrückung, die Kirche stützte die Ideologie. Ein konservatives Geschlechterverständnis benachteiligte vor allem die Frauen. Armut und ein gewisses Minderwertigkeitsgefühl prägten die Gesellschaft.
Das Bild des neuen Spanien steht dem des franquistischen diametral gegenüber. Mit der Demokratie gab es Pluralismus und Meinungsvielfalt. Die Kirche verlor an Bedeutung im Alltag. Eine Auseinandersetzung mit Franco wurde zunächst gemieden – stattdessen wollte man sich von der Vergangenheit lösen, indem man versuchte, „alles anders“ zu machen. Man suchte das „Neue“ in allen Aspekten des täglichen Lebens, sei es in Form der Emanzipation, der sexuellen Liberalität oder der geschlechtlichen Mobilität. Am stärksten betroffen, aber auch am stärksten zur Veränderung bereit, war die Jugend. In der movida madrileña kondensierten sich die neuen Ideen, gleichzeitig avancierte sie zum offiziellen Repräsentanten der jungen Demokratie.
Durch die Tabuisierung der franquistischen Zeit brach für viele die Vergangenheit als Quelle der Identifikation weg. Die Hoffnung auf Wohlstand oder die Idee einer europäischen Identität war kein ausreichender Ersatz. Für die Entwicklung eines neuen Selbstbewusstseins war es daher notwendig, nicht die spanische Kultur im allgemeinen, sondern nur das franquistische Erbe in Frage zu stellen.
Filme sind ein nicht zu unterschätzender Aspekt bei dieser Identitätsfindung. Inwiefern das Kino die „spanische Identität“ spiegelt und mitgeprägt hat, soll im Folgenden betrachtet werden.
3 Die spanische Filmlandschaft
Filme sind häufig Ausdruck realer Veränderungen, von Utopien und Ängsten. Stimmungen und Entwicklungen rückblickend zu betrachten, birgt stets die Gefahr, Bedeutungen zu interpretieren, die nur bedingt den Intentionen der Regisseure und den Realitäten der jeweiligen Zeit entsprechen – dennoch sind Filme als Massenmedien „Instrumente der Wirklichkeitskonstruktion“[41] und damit oft unmittelbarer Ausdruck von gesellschaftlichen Stimmungen und Erwartungen.[42]
Durch die Zensur waren Anzahl und Themenbreite der gezeigten Filme im franquistischen Spanien limitiert. Dadurch ergibt sich eine verhältnismäßig homogene Grundlage an Filmen, mit denen die Generation Almodóvars aufwuchs. Almodóvar bezieht sich oft auf diese Filme: er zitiert, er persifliert und er seziert sie. Dies gilt sowohl für die spanischen Regisseure wie Buñuel oder Saura, als auch die Klassiker des europäischen und amerikanischen Kinos.
Ein Überblick über die in Spanien bekanntesten Filme während und nach dem Franquismus zeigt allgemein, mit welchen Bilderwelten und Konventionen das spanische Kinopublikum filmisch „sozialisiert“ wurde.
3.1 Das System der Zensur
Franco wusste um die Bedeutung von Filmen für die Akzeptanz der Diktatur. Auch wenn nicht jeder gezeigte Film gleich Propaganda war, verhinderte die Zensur, dass Produktionen gezeigt wurden, die Stimmung gegen das Regime machen könnten. Vielmehr sollte die Diktatur und ihre Institutionen gerechtfertigt werden:
Early francoist film sought obsessively to validate the victors (the military, the church, the aristocracy) and demonize the losers (workers, separatists, ‘reds’).[43]
Jede literarische, journalistische oder filmische Aktivität wurde überwacht und gezielt instrumentalisiert. Die Zensur und fehlende Subventionen verhinderten die Entwicklung eines unabhängigen und kritischen Filmwesens.
Die Richtlinien der Zensur ließen den Kulturschaffenden nur wenig Spielraum.[44] Wer seine Werke veröffentlichen wollte, musste nicht nur darauf achten, nicht gegen die rigide franquistisch-katholische Sexualmoral zu verstoßen, sondern durfte auch weder kirchliche Institutionen noch Einrichtungen des Regimes kritisieren.[45] Die Kirche wiederum nahm direkten Einfluss auf die Zensur:
One of the church’s main roles during the Franco regime was to censor the cinema, publishing and media against its criteria, the ‚norms of Christian decency’.[46]
Der franquistische Staatsapparat propagierte äußerst konservative Moralvorstellungen. Themen wie außerehelicher Geschlechtsverkehr, Scheidung, Homosexualität oder Prostitution existierten nicht oder wurden moralisch verurteilt, Nacktszenen waren undenkbar.[47]
Zum Teil unbewusst, indem die diktierten Normen mehr und mehr zur verinnerlichten Normalität wurden, zum Teil um überhaupt Filme produzieren zu können, verzichteten die Regisseure zunehmend auf kritische Inhalte. Um Änderungen im nachhinein auszuweichen, war man schon bei der Schaffung des Werkes darauf bedacht, keinen Angriffspunkt für Kritik zu bieten. De facto hatte sich die Zensur damit teilweise auf eine wesentlich effektivere Art verselbständigt, als es die Zensoren selbst je erreicht hätten.[48]
[...]
[1] vgl. Seidel in Rabe 1997: 110
[2] Das „Opus Dei“ [dt: Das Werk Gottes] wurde 1928 von dem Priester Jose Maria Escriva de Balaguer gegründet und erhielt 1955 die Approbation des Papstes (vgl. Graham 1984: 224f).
[3] „a religious organization with a mission to place its members in positions, where ultra-right religious values can be upheld at highest levels” (Allinson 2000: 34).
[4] Rabe 1997: 104
[5] ebenda: 114
[6] Vilar 1998: 165f. Peire Vilars „Geschichte Spaniens“ ist ein Standardwerk in Spanien und seit seinem ersten Erscheinen 1963 über 30 Mal neu aufgelegt worden.
[7] Núñez in Smith 2000: 53
[8] spanischer Wortlaut: “mancillar el honor de familia“
[9] Kreis in Huven 2002: 28
[10] ebenda
[11] Huven 2002: 34
[12] „Gesetz bezüglich der Asozialen und des Gesindels“, 1954 (vgl. Rabe 1997: 100)
[13] Vilar 1998: 164
[14] ebenda
[15] vgl. der spiegel 1977/25: 113 „Mit dem Massenzustrom von Touristen an Iberias Strände und dem Massenexodus spanischer Gastarbeiter nach Europa haben sich Gesellschaft, Lebensform, Glaube und Moral so stark verändert wie kaum je zuvor“
[16] Gubern, Monterde in: Rabe 1997: 20
[17] vgl. Cervera 2001: 271
[18] vgl. Torreiro in Gubern, Monterde, zitiert nach Rabe 1997: 29
[19] vgl. Carr, Fusi 1979: 220ff
[20] Allinson 2000: 13
[21] ebenda
[22] Rabe 1997: 61
[23] vgl. Triana Toribio 2000: 275
[24] wie die Maler Ceesepe und Javier Mariscal, die Sängerin Olvido Gara oder die Fotografin Ouka Lele (vgl. Cervera 2002: 16f)
[25] Allinson 2000: 14
[26] 1977 stiegen die Arbeitslosenzahlen stetig und die Inflationsrate erreichte im Sommer eine Höhe von 42 Prozent (vgl. Rabe 1997: 61).
[27] Allinson 2000: 13
[28] vgl. Cervera 2002: 67ff
[29] Dies geschah durch die Annullierung der Strafwürdigkeit des außerehelichen Geschlechtsverkehrs. Ebenfalls wurde die strafrechtliche Ahndung des Verkaufs von Antikonzeptiva und die strafrechtlichen Verfolgung von mit beiderseitigem Einverständnis vollzogenen Geschlechtsverkehrs mit Frauen unter 24 Jahren aufgehoben. „Die in der franquistischen, streng katholisch ausgerichteten Ideologie zur Repression weiblicher Sexualität instrumentalisierten Begriffe ‚weibliche Reinheit’ und ‚Jungfräulichkeit’ wurden damit erstmals im spanischen Strafrecht durch die Wortwahl der ‚sexuellen Freiheit von Frau und Mann’ ersetzt.“ (Kreis 1998: 382)
[30] vgl. ebenda
[31] vgl. Rabe 1997: 37
[32] „Erst Ende des 20.Jahrhunderts ist Spanien ein integrierter Bestandteil von Europa geworden, jenem Kontinent, von dem es zwar ein Teil ist,[…] dem es aber stets den Rücken zugewandt hat, um nach Übersee oder wie besessen auf sich selbst zu starren.“ (Heinrich.v. Berenberg in: Vilar 1998: 178)
[33] Der Regisseur und Schriftsteller Fernando Fernán-Gómez in Vossen 2002: 380
[34] Vossen 2002: 386
[35] vgl. Haas 2001: 92
[36] Vilar 1998: 175f
[37] Vilar 1998: 175
[38] Heinrich v. Berenberg in Vilar 1998: 178
[39] SPIEGEL Online, 21.02.2003
[40] Laut El País sollen Proteste gegen die spanische Beteiligung an einem Krieg als "Defätismus" und "Wehrkraftzersetzung" gewertet und mit bis zu sechs Jahren Haft bestraft werden. (SPIEGEL Online - 22.04.2003)
[41] Schmidt 1994: 14
[42] Siegfried Krakauer beschrieb dies – wenn auch für den Sonderfall des der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus mit einer „Spiegeltheorie“. Dort heißt es: „Was die Filme reflektieren, sind weniger explizite Überzeugungen, als psychologische Dispositionen – jene Tiefenschichten der Kollektivmentalität, die sich mehr oder weniger unterhalb der Bewusstseinsdimensionen erstrecken.“ (Krakauer 1984 : 12)
[43] Allinson 2000: 26
[44] vgl. Gubern 1981: 276f
[45] Keine Veröffentlichung durfte gegen die folgenden Grundsätze verstoßen:
- die guten Sitten, insbesondere die moral sexual, die franquistisch-katholische Sexualmoral;
- katholische Werte oder kirchliche Institutionen;
- politische Grundsätze des Regimes oder seiner Mitarbeiter und Einrichtungen.
(vgl. Neuschäfer 1991: 42f)
[46] Allinson 2000: 33
[47] vgl. Hopewell 1986: 85ff
[48] vgl. Monterde in Rabe 1997: 16
- Arbeit zitieren
- Thorsten Kadel (Autor:in), 2003, "Neue" Bilder aus dem "neuen" Spanien. Eine soziokulturelle Analyse des Werks von Pedro Almodóvar, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/19481
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