Physiotherapie zwischen Heilpädagogik und Medizin

Kinderbetreuung in Wiens Integrationskindergärten


Diplomarbeit, 2011

147 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Disziplin versusProfession

2. Heilpädagogik
2.1 Das disziplinäre Selbstverständnis der Heilpädagogik
2.2 Das Praxisverständnis der Heilpädagogik
2.3 Heilpädagogische Leitideen

3. Physiotherapie
3.1 Das Selbstverständnis der Physiotherapie
3.2 Das Praxisverständnis der Physiotherapie
- Die Patientlnnen-Therapeutlnnen-Beziehung
- Der Befund und der Behandlungszyklus
- Kommunikation
- Dokumentation
- Sicherheit
3.3 Physiotherapeutische Leitideen
3.4 DieAusbildung zur/zum Physiotherapeutin

4. Physiotherapie in der Pädiatrie
4.1 Das Selbstverständnis der Physiotherapie in der Pädiatrie
4.2 Das Praxisverständnis der Physiotherapie in der Pädiatrie
4.3 Leitideen der pädiatrischen Physiotherapie
4.4 Krankheitsbilder in der pädiatrischen Physiotherapie
4.4.1 infantile Cerebralparese (ICP)
4.4.2 Neuromuskuläre Erkrankungen
4.4.3 Neuralrohrdefekte
4.4.4 Geistige Behinderung
4.4.5 Schwermehrfach-Behinderung
4.4.6 Wahrnehmungsstörungen
4.5 Pädiatrische Physiotherapie in (sonder)pädagogischen Institutionen
4.5.1 Pädiatrische Physiotherapie im Kindergarten
4.5.2 Pädiatrische Physiotherapie in der Schule
4.6. Zusammenfassende Darstellung

5. Forschungsdesign
5.1 Das halbstandardisierte Interview als Erhebungsmethode
5.2 DerInterviewleitfaden
5.3 Die Interviewphase
5.4 DerAuswertungsprozess
5.5 Sozialdemographische Daten der Interviewpartnerinnen

6. Ergebnisse
6.1. Die Einzelergebnisse
6.1.1 Befragte 1
6.1.2 Befragte 2
6.1.3 Befragte 3
6.1.4 Befragte 4
6.2. Die Gesamtergebnisse

7. AbschließendeBemerkungen
7.1 Rückblick
7.2. Reflexion des Forschungsprozesses
7.3 Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick
7.4 Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

Einleitung

Die Heilpädagogik ist seit jeher eng mit einer ihrer Nachbardisziplinen, der Medizin, verknüpft - ihre historischen Wurzeln findet man nicht im pädagogischen, sondern eher im medizinischen oder auch im karitativen Bereich (Kobi, 2004, 127f.).

Georgens und Deinhardt versuchten mit ihrem 1861 erschienenen Werk „Die Heilpädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten" zwar, ,Heilpädagogik' „als pädagogische Disziplin wissenschaftlich zu begründen" (Strachota 2002, 313; Herv. i. O.), jedoch begann hiermit erst ein langwieriger Kampf heilpädagogischer WissenschafterInnen, um aus dem Schatten der Medizin zu treten: Im Jahre 1927 etwa schrieb der deutsche Pädagoge, Philosoph und Psychologe Spranger heilerzieherische Aufgaben noch zu einem großen Teil medizinischem Fachpersonal zu - auch Nohl fühlte sich 1949 in seiner Rolle als Universitätspädagoge für heilpädagogische Fragestellungen nicht zuständig (Kobi 2004, 128).

Zwanzig Jahre später erst wies Moor (1969) auf die enge Verbindung der Heilpädagogik mit der Pädagogik hin und beschrieb sie als vertiefte Pädagogik: „Heilpädagogik ist diejenige Pädagogik, welche vor die über das Durchschnittsmaß hinausgehende Erziehungsschwierigkeiten gestellt ist" (a.a.O., 260).

Mit Bleidicks Werk „Pädagogik der Behinderten - Grundzüge einer Theorie der Erziehung behinderter Kinder und Jugendlicher" gelang in den 1970er Jahre erstmals eine „wissenschaftliche Grundlegung der Heilpädagogik als pädagogische Disziplin" (Strachota 2002, 313; Herv. i. O.). Bleidick (1978) setzte sich dabei allgemein mit der Frage nach der Aussagekraft der Medizin für die Pädagogik für Menschen mit Behinderung auseinander. In den 1980er Jahren lebte die Diskussion um das Verhältnis von Heilpädagogik und Medizin wahrhaft auf, u.a. beleuchteten Heitger (1984), Hellbrügge (1985), Iben (1985), Toifl (1985) und Speck (1987) das Verhältnis von Heilpädagogik und Medizin aus pädagogischer, neuropsychiatrischer und kinderärztlicher Sicht. Auch in den 1990er Jahren setzten sich pädagogische Wissenschafterlnnen mit dieser Problematik auseinander; exemplarisch lassen sich Ahrbeck (1996), Theis- Scholz (1999) und Haeberlin (1996) nennen. Strachota (2002) beschreibt die Diskussion der 1990er allerdings als „etwas eingeschlafen" (a.a.O., 313). Weiters hält Strachota fest, dass sich die meisten der oben genannten Autorinnen auf die Frage beschränken, was die Medizin für die heilpädagogische Praxis leiste, wobei die Meinung vorzuherrschen scheint, dass sich „die Bedeutung der Medizin für die heilpädagogische Praxis - wenn überhaupt - darin sehen lasse, daß therapeutische Maßnahmen Voraussetzungen für Heilerziehung i.w.S. schaffen" (a.a.O., 319). Selten gehe es darum, welche Bedeutung die Heilpädagogik für die Medizin habe (a.a.O.).

Auch Bleidick (1997), Kobi (2004) und Speck (2008) behandeln in den Neuauflagen ihrer heilpädagogischen Standardwerke den Zusammenhang von Heilpädagogik und Medizin. Speck (2008) beispielsweise hält fest, dass die „Verständigung zwischen sozialwissenschaftlichem und medizinischem Erklärungsmodell schwieriger wird". Er betont allerdings auch, dass Menschen „dualistisch nicht erklärbar", sondern eine „psycho­physische Ganzheit" sind (a.a.O., 29) und konstruktive interdisziplinäre Zusammenarbeit theoretisch und praktisch unabdingbar geworden ist.

Mit der Frage nach dem Verhältnis der Heilpädagogik zu ihrer Nachbardisziplin, der Medizin, stellt man gleichzeitig auch die Frage nach dem Selbstverständnis der Heilpädagogik (Strachota 2002, 312) - und hier auch nach ihrem Praxisverständnis.

in der Literatur stößt man auf zahlreiche Antworten auf die Frage nach praxisleitenden Begriffen der Heilpädagogik: Neben Unterricht, Erziehung und Fürsorge bei Hanselmann (1976, 11) oder Erziehung, Unterricht und Therapie bei Bleidick (1999, 91) kann man weiters noch Bildung, Förderung, Unterstützung, Assistenz, Hilfe zur Selbsthilfe (Theunissen 1997, 373), erzieherische Förderung (Bach 1999, 4) und Entwicklungsbegleitung (Biewer 2000, 242) als begriffliche Bezeichnungen der heilpädagogischen Praxis finden. Biewer (2009) weist weiter in seinem Buch Grundlagen der Heilpädagogik und Inklusiven Pädagogik' auf folgende Grundbegriffe und Aufgabenstellungen der Heilpädagogik hin: Entwicklung (a.a.O., 80f), Förderung (a.a.O., 85ff), Rehabilitation (a.a.O., 88f), Therapie (a.a.O., 89ff) und Prävention (a.a.O., 91 ff). Strachota (2002, 213) lehnt dieses weit gefasste Verständnis heilpädagogischer Praxis ab: Um das Pädagogische der Heilpädagogik zu stärken und den Einzug nicht-pädagogischer Begriffe - wie Förderung - in das heilpädagogische Fachvokabular zu vermeiden, fasst sie alle verschiedenen Formen (heil-)pädagogischen Handelns unter dem rein pädagogischen Begriff Erziehung zusammen. Sie versteht unter heilpädagogischer Praxis „den Gesamtbereich interaktiv und kommunikativ gestalteter Handlungsprozesse, welche die ihnen zugrundeliegende Intention der Zustandsveränderung im Sinne einer Verbesserung' des Menschen auf dem Wege der Eröffnung und Gestaltung von Erziehungsprozessen zu verwirklichen sucht. Das angedeutete weite Verständnis von Erziehung umfaßt in diesem Sinne Maßnahmen der emotionalen und sozialen sowie intellektuellen Führung, Anregung, Begleitung, Unterstützung und Förderung" (a.a.O., 219).

Im Gegensatz zur Heilpädagogik ist sich unsere Schulmedizin hinsichtlich ihrer praxisleitenden Begriffe einig: Krankheiten und deren Heilung stehen im Zentrum ihres Denkens und Handelns (Datler und Felt 1996, 52; Strachota 2002, 201; Pschyrembel 2001, 667f, 904). Auch die Physiotherapie als medizinische Profession strebt in den meisten ihrer Teilbereiche - wie etwa der Physiotherapie in der Traumatologie, Orthopädie oder Gynäkologie - Heilung an. So definieren Dettmer u.a. (2005, 278) in ihrem Wörterbuch zu Fachbegriffen der Physiotherapie Therapie als jene „Maßnahmen, die zur Heilung einer Krankheit führen". Doch im Spezialfall der pädiatrischen Physiotherapie stellt sich ein anderer Sachverhalt dar: Hier stehen Entwicklungsbegleitung und -förderung - unabhängig von der ursprünglichen Erkrankung oder Behinderung - immer mit im Vordergrund der Therapie (Hartmannsgruber 1999, 73). Auch die Unterstützung und das Miteinbeziehen von Familie und Umfeld und die fachliche Förderung und Beratung der Eltern sind hier untrennbar mit der Physiotherapie verbunden.

Auch die Ziele, die in der physiotherapeutischen Arbeit mit Kindern angestrebt werden, weichen von jenen ab, die in bereits erwähnten anderen Behandlungsfeldern der Physiotherapie formuliert werden: Im zwölfbändigen Lehrbuch „Physiotherapie" (Hartmannsgruber 1999), einem Standardwerk der Physiotherapie, wird im Gegensatz zur Heilung der Grunderkrankung (meist das erklärte physiotherapeutische Ziel aller anderer Gebiete) bei der Physiotherapie mit Kindern „Findung der Eigeninitiative, Eigenregulation und Selbstverantwortung zur Mit- und Selbstbestimmung in der Kommunikation, ... in der Beschäftigung mit sich und dem Umfeld ... und Unterstützung in der Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens" (Bernard 1999, 84) ins Zentrum jeder Therapie gestellt.

Die Ziele der Heilpädagogik sind ebenfalls klar definiert. Speck (2008) stellt bei Kinder und Jugendlichen mit Lern- und Erziehungsschwierigkeiten neben jenen Erziehungszielen, die für „alle Kinder und Jugendliche gelten" (a.a.O., 362), den „Zielkomplex ,Integration'" (a.a.O., 363; Herv. i. O.) in den Vordergrund. Speck (2008) betont, dass darunter nicht nur soziale Integration zu verstehen ist, sondern auch die Integration der Persönlichkeit als primäre Voraussetzung. Mit personaler Integration ist somit „innere Integration" (a.a.O) gemeint. Sie bezieht sich auf die Persönlichkeit und ihren strukturalen Zusammenhalt. Da eine Behinderung den „Aufbau der Selbst­Instanz, die Selbstkonsistenz und ihre Perspektiven" (a.a.O) in Gefahr bringt, ist personale Integration als „Ganzwerden der Person, ... als Finden und Behaupten von relativer Autonomie und Authentizität ... und als volles Menschwerden" (a.a.O) zu verstehen. Weiters sind Menschen mit Behinderung von sozialer Ausgliederung bedroht. Deshalb bildet die soziale Integration die andere Seite des Zielkomplexes Integration. Sie steht für die Integration in die Gesellschaft, für das „sozio-kulturell teilhaben können" oder auch für das „Vermeiden von Exklusion" (a.a.O., 364). Personale und soziale Integration sind somit nicht getrennt von einander zu betrachten: beide wirken aufeinander, beide bedingen einander (a.a.O, 363).

Speck (2008) betont als weiteres Ziel der heilpädagogischen Praxis den „Erwerb lebensbedeutsamer Kompetenzen" (a.a.O., 365; Herv. i. O.). Diese Kompetenzen beziehen sich auf „verschiedene Lebensfunktionen, wie Wahrnehmung, Bewegung, Sprache, Kommunikation oder Kognition" (a.a.O.).

Betrachtet man nun die Ziele von Physiotherapie und Heilpädagogik näher, zeigen sich einige Parallelen: Eine der Hauptaufgaben von PhysiotherapeutInnen in der pädiatrischen Praxis besteht ebenfalls in der Arbeit an der Bewegung und Wahrnehmung. Weiters lassen sich beispielsweise die Parallelen „Autonomie" (Speck 2008, 365) und „Selbstbestimmung" (Bernard 1999, 84) sowie „sozio-kulturell teilhaben können" (Speck 2008, 365) und „Unterstützung in der Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens" (Bernard 1999, 84) auf den ersten Blick erkennen.

Meine Erfahrungen in der physiotherapeutischen Praxis zeigen, dass die Parallelen im disziplinären Selbstverständnis und in den Zielsetzungen von Heilpädagogik und pädiatrischer Physiotherapie besonders häufig und ausgeprägt bei jenen PhysiotherapeutInnen auftreten, die in pädagogischen Institutionen - wie etwa Kindergärten oder Schulen - arbeiten: So auch bei jenen, die bei der MA 10 - Fachbereich mobile Entwicklungsförderung tätig sind.

Diese Institution der Gemeinde Wien bemüht sich um eine optimale Förderung von Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren, manchmal auch bis ins Volksschulalter hinein. Neben Psychologinnen arbeiten Sonderkindergartenpädagoginnen, Sonderhortpädagoginnen, Sprachheil- pädagoginnen und Physiotherapeutinnen1 im interdisziplinären Team (o.A. 2008a, 1). Die Aufgabe der Physiotherapeutinnen besteht in der Begutachtung von Kindern in Regel- und Integrationskindergärten und vor allem in der physiotherapeutischen Betreuung von Kindern mit körperlicher und/oder sogenannter geistiger Behinderung, Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensauffälligkeiten in ausgewählten ,Stammhäusern' (Integrationskindergärten). Diese Kinder werden so in Gruppen- und Einzeltherapien gefördert und ihre Entwicklung auf allen Ebenen bestmöglich unterstützt (a.a.O., 1). Da bei der MA 10 aus ökonomischen Gründen keine Ergotherapeutinnen beschäftigt sind und es in Wien mit dem Kindergarteneintritt meist keine weitere Unterstützung durch heilpädagogische Frühförderinnen gibt (Strohhofer 2005, 15), übernehmen hier die Physiotherapeutinnen oft auch Aufgaben, die nicht ihrem medizinisch orientierten Berufsbild entsprechen. Die Praxis zeigt, dass gerade dieser Umstand die Arbeitsstelle bei der MA 10 aus heilpädagogischer Sicht besonders interessant macht, da sich die Physiotherapeutinnen in einem verschwommenen Grenzbereich zwischen Heilpädagogik und Physiotherapie bewegen und scheinbar nicht allen Anforderungen ihres täglichen Arbeitens gerecht werden können.

Denn wie schon ein Blick auf die Ausbildung zur/m Physiotherapeutin zeigt, sind sowohl jene, die sich in der Ausbildung befinden, als auch Absolventinnen keineswegs mit Zielen und Maßnahmen heilpädagogischer Praxis vertraut: Der Beruf der/s Physiotherapeutin lässt sich ganz klar im medizinischen Feld verorten. Neben Radiotechnologinnen, Ergotherapeutinnen, Orthoptistinnen, Logopädinnen, Diätologinnen und biomedizinischen Analytikerinnen zählen Physiotherapeutinnen zur Sparte der medizinisch-technischen Dienste, deren Rechte und Pflichten im mtD- Gesetz von 1996 verankert sind. Die Richtlinien zur Ausbildung zur/m Physiotherapeutin berufen sich ebenfalls auf dieses Gesetz. So scheinen hier neben klassischen medizinischen Disziplinen wie zum Beispiel Anatomie, Physiologie, Pathologie, Chirurgie, Neurologie oder Kinderheilkunde natürlich physiotherapeutische Fächer wie beispielsweise „Bewegungslehre einschließlich Biomechanik, Bewegungstherapie, Anwendung aller physiotherapeutischen Maßnahmen in den Bereichen der Prophylaxe, Therapie und Rehabilitation und Berufskunde und -ethik" (mtD-Gesetz 1996, 26) auf. Soziologie, Psychologie und „Pädagogik und Gesprächsführung" (a.a.O., 27) stehen ebenso auf dem Lehrplan. Alleine schon diese Formulierung - „Pädagogik und Gesprächsführung" - lässt auf den geringen Stellenwert pädagogischer Inhalte in der Ausbildung schließen und erkennen, dass dieses Curriculum ohne nähere Auseinandersetzung mit der Disziplin Pädagogik, ihrer Teildisziplin Sonder­und Heilpädagogik und ihren Leitbegriffen erstellt wurde. So zeigt auch die Praxis der Ausbildung, dass die knapp bemessenen Einheiten dieses Unterrichtsfaches nur für Inhalte der Gesprächsführung verwendet werden - (heil-)pädagogische Inhalte (grundlegende Theorien, Praxiskonzepte etc.) werden nicht vermittelt.

Diese Vernachlässigung pädagogischer Inhalte in der physiotherapeutischen Ausbildung steht in großem Widerspruch zu den bereits erwähnten Zielen der Physiotherapeutinnen der MA 10. Denn die Vermittlung jener Therapiemaßnahmen, die nötig sind, um einige ihre Ziele zu erreichen, ist offenbar nicht Inhalt der Ausbildung. Das Fachgebiet Pädagogik in der Physiotherapie scheint stiefmütterlich' behandelt, grundlegendes pädagogisches Wissen fehlt in der Ausbildung zur/m PhysiotherapeutIn völlig. So müssen die Physiotherapeutinnen der MA 10 ohne (heil-)pädagogisches Wissen Ziele verfolgen, die im Grenzbereich zwischen Physiotherapie und Heilpädagogik anzusiedeln sind.

Im Zuge dieser Diplomarbeit möchte ich die scheinbaren Parallelen von Heilpädagogik und Physiotherapie bei der MA 10 thematisieren und auch problematisieren. Weiters werde ich herausarbeiten, wie Physiotherapeutinnen der MA 10 das Spannungsfeld zwischen Sonder- und Heilpädagogik und Medizin im Berufsalltag erleben.

Forschungsstand und Forschungslücke

Da die Diskussion um die praxisleitenden Begriffe der Heilpädagogik wie bereits erwähnt nicht abgeschlossen ist, gibt es zahlreiche Publikationen, in denen der Begriff Therapie und seine Manifestation im pädagogischen Sprachgebrauch thematisiert werden: U.a. Krawitz (1996) beschäftigte sich mit der Frage, was Pädagogik sei und stellte fest, dass nicht therapeutische Interventionen, sondern individualpädagogisches Handeln die gegenwärtigen Probleme der Erziehung lösen können. Schön (2005) setzte sich mit dem Zusammenhang von Therapie und Erziehung auseinander und stellte Chancen, aber auch Probleme der Therapeutisierung pädagogischer Arbeit dar. Ihr Fokus lag dabei jedoch auf dem Einfluss der Psychotherapie auf Pädagogik.

Auch der Zusammenhang von Heilpädagogik und Medizin im Sinne von therapeutischen Disziplinen wurde in der Diskussion bisher weitgehend auf Psychotherapie und -analyse und Tiertherapie beschränkt: Datler (1996; 2006; uvm.) sieht die psychoanalytisch-psychotherapeutische Praxis als „Spezialfall von pädagogischer Praxis" und versteht den psychotherapeutischen Heilungsprozess als Bildungsprozess (Datler 2006, 95). Er gibt zu bedenken, dass die „Herauslösung der Psychotherapie aus anderen bestehenden Disziplinen wie Psychologie, Medizin, Pädagogik" in den letzten Jahren eine „deutliche Intensivierung" erfahren hat und der Konstituierungsprozess der Psychotherapie als eigenständige Disziplin in Österreich wohl unaufhaltsam voranschreitet (Datler und Felt 1996, 67). Bickel (2004) beschreibt die Psychoanalyse bereits als „disziplinlose Wissenschaft" (a.a.O.).

Der Zusammenhang von Tiertherapie und Pädagogik wurde in erster Linie in Diplomarbeiten von u.a. Vock (2008) und Antonu (2007) thematisiert.

Andere therapeutische Disziplinen wurden bislang in die Erörterung zum Verhältnis von Heilpädagogik und Medizin größtenteils nicht miteinbezogen. Lediglich Göll (2008) beschäftigte sich in ihrer Diplomarbeit mit der „Anwendbarkeit des pädagogischen Konzepts Emmi Piklers in der Physiotherapie mit Kindern". Sie untersuchte, unter welchen Voraussetzungen Emmi Piklers Ideen zu selbständigem Lernen in der Physiotherapie mit Kindern verwirklicht werden können und versuchte so, einen ersten Zusammenhang zwischen heilpädagogischem Denken und pädiatrischer Physiotherapie herzustellen. Dabei konzentrierte sie sich auf die optimale Gestaltung der Therapiesituation, erfasste jedoch keine Parallelen im disziplinären Verständnis und in den Zielsetzungen von HeilpädagogInnen und PhysiotherapeutInnen (a.a.O.).

Forschungsfrage

Wie erleben Physiotherapeutinnen der MA 10 - Fachbereich mobile Entwicklungsförderung ihr Handeln im Spannungsfeld zwischen Heilpädagogik und Medizin?

Subfragen:

- Welches Selbstverständnis liegt der Arbeit der Physiotherapeutinnen an dieser speziellen Arbeitsstelle nach deren Einschätzung zugrunde?
- Welche Probleme ergeben sich in der täglichen Arbeit der Physiotherapeutinnen der MA 10 aus ihrer persönlichen Sicht?
- Werden Physiotherapeutinnen mit heilpädagogischen Fragestellungen konfrontiert? Wenn ja, sind sie sich dessen bewusst und mit welchen Strategien reagieren sie darauf?
- Was sind die Wünsche/Lösungsvorschläge der Physiotherapeutinnen hinsichtlich der Vermittlung/Aneignung heilpädagogischer Inhalte?

Methodisches Vorgehen

Halbstandardisierte Interviews mit den Physiotherapeutinnen der MA 10 sollen Antworten auf meine Forschungsfrage liefern. Ich entschied mich speziell für diese Art des Leitfadeninterviews, da hierbei die Rekonstruktion subjektiver Theorien der Befragten im Zentrum steht (Flick 2007, 209). Da meine Interviewpartnerinnen über einen komplexen Wissensstand zum Thema der Untersuchung verfügen und sich meine Fragestellung auf die Inhalte subjektiver Theorien und deren Umsetzung im beruflichen Handeln richtet, stellt das halbstandardisierte Interview die optimale Voraussetzung zur Bearbeitung meiner Forschungsfragen dar.

So wurden bei einem ersten Termin die Interviews mit offenen Fragen, hypothesengerichteten Fragen und Konfrontationsfragen geführt und so versucht, sowohl das explizite als auch das implizite Wissen der Interviewpartnerinnen zu erforschen. Bei einem zweiten Termin - maximal ein bis zwei Wochen nach dem ersten - wurden die Aussagen der Physiotherapeutinnen mittels Struktur-Legetechnik (SLT) überprüft. Ergebnisse der SLT sind graphische Darstellungen der subjektiven Theorien und ermöglichen dadurch sowohl die Beantwortung aufgestellter Hypothesen als auch die Anregung zur Selbstreflexion der Befragten hinsichtlich „konkurrierender Alternativtheorien" (a.a.O., 204).

Die Auswertung halbstandardisierter Interviews und auch mögliche Irritationen der Interviewpartnerinnen durch die Konfrontationsfragen werden in der Literatur häufig als problematisch beschrieben (a.a.O., 208f). Flick (1995, 105) räumt hierbei allerdings ein, dass auf diese Konfrontationsfragen auch verzichtet werden kann. Da ich jedoch mit den Interviewpartnerinnen und den Gegebenheiten ihres Arbeitsplatzes gut vertraut bin, können Irritationen durch behutsame Einführung der alternativen Sichtweisen gut aufgefangen und die spannenden und wichtigen Konfrontationsfragen gestellt werden.

Das Problem der Auswertung halbstandardisierter Interviews wurde in meiner Diplomarbeit anhand der qualitativen Inhaltsanalyse nach Schmidt (1997) gelöst. Kodierende Verfahren stellen die beste Möglichkeit zur Auswertung dieses Interviewtypus' dar (Flick 1995, 105). Schmidt orientiert sich stark an Mayrings Methode der Inhaltsanalyse, legt dabei größten Wert auf den starken Bezug zu den auszuwertenden Texten. Ihre Auswertungsstrategie versteht sich als Mischform zwischen hermeneutisch-interpretierender und empirisch-erklärender Inhaltsanalyse.

Die Offenheit der Analyse nach Schmidt scheint mir in Kombination mit halbstandardisierten Interviews passend, da so auch Ergebnisse der SLT in die Kategorien-, Tabellen- und Hypothesenbildung mit einfließen können. Schmidts Intention, „sich bei der Auswertung von Leitfadeninterviews von den Befragten ,führen und belehren' zu lassen" (a.a.O., 565; Herv. i. O.) - ohne dabei jedoch auf vorangehende theoretische Überlegungen zu verzichten -, lässt sich gut mit meiner Fragestellung vereinbaren und erkennt meine Interviewpartnerinnen als Expertinnen an.

Heilpädagogische Relevanz

In Wien werden rund 20.900 Kinder in städtischen Kindergärten betreut - 1.960 davon werden als Integrationskinder geführt und sind in einer der 253 Integrationsgruppen untergebracht (o.A. 2011a, 1). Weiters gibt es wienweit 29 heilpädagogische Gruppen, in denen maximal zwölf Kinder mit schwereren Behinderungen betreut werden. Diese Betreuung übernehmen neben den gruppenzugehörigen KindergartenpädagogInnen und SonderkindergartenpädagogInnen auch die SpezialistInnen der MA 10 - Fachbereich mobile Entwicklungsförderung (a.a.O., 1). Somit erreichen die Physiotherapeutinnen des Fachbereiches mit ihrer Arbeit eine große Zahl der Kinder mit körperlicher und/oder so genannter geistiger Behinderung, Entwicklungsstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten.

Wie schon Schulz (1998, 7) erwähnt, stehen Wissen - im Besonderen ExpertInnenwissen - und Handeln in engem Zusammenhang. So unterscheidet Schulz (a.a.O., 8f) in Anlehnung an Schütz zwei grundlegende Wissensformen, die das Handeln maßgeblich beeinflussen: zum einen das Allgemeinwissen des/r Laiin - auch das des/r gut informierten Laiin - zum anderen das Sonderwissen eines/r professionellen Expertin. Das Allgemeinwissen des/r Laiin erfasst ein - auf konkrete Handlungsaufgaben bezogenes - „Rezeptwissen, ohne den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang solcher Handlungsroutinen zu berücksichtigen" (a.a.O., 8). Das Wissen des/r Expertin begreift Schulz „durch einen methodisch konstituierten analytischen Bezug auf spezifische inhaltsbereiche bestimmt, dessen Leistung darin besteht, Genese und systematische Zusammenhänge von analytischen Problemstellungen zu ermitteln und darauf bezogene rationale Lösungswege aufzuzeigen" (a.a.O.). Somit ist es Expertinnen Vorbehalten, relevante Bereiche ihres Grundwissens so zu spezifizieren, dass damit konkrete individuelle Probleme gelöst werden können. Oder anders gesagt: im Verhältnis zu Laiinnen entwickeln Expertinnen gegenüber einem Problem angemessenere Hypothesen und benutzen erfolgreichere Lösungsstrategien.

Wie ich in meiner Problemskizze aufgezeigt habe, werden die Physiotherapeutinnen der MA 10 in ihrer täglichen Arbeit mit heilpädagogischen Problemen und Zielsetzungen konfrontiert. Doch wie sollen sie adäquat auf diese Probleme reagieren und entsprechende Handlungen setzen, wenn sie zwar in medizinisch-therapeutischen Belangen Expertinnen sind, auf heilpädagogischem Terrain jedoch als Laiinnen auftreten müssen? Um die heilpädagogische Betreuung der nahezu 2.000 Kinder in Wiens integrationskindergärten zu optimieren, müssen die Physiotherapeutinnen auch auf diesem Gebiet auf Expertinnenwissen zurückgreifen können. in meiner Diplomarbeit soll dieser mögliche Bedarf nun aufgezeigt und so auch eine Basis für mögliche Fortbildungsangebote für Physiotherapeutinnen der MA 10 entsprechend ihrer Wissenslücken geschaffen werden. Denn wie Schulz (1993) zeigt, kann man entsprechende und effiziente Handlungen nur dann setzen, wenn man über das nötige Fachwissen verfügt. Die optimale heilpädagogische Unterstützung der Kinder in Wiens Integrationskindergärten und eine Verbesserung des (heil-)pädagogischen Versorgungsnetzes kann nur dann erreicht werden, wenn alle Spezialistinnen, die mit heilpädagogischen Fragestellungen konfrontiert werden, auf fundiertes Wissen zurückgreifen können.

Aufbau der Arbeit

Einleitend sollen in meinem ersten Kapitel die Begriffe Profession und Disziplin erläutert werden. Ich möchte aufzeigen, welche Voraussetzungen und Charakteristika an diese beiden Termini geknüpft sind und welche Anforderungen ein Berufsfeld mit sich bringen muss, um zu einer der beiden Kategorien zu gehören.

Das zweite Kapitel möchte ich entsprechend meiner Fragestellung dem disziplinären Selbstverständnis, dem Praxisverständnis und den Leitideen der Heilpädagogik widmen. Außerdem sollen hier die verschiedenen Bezeichnungen heilpädagogischer Praxis, die in der Literatur zu finden sind, beleuchtet und ein Blick hinter ihre begrifflichen Hüllen' geworfen werden.

Das dritte Kapitel widmet sich der Physiotherapie. Analog zu Kapitel zwei sollen hier das disziplinäre Selbstverständnis, das Praxisverständnis und die Leitideen der Physiotherapie thematisiert werden.

Im vierten Kapitel werde ich speziell die pädiatrische Physiotherapie diskutieren. Besonders die Differenzen im disziplinären Selbstverständnis und im Praxisverständnis zwischen allgemeiner' Physiotherapie und pädiatrischer Physiotherapie werden hier aufgezeigt. Weiters werden jene Institutionen vorgestellt, in denen Physiotherapeutinnen im Spannungsfeld zwischen Heilpädagogik und pädiatrischer Physiotherapie arbeiten. Auch die Krankheitsbilder, mit denen man in diesem Arbeitsfeld konfrontiert wird, werden beschrieben.

Im fünften Kapitel werden die Forschungsmethode und auch meine Interviewpartnerinnen vorgestellt. Die Datengewinnung mittels halbstandardisierter Interviews und der Auswertungsprozess nach Schmidt werden hier erläutert.

Die Ergebnisse meiner Interviewauswertung, der SLT und die Materialübersicht in Tabellenform werden im sechsten Kapitel ihren Platz finden. Weiters werden die Ergebnisse in Bezug zu meiner Fragestellung gesetzt, um so einen eventuellen Handlungsbedarf hinsichtlich der Optimierung der Aus- und Fortbildung der Therapeutinnen und so einer Verbesserung der heilpädagogischen Betreuung der Kinder aufzuzeigen. Das siebte Kapitel fasst wesentliche Ergebnisse dieserArbeit zusammen.

1. Disziplin versus Profession

Zu Beginn möchte ich betonen, dass sich dieses einführende Kapitel weder mit der Professionalisierungsfrage der Sonder- und Heilpädagogik noch mit jener der Physiotherapie beschäftigt. Es soll lediglich dazu dienen, in der folgenden Arbeit auf ein gemeinsames Verständnis der Begriffe Disziplin und Profession zurückgreifen zu können. Deshalb werden die Bedeutung von ,Disziplin' und profession' erklärt und in Zusammenhang mit der Physiotherapie und der Heilpädagogik gebracht.

Das Wort Disziplin stammt vom lateinischen disciplinia, -ae (fern.) ab und bedeutet übersetzt „Lehre, Kenntnis, Wissen, Zucht, Schule" oder auch „Ordnung" (Stowasser u.a. 1994, 160). Im deutschen Sprachgebrauch wird es für das ,Einhalten von bestimmten Regeln und Ordnung', als Synonym für das Wort ,Sportart' und als Bezeichnung eines Zweiges bzw. Spezialgebietes einer Wissenschaft verwendet (Meyers Lexikonredaktion, Band 5, 1998, 143).

Die für diese Arbeit relevante Bedeutung des Begriffes Disziplin ist die des Wissenschaftszweiges. Bereits im Altertum wurde die Wissenschaft in verschiedene Teilbereiche - oder Teildisziplinen - eingeteilt. Bach (1999) beschreibt so beispielsweise die Sonderpädagogik als Teildisziplin der allgemeinen Pädagogik (a.a.O., 4). Im Laufe der Zeit entstanden allerdings unzählige Einzelwissenschaften. Diese Zersplitterung geriet in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in Kritik. Von nun an wurde der Interdisziplinarität große Bedeutung beigemessen, woraus auch disziplinübergreifende Fachwissenschaften, wie etwa Wirtschaftsinformatik oder die medizinische Informatik, entstanden (a.a.O.).

Datler und Felt (1996) diskutierten in ihrem Artikel die „Zuerkennung des Status einer eigenständigen Disziplin'" (a.a.O., 46; Herv. i. O.). Die Autorinnen betonen, „daß bestimmte Grenzziehungen akzeptiert und daß den Angehörigen einer Disziplin innerhalb dieser Grenzen primäre Gestaltungs- und Entscheidungskompetenzen eingeräumt werden" (a.a.O). Es herrscht unter den Angehörigen der Disziplin Einigkeit darüber, welche Problemstellungen in den Zuständigkeitsbereich der Disziplin fallen. Weiters zeigen Datler und Felt (a.a.O.) folgende Kompetenzen der Mitglieder einer eigenständigen Disziplin auf: Gewisse Problemstellungen, die in den Aufgabenbereich der Disziplin fallen, werden mit - von den Disziplinmitgliedern frei gewählten - Methoden bearbeitet. Auch die Qualitätsmerkmale, denen Untersuchungen entsprechen müssen, werden von den Disziplinmitgliedern selbst festgelegt. Weiters entscheiden die Mitglieder, welchen Kriterien neue Mitglieder entsprechen müssen und wer die Disziplin nach außen hin vertreten darf (a.a.O.). Datler und Felt (1996) betonen, dass diese Handlungs- und Entscheidungskompetenzen den Mitgliedern einer Disziplin „ein gewisses Maß an Sicherheit und klarer Orientierung" (a.a.O., 47) geben. Weiters zeigen die Autorinnen einige Eigenschaften auf, die etablierte Disziplinen bestimmen lässt und die Abgrenzung von anderen Disziplinen ermöglicht: Gegenstand, Methoden und praxisleitende Interessen müssen festgelegt sei. Auch die Differenzen zu anderen Disziplinen hinsichtlich ihres Gegenstandes, der Methoden und der forschungs- und praxisleitenden Interessen müssen klar ersichtlich sein (a.a.O., 51). Datler und Felt (1996, 53) halten allerdings noch fest, dass die genannten Kriterien noch nicht ausreichen, um von einer eigenständigen Disziplin sprechen zu können. Hierzu erörtern sie folgendes:

„Damit es zur Konstituierung eines Fachbereiches kommt, ... bedarf es nicht bloß einer größeren Gruppe von Menschen, die sich nach bestimmten Methoden mit einem speziellen Gegenstandsbereich befaßt, um dabei spezifischen erkenntnis- und praxisleitenden Interessen zu folgen. Prozesse der Etablierung von Disziplinen bedürfen vielmehr darüber hinausgehender Prozesse der sozialen Differenzierung, die bestimmte Institutionalisierungen hervorbringen, welche von maßgeblichen Vertretern bereits bestehender Disziplinen, von gesetzlichen Gremien, von politischen Entscheidungsträgern etc. explizit oder implizit anerkannt, mitgetragen und mitgestaltet werden" (a.a.O).

In Anlehnung an Stichweh (1994) und Lepenies (1981) halten Datier und Feit (1996, 53) vier Resultate dieser Prozesse fest. So führen diese Prozesse dazu, dass Fachwissen generiert wird, welches in Lehr- oder Handbüchern ersichtlich ist. Weiters werden „ausmachbare Kommunikationsstrukturen" (a.a.O.) etabliert, in die Personen, die der Disziplin angehören, eingebunden sind. Zum dritten werden „disziplinenspezifische Sozialisationsprozesse" (a.a.O.) geschaffen, „nach denen künftige Angehörige einer Disziplin selektiert und an bestimmte disziplinenspezifische Standards herangeführt werden" (a.a.O). Abschließend betonen Dalter und Felt (1996), dass diese Prozesse der sozialen Differenzierung und Institutionalisierung die Bearbeitung der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Disziplin einleiten, die „den Angehörigen dieser Disziplin ein gemeinsam geteiltes Gefühl der historischen Identität' und nach außen den Eindruck einer weit zurückreichenden Stabilität und Kohärenz vermitteln" (a.a.O., Herv. i. O.).

Auch der Begriff Profession stammt aus dem Lateinischen: professio, -onis (fern.) und bedeutet übersetzt „Beruf, berufliche Beschäftigung" (Stowasser u.a. 1994, 407). Seine Verwendung ist jedoch uneinheitlich: In der soziologischen Theoriebildung werden Professionen als Weiterentwicklungen von Berufen verstanden bzw. als besondere Berufe ausgewiesen, die meist eine akademische Ausbildung voraussetzen.

Eliot Freidson (1979, 1) wiederrum versteht unter Profession eine besondere Art von Beruf, die ein „Versprechen gegenüber der Gesellschaft" (a.a.O.) abgegeben hat. Schorr (1987, 277) weitet diese Definition aus und arbeitet drei Merkmale für Professionen heraus:

- Sie orientieren sich an wichtigen gesellschaftlichen Themenfeldern.
- Sie zeichnen sich durch ein Spezialwissen aus, das in einer Sonderausbildung erworben wird. Diese Sonderausbildungen weisen einen wesentlich höheren Standard auf als die Ausbildung anderer Berufe.
- Professionen haben das Ziel, Personen zu verändern.

Schämann (2006) bezeichnet jene Berufe als Profession, die sich durch das „Erbringen von zentralwertbezogenen Dienstleistungen, die der Aufrechterhaltung von relevanten Wertuniversalien wie Gesundheit, Konsens, Moral, Wahrheit und Recht in der Gesellschaft" (a.a.O., 35) auszeichnen. Darunter versteht Schämann (2006), dass Mitgliedern einer Profession als Instanz zur Wertrealisierung fungieren und kollektivitätsorientiert handeln. Sie haben innerhalb ihrer Profession ein Kollektivitätsbewusstsein entwickelt, das als Garant für eine relativ stabile Konstruktion der Berufsgruppe gilt. Des Weiteren zeichnen sich Professionen durch universelles Wissen und durch eine gesetzlich zugesprochene Handlungsautonomie aus (a.a.O., 36).

Das universelle Wissen schließt sich aus zwei Wissenskomponenten zusammen: Wissenschaftliches Wissen, das als Theorie- und Problemlösungswissen zu verstehen ist, und Berufswissen - das Erfahrungswissen von Berufsangehörigen meint, ergänzt durch allgemeines Alltagswissen. Die Professionsmitglieder verstehen es, diese zwei Komponenten in ihrem Handeln miteinanderzu verknüpfen.

Die Handlungsautonomie einer Profession impliziert die Kontrolle der eigenen Tätigkeiten - Professionen entziehen sich somit der Kontrolle durch Externe oder Organisationen (a.a.O., 38f). Auch Dewe u.a. (1992) schließen sich dieser Definition von Professionen an (a.a.O., 8f). Schwendenwein (1990) hält sogar an sieben Strukturmerkmalen fest, die Professionen von Berufen unterscheiden: Neben der Existenz berufsrelevanter Forschung, entsprechenden Rechtsgrundlagen zur Organisation der Ausbildung und zur Qualifikationskontrolle und der Verpflichtung zur Beachtung gesellschaftlicher Werte betont er auch die Verpflichtung zur Beachtung berufsspezifischer Ziele, die Existenz eines Berufskodex, die Existenz einer berufseigenen Interessensvertretung und die eigenverantwortliche Fortbildung der Berufsangehörigen.

Deutlich wird, dass nach dieser Definition nur wenige Berufe den Professionsstatus erlangen können. Horak und Neudecker (2000) sprechen der Sonder- und Heilpädagogik viele dieser Merkmale einer Profession ab (a.a.O., 17f) und verweisen auf den Status der Sem/profession: Meist rund um die klassischen Professionen angesiedelt verfügen Semiprofessionen über keine oder nur geringe soziale Immunität. Die Ausbildung ist oft verkürzt, die Handlungsautonomie ist eingeschränkt. Weiters zeichnen sich Semiprofessionen durch einen sehr hohen Frauenanteil aus und sind häufig bestrebt, den Status der Vollprofession zu erlangen. Nach diesem Modell zählt auch die Physiotherapie eindeutig zu den Semiprofessionen (Schämann 2006, 41f).

Greift man jedoch auf ein anderes Modell zur Bestimmung einer Profession zurück, eröffnen sich neue Möglichkeiten, sowohl physiotherapeutische als auch sonder- und heilpädagogische Professionalität zu definieren. Horak und Neudecker (2000) versuchen, Professionalität in sonder- und heilpädagogischem Kontext nicht auf die gesamte Berufsgruppe, sondern auf das Handeln einzelner Personen zu beziehen. Somit ist es möglich, als sonder- und heilpädagogisch handelnde Person professionell tätig zu sein - ohne einer Berufsgruppe zugeordnet zu sein, die als Profession unter oben genannten Kriterien anerkannt ist (a.a.O., 19f). Dabei berufen sie sich auf Terhart (1990):

„Profession ist keine Sache, die ein Beruf als Ganzer oder eine Person entweder hat oder nicht hat - sie entwickelt sich vielmehr historisch auf der Ebene eines Berufsstandes, und auf der Ebene des einzelnen Berufsinhabers kann sie sich im Verlauf der Berufsbiographie entwickeln" (Terhart 1990, zit. nach Horak, Neudecker 2000, 165).

Weiters betonen Horak und Neudecker (2000), dass die Professionalität sonder- und heilpädagogischen Handelns getrennt von der Professionalität pädagogischen Handels zu betrachten ist. Als Grund hierfür nennen sie die starke Verbundenheit von sonder- und heilpädagogischem Handeln mit therapeutischer Tätigkeit (a.a.O., 20). Moser (2003) beschreibt die Professionsforschung innerhalb der Sonderpädagogik jedoch als nicht weit vorangeschritten, da sich die Forschung bisweilen auf rein pädagogische Aspekte konzentrierte (a.a.O., 87). Die Autorin hebt die Bedeutung der sonderpädagogischen Professionsforschung auch für die Disziplin Sonderpädagogik hervor:

„Professionstheoretische Einsichten können nun - und dies soll hier v.a. entlang systemtheoretischer und strukturfunktionalistischer Überlegungen entwickelt werden - auch für die Disziplin

Sonderpädagogik von besonderer Bedeutung sein, um von dort aus herauszuarbeiten, was das Besondere der Sonderpädagogik ist" (a.a.O., 88).

Als großen Vorteil dieser Betrachtungsweise sieht Moser (2003) das Umgehen der Diskussion um den Behinderungsbegriff (a.a.O.).

Im Rahmen dieser Arbeit sehe ich sowohl die Heilpädagogik als auch die Physiotherapie als Semiprofession an, wobei die Heilpädagogik im Gegensatz zur Physiotherapie bereits auch als wissenschaftliche Disziplin fest verankert ist, wie sich in den kommenden Kapiteln zeigen wird.

2. Heilpädagogik

Das zweite Kapitel dieser Arbeit steht im Zeichen der Heilpädagogik. Das disziplinäre Selbstverständnis, das Praxisverständnis und auch grundlegende Leitideen der Heilpädagogik werden hiervorgestellt.

2.1 Das disziplinäre Selbstverständnis der Heilpädagogik Um die disziplinäre Identität der Heilpädagogik der heutigen Zeit verständlich zu machen, folgt zu Beginn dieses Kapitels ein kurzer geschichtlicher Abriss.

Erste heilpädagogische Bemühungen lassen sich im 16. Jahrhundert finden und stehen in engem Zusammenhang mit Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen (Biewer 2009, 13). Ein spanischer Mönch, Pedro Ponce de Leon, versuchte mittels Lautsprache gehörlose Menschen zu unterrichten (a.a.O.). Bestimmt vom Gedankengut der Aufklärung folgten ihm im 18. Jahrhundert der Priester Charles Michel de l'Epée und Jakob Rodriguez Pereira. Biewer (a.a.O., 15) schreibt hierzu: „Das Zeitalter der Aufklärung brachte einen pädagogischen Optimismus, der im 18. Jahrhundert zu neuen Wegen der Pädagogik und zum Experimentieren mit Methoden führte, die Kindern zugute kam, die bislang von Bildungsangeboten ausgeschlossen waren." Die erste Schule für gehörlose Kinder wurde in Wien 1779 errichtet. Ebenfalls ins 18. Jahrhundert fällt die Entstehung erster Schulen für sehbehinderte Kinder in Paris durch Valentin Haüy, rtaubblinde' Kinder wurden Anfang des 19. Jahrhunderts in den USA unterrichtet (a.a.O., 16). Die ersten Bildungsmaßnahmen für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen sind eng mit der Entstehung medizinisch orientierter Institutionen verbunden (a.a.O., 17). 1816 gründete Johann Georg Heine in Würzburg eine orthopädische Anstalt, in der zwar die medizinische Betreuung erstrangig war, jedoch auch schulischer Unterricht angeboten wurde (a.a.O.). Menschen mit geistiger Behinderung wurden ab Mitte des 19. Jahrhunderts unterrichtet - Vorreiter war Johann Jakob Guggenbühl in der Schweiz (a.a.O.). Jan Daniel Georgens eröffnete gemeinsam mit Heinrich Marianus Deinhardt 1856 die ,Heil- und Pflegeanstalt Levana' in Baden bei Wien (Gröschke 1997, 86). Sie diente der heilpädagogischen Betreuung von etwa zehn Kindern mit geistiger Behinderung. Nach neun Jahren musste Levana aus wirtschaftlichen Gründen jedoch geschlossen werden (a.a.O.).

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden Bildungseinrichtungen zum Unterricht von lern- und sprachbehinderten Schülern (Biewer 2009, 19).

Mitte des 20. Jahrhunderts erreichte die Heilpädagogik mit der NS-Zeit einen Tiefpunkt. Eugenisches Gedankengut, das sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitete, schlich sich in das Hilfsschulwesen und in die Arbeitsweise in Pflegeanstalten ein (a.a.O., 22). Zur Pflege der sogenannten Erbgesundheit begannen mittels einer Ermächtigung Hitlers 1939 Euthanasiemaßnahmen unter dem Namen ,Aktion T4': Schwer psychisch kranke Patientinnen und Menschen mit schwerer geistiger und/oder körperlicher Behinderung wurden zur Tötung in spezielle Heime verlegt. Aufgrund starker Proteste durch Betroffene und ihre Angehörigen gegen dieses Vorgehen versuchte man, die Tötungen versteckt durchzuführen - eine Überdosis eines Medikamentes täuschte einen natürlichen Tod vor (a.a.O., 23). Mit fortschreitender Kriegsdauer wurden auch Menschen mit Traumatisierungen, Kriegsversehrte und Patientinnen mit schlechten Lungen- und Herzbefunden auf die Euthanasie-Liste gesetzt (a.a.O., 24).

Nach dem Krieg erfolgte ein Ausbau des Sonderschulwesens, außerschulische Einrichtungen für Menschen mit Behinderung entstanden in großer Vielzahl. Eine Gegenbewegung zu diesen Sondereinrichtungen entstand allerdings bald darauf: Das Normalisierungsprinzip strebte eine möglichst große Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen an. Biewer (2005) schreibt hierzu:

„Mit der Weiterentwicklung dieses Prinzips durch den Amerikaner Wolf Wolfensberger in den 1970er Jahren und der Übernahme dieser Positionen in Europa fand ein Prozess der Umgestaltung der pädagogischen Einrichtungen für behinderte Menschen statt. Die Propagierung eines möglichst normalen Lebens und die Hebung der sozialen Rolle behinderter Menschen legte den Grundstein für weitere Veränderungen (a.a.O., 1).

Fortgeführt wurden diese Gedanken ab den 1970er und 1980er Jahren im Sinne der Integrationsbewegung. Sie hatte zum Ziel, Menschen mit Behinderung in ,Regeleinrichtungen' zu fördern (Biewer 2009, 26f). In den 1990er Jahren wurde der Integrationsgedanke weitergeführt zum Inklusionsgedanken (Biewer 2005, 1). Biewer (a.a.O.) bringt den Unterscheid zwischen Integration auf der einen und Inklusion auf der anderen Seite auf den Punkt:

„Während diese Position in der schulischen Integration nur die additive Aufnahme behinderter Kinder in ansonsten weitgehend unverändert arbeitende Regeleinrichtungen sieht, propagiert das Konzept Inclusion grundlegende institutionelle Veränderung, um der Verschiedenheit der Vorrausetzungen der Nutzerinnen gerecht zu werden (a.a.O., 1, Herv. i. O.)

im Laufe der soeben beschriebenen Entwicklung der Heilpädagogik wandelte sich auch die gängige Fachbezeichnung. Die Diskussion um die verschiedenen Fachbegriffe stellt einen wesentlichen Punkt zur Bestimmung der disziplinären Identität dar. Viele Begriffe werden synonym gebraucht, manche ergänzend oder ersetzend - gemeinsam ist hierbei allen die Zuordnung zur ,Mutterdisziplin' Pädagogik, die zunehmend mit dem Begriff ,Bildungswissenschafť ersetzt wurde (a.a.O., 28). Gröschke (1997) definiert diese Koexistenz der verschiedenen Begriffe als Zeichen „anhaltender latenter Selbstverunsicherung der Theoretiker, was für eine Art von Wissenschaft man denn nun eigentlich betreibe" (a.a.O., 18). Auch Theunissen (1997) fühlt sich durch diese Begriffsvielfalt „irritiert" (a.a.O., 373).

Die längste Tradition ist der Fachbezeichnung ,Heilpädagogik'

zuzuschreiben, die 1861 von Georgens und Deinhardt geprägt wurde. Sie manifestierte sich vor allem im Bereich der Praxis (Gröschke 1997, 19). Die Nähe zur Medizin aufgrund des Wortteiles ,Heil- steht hierbei in der Kritik einiger Autorinnen, beispielsweise Hanselmann in den 1930er Jahren und Bleidick in den 1970er Jahren. Paul Moor (1969) hingegen hielt am traditionellen Begriff ,Heilpädagogik' fest und konterte, „daß der Begriff der Heilpädagogik sich nicht mehr deckt mit dem, was der Name Heilpädagogik anzudeuten scheint" (a.a.O., 12). Er sah die Heilpädagogik als „Theorie einer pädagogischen Praxis" (Gröschke 1997, 21f; Herv. i.O.). Auch Kobi (2004) bleibt der Fachbezeichnung Heilpädagogik treu:

„Der Begriff Heilpädagogik lässt sich meines Erachtens dann vertreten, wenn wir

- Die Bezeichnungen >heilen< nicht mehr nur im speziellen Sinne des >Gesundmachens<, sondern im umfassenderen Sinne der Verganzheitlichung und Sinnerfüllung des Leben verstehen den >Gegenstand< unser Bemühungen nicht ausschließlich im behinderten Kind sehen, sondern in bedrohten oder beeinträchtigten Erziehungsverhältnissen, die wir zu erfüllen, zu vertiefen, integrativ zu gestalten oder überhaupt erst einmal zu stiften versuchen" (a.a.O., 126f).

Auch Speck (2008) steht zur Heilpädagogik als Bezeichnung dieser speziellen pädagogischen Teildisziplin, da er ,heil' in Verbindung mit dem Begriff ,ganz' bringt und so auf die verbindende Funktion der Heilpädagogik hinweist: „Den Mensch ganz werden lassen" (a.a.O., 17; Herv. i.O.).

Biewer (2009) nennt trotz seiner Entscheidung für ,Heilpädagogik' als Fachbegriff alternativ den Begriff ,Sonderpädagogik', der allerdings in enger Verbindung mit dem Sonderschulwesen steht. Im Zuge des bereits erwähnten Integrationsgedankens wurde an dieser Fachbezeichnung jedoch ebenfalls Kritik laut (a.a.O., 29). Gröschke (1997) ordnet die Bezeichnung Sonderpädagogik dem wissenschaftlichen Bereich zu und betont die häufige (unreflektierte) Kombination beider Begriffe: Heil- und Sonderpädagogik (a.a.O., 20).

Eine weitere Alternative stellt ,Behindertenpädagogik' dar - ein Begriff, der sich in den 1970er Jahren etablierte. Ziel war es, die ,Gemeinsamkeit' aller AdressatInnen der Heilpädagogik zu finden und diese schon in der Fachbezeichnung deutlich zu machen (Biewer 2009, 30).

Um trotz aller verschiedenen Begriffe einen einheitlichen Fachbegriff zu definieren, schreibt Gröschke (1997): „Der traditionelle und für die heutigen Verhältnisse rehabilitierte Begriff der Heilpädagogik verbürgt am besten die Kontinuität der fachlichen Entwicklungslinien auf dem Felde der Behindertenhilfe vom 19. Jahrhundert an bis heute" (a.a.O., 42). Weiters betont er das Positive des Begriffes ,heil' - nämlich das „Zugeständnis an Geschichte und Tradition des Fachgebietes, das ihre oben skizzierten komplexen Entwicklungsbedingungen nicht leugnet, sondern bewusst annimmt und integriert zu einem komplexen Gesamtsystem >Heilpädagogik<" (a.a.O.). Gröschke (1997) betont zudem auch, dass dem Leitbegriff eine identitätsverbürgende Funktion zukommt (a.a.O., 40). Da die Weiterentwicklung der Heilpädagogik in all der bisher erreichten Vielfalt unter eben dieser Fachbezeichnung bestmöglich gewährleistet ist, fällt die Entscheidung der meisten Autorinnen zugunsten des Begriffes Heilpädagogik. in meiner Arbeit schließe ich mich dementsprechend dieser Meinung an und vertrete den Begriff Heilpädagogik als Fachbezeichnung.

Da nun ein fachspezifischer Oberbegriff gefunden ist, muss man in der Diskussion nach der disziplinären Identität der Heilpädagogik fragen: Was ist Heilpädagogik eigentlich? Gröschke (1997) stellt die Gegenfrage und beschreibt, was Heilpädagogik nicht ist: weder religiös motivierte Heilerziehung noch ärztlich-pädagogische Heilkunde oder gar pädagogische Therapie (a.a.O., 36f). Auch die „Anwendung spezifischer pädagogisch-therapeutischer Methoden auf die Förderung behinderter und verhaltensgestörter Kinder und Jugendlicher" lehnt Gröschke ab, da der Methodenansatz allein nicht ausreicht, um die Heilpädagogik als eigenständige Disziplin zu begründen (a.a.O., 39).

Auf die Frage, was Heilpädagogik nun sei, lässt sich die Übereinstimmung vieler Autorinnen erkennen, dass die Heilpädagogik innerhalb der Pädagogik als Kerndisziplin beziehungsweise Mutterdisziplin anzusiedeln ist (beispielsweise Moor 1969, 7; Gröschke 1997, 36; Biewer 2009, 27). Moor (1969) sieht Heilpädagogik als jene Pädagogik, die versucht, Erziehung zu ermöglichen, wenn „etwas Unheilbares vorliegt" (a.a.O., 12). Hauptadressatinnen der Heilpädagogik sind laut Moor (1965) jene Kinder, „welche die Alltagserziehung vor unlösbare Aufgaben stellen, Kinder, für welche die gewohnten Mittel und Wege nicht mehr ausreichen und mit welchen die üblichen Ziele nicht mehr erreicht werden können" (a.a.O., 260).

Gröschke (1997) sieht Heilpädagogik als Handlungswissenschaft und schreibt ihr die Verantwortung zu, die „Sicherung und Verbesserung der Lebensqualität behinderter oder entwicklungsauffälliger Menschen" (a.a.O., 13) zu gewährleisten. Weiter führt er aus:

„Gegenstand heilpädagogischen Handelns sind durch Behinderung beeinträchtigte Erziehungs- und Bildungsverhältnisse, in denen gelingende Kommunikation Bedingung für die Aufhebung oder Kompensation der Beeinträchtigung ist. Heilpädagogen sind in erster Linie (Heil-)Erzieher, ihr beruflicher Auftrag bezieht sich primär auf Förderung, Erziehung und Bildung unter diesen erschwerten Bedürfnissen" (a.a.O., 262, Herv. i. O.).

Außerdem ist bei Gröschke (1997, 41) zu lesen, was die Teilnehmerinnen der ,Konferenz der Studiengänge Heilpädagogik an Fachhochschulen' 1997 zur Frage nach dem Selbstverständnis der Heilpädagogik festhielten:

„Heilpädagogik als Teil der Pädagogik ist eine Handlungswissenschaft, eine anwendungsbezogene Wissenschaft mit dem Auftrag, Konzepte für die heilpädagogische Praxis zu entwickeln. Heilpädagogik versteht sich als Theorie und Praxis der Erziehung, Bildung und Förderung jener Menschen,

- die sich in den gegebenen soziokulturellen Verhältnissen nicht altersgemäß entwickelt haben oder die als fehlentwickelt gelten,
- die in ihrer Beeinträchtigung nicht zu einer altersgemäßen Lebensgestaltung fähig sind,
- die in ihrem Erleben sich anders und ausgegrenzt fühlen.

Von daher vollziehen sich im Arbeitsfeld der Heilpädagogik Entwicklung und Erziehung unter erschwerenden Bedingungen. Es ist der berufliche Anspruch des Heilpädagogen, den in seiner Entwicklung und Lebensgestaltung beeinträchtigten Menschen in seiner personalen Einmaligkeit und sozialen Zugehörigkeit zu respektieren und zu fördern. (...) Es geht letztendlich immer auch um Ermutigung im Anderssein, um Annahme des Behindertseins und um Sinnfindung angesichts beeinträchtigter Lebensbedingungen" (Konferenz der Studiengänge Heilpädagogik an Fachhochschulen 1997, zit. nach Gröschke 1997, 41).

Nach Biewer (2009) versteht Haeberlin Heilpädagogik „als Pädagogik für Ausgegrenzte und Benachteiligte" (a.a.O., 33) - Biewer macht allerdings auch auf die Schwierigkeit aufmerksam, die durch solch eine weit gefasste Definition auftritt (a.a.O.). Haeberlin selbst führt weiter aus, Heilpädagogik stelle „die erzieherische und therapeutische Hilfe für Kinder und Jugendliche (auch Erwachsene) ... dar, welche als Folge einer Schädigung und/oder einer problematischen Sozial- und Beziehungssituation in der Entwicklung zur Selbstbestimmung und zur Gesellschaftsfähigkeit beeinträchtig sind" (a.a.O., 171).

Speck (2008) sieht Heilpädagogik als „Pädagogik unter dem Aspekt spezieller Erziehungserfordernisse beim Vorliegen von Lern- und Erziehungshindernissen" (a.a.O., 18) und „bezieht sie auf alle Institutionen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit speziellem Erziehungs- und Bildungsbedarf" (a.a.O.).

Kobi (2004) unterstützt die Aufteilung der Heilpädagogik in eine allgemeine Heilpädagogik, die sich mit der Geschichte, mit wissenschaftstheoretischen und spartenübergreifenden Grundfragen beschäftigt, und in eine spezielle Heilpädagogik. Die spezielle (oder auch differenzielle) Heilpädagogik unterscheidet sich nach den verschiedenen Behinderungsarten (Körperbehinderten-, Kranken-, Sehgeschädigten- (a.a.O., 136), Blinden-, Hörgeschädigten-, Gehörlosen-,

Sprachbehinderten- (a.a.O., 137), Geistigbehinderten-, Lernbehinderten- (a.a.O., 138), Verhaltensgestörten- und Mehrfachbehindertenpädagogik (a.a.O., 139)) und beschäftigt sich mit Handlungskonzepten, Erziehungshilfe, Lebenshilfe und der Bedingungsanalyse von Behinderung (a.a.O.).

Gröschke (1997) definiert Sozialwissenschaft, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie und vor allem Humanbiologie, Psychologie und Medizin als Bezugswissenschaften der Heilpädagogik (a.a.O., 73f). Zum Verhältnis der Heilpädagogik zur Medizin hält Speck (2008) fest, dass durch die Emanzipation der Heilpädagogik von der Medizin ein offenes und kooperatives Zusammenarbeiten möglich wurde (a.a.O., 307f). Auch die interdisziplinäre und interfachliche Kooperation mit diesen Bezugswissenschaften beschreibt Speck (2008) als unverzichtbare, „wissenschaftliche Lösung bestimmter praktischer Probleme" (a.a.O., 308).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass auch weiterhin der Begriff ,Heilpädagogik' der gängigste und anerkannteste Begriff dieser Disziplin ist, die eindeutig im Feld der Pädagogik angesiedelt werden muss. Im Zentrum der Heilpädagogik stehen jene Menschen, die im Allgemeinen als ,behinderť gelten und deren Erziehungs- und Bildungsprozesse erschwert sind.

2.2 Das Praxisverständnis der Heilpädagogik

Praxis bedeutet bewusstes menschliches Handeln bezogen auf zwischenmenschliche Prozesse (Gröschke 1997, 131). Dabei bezieht sich dieses Handeln „verständigungsorientiert auf Personen" (a.a.O., 134) und „trägt seinen Wert in sich selbst" (a.a.O.).

Wie jedoch bereits in der Einleitung dieser Arbeit deutlich wird, gibt es vielfältige Ansichten und Definitionen, was unter heilpädagogischem Handeln zu verstehen ist: Strachota (2002, 213) fasst alle verschiedenen Formen (heil-)pädagogischen Handelns unter dem rein pädagogischen Begriff Erziehung zusammen, bei Biewer (2009) beinhaltet heilpädagogisches Handeln Entwicklung (a.a.O., 80f), Förderung (a.a.O., 85ff), Therapie (a.a.O., 89ff) und Prävention (a.a.O., 91ff). Theunissen (1997, 373) wählt Bildung, Förderung, Unterstützung, Assistenz und Hilfe zur Selbsthilfe als leitende Begriffe heilpädagogischer Praxis. Doch was steht hinter diesen begrifflichen Hüllen? Strachota (2002, 214) unterscheidet zwischen ,Erziehung im engeren und im weiteren Sinne'. Im Gegensatz zur moralischen Beeinflussung - dem enggefassten Verständnis von Erziehung - umfasst dieser Begriff im weiten Spektrum verschiedenste Formen pädagogischen Handelns:

„Die unter dem Begriff >Erziehung< im weiteren Sinne begrifflich erfaßten Formen pädagogischen Handelns verstehe ich zunächst als mehr oder weniger reflektierte Einwirkung Erwachsener auf Kinder, Jugendliche (und Erwachsene), die von einer bestimmten Absicht geleitet sind" (a.a.O., Herv. i. O.).

Speck (2008) fasst den Erziehungsbegriff ebenfalls weit, sodass er sowohl Unterricht als auch Förderung einschließt (a.a.O., 326).

Kobi (2004) zeigt auf, dass Erziehung etwas Relatives ist, das nicht absolutierbar ist. Er schreibt: „Das Allgemeinste, was über Erziehung ausgesagt werden kann, ist, dass es sich um eine im intersubjektiven Vergleich (Ich erlebe mich so - Dich erlebe ich anders) wurzelnde Intention zur personalen Existenzänderung und Daseinsgestaltung handelt" (a.a.O., 32, Herv. i. O.). Kobi betont, dass der Mittelpunkt heilpädagogischen Handelns immer der Mensch ist, dem gegenüber der/die Heilpädagogin einen Erziehungsauftrag hat. Dabei muss eine Behinderung bzw. eine Störung berücksichtig werden, die eine Abweichung von dem, was als ,normal' gesehen wird, bedeutet (a.a.O.).

Biewer (2009, 81) führt ,Diagnostik' als Tätigkeitsfeld heilpädagogischer Praxis an. Eine besondere Bedeutung schreibt er der ,Förderdiagnostik' zu, da sie - neben dem Erforschen von psychischen Prozessen und Verhalten - auch die Aufgabe hat, pädagogische Prozesse zu unterstützen. Weiters bringt er die Förderdiagnostik in engen Zusammenhang mit Entwicklung', da sowohl die Rahmenbedingungen als auch der Entwicklungsstand eines Kindes beachtet werden. Biewer (2009, 80) sieht den

Entwicklungsgedanken als zentralen Gedanken der Heilpädagogik. Das Ermöglichen und das Erleichtern von Entwicklung stehen laut Biewer (a.a.O.) im Zentrum, er stellt den Entwicklungsbegriff gleichberechtigt neben Bildung und Erziehung:

„Für die Heilpädagogik hat der Begriff der Entwicklung keine geringere Bedeutung als Bildung und Erziehung. Deshalb sollte die Heilpädagogik auch die Frage nach der Verortung des Entwicklungsgedanken in der Bildungswissenschaft stellen und Fragen seiner Anwendung und Begründung im Kontext von Bildung und Erziehung stellen" (a.a.O.).

Dabei bezieht sich Biewer auf Roth, der in seinem Werk - dem zweiten Band der Pädagogischen Anthropologie - den Entwicklungsbegriff dem Erziehungsbegriff gleichgestellt hat (a.a.O.). Auch Benkmann (1998) schreibt Entwicklung grundlegende Bedeutung für die heilpädagogische Theoriebildung und Forschung zu (a.a.O., 24). Dementsprechend ist auch der damit eng verknüpfte Begriff Förderung' in der heilpädagogischen Praxis anzusiedeln. Biewer (2009, 86) versteht unter Förderung „entwicklungsorientiertes pädagogisches Handeln" (a.a.O.). Gröschke schreibt dem Begriff Förderung' sogar noch größere Bedeutung zu, er bezeichnet ihn als „angemessene Bezeichnung für das handlungsbezogene Leitkonzept heilpädagogischer Maßnahmen und Aktivitäten" (a.a.O., 269, Herv. i. O.). Das „erzieherische Moment" (a.a.O., 270, Herv. i. O.) soll dabei im Vordergrund stehen. Speck (2008) wünscht sich eine genaue Abklärung des Verhältnisses des Begriffes Förderung' zu alteingesessenen heilpädagogischen Begriffen wie Erziehung, Bildung und Unterricht. Es scheint unklar, ob diese traditionellen Bezeichnungen ersetzt oder ergänzt werden sollen (a.a.O., 332). Strachota (2002) hingegen beobachtet, dass der Begriff Förderung' „den traditionellen Erziehungsbegriff ersetzen" (a.a.O., 211) will. Sie zeigt aber auch kritische Seiten des Förderbegriffes auf und bestärkt so ihre Entscheidung für ,Erziehung' als praxisleitenden Begriff der Heilpädagogik:

„Es fördern Medizinerinnen gleichermaßen wie Pädagoginnen, während bislang Erziehung als originär pädagogische Tätigkeit verstanden wurde. Mit der Preisgabe des Begriffs >Erziehung< zugunsten des Begriffs >Förderung< als Bezeichnung pädagogischen Handelns würde neben dem Begriff Behinderung ein weiterer nicht-pädagogischer Begriff ins Zentrum des heilpädagogischen Begriffssystems gerückt werden, womit der heilpädagogischen Sprache - sprich dem heilpädagogischen Selbstverständnis - vermutlich kein guter Dienst erwiesen wäre" (a.a.O., 212f).

Biewer (2009) betont in Anlehnung an Fornefeld einen weiteren Kritikpunkt an der häufigen Verwendung des Begriffes Förderung': dem/der Empfängerin kommt bei der Förderung eine passive Rolle zu (a.a.O., 87). Um dem entgegenzuwirken, könnte Förderung' durch facilitation' ersetzt werden (a.a.O.).

in dieser Arbeit von besonderer Bedeutung ist die Rolle des Begriffes ,Therapie' in heilpädagogischem Kontext. Ursprünglich aus der Medizin stammend, hat sich Therapie mittlerweile auch in vielen anderen Bereichen - so auch in der Heilpädagogik - etabliert (Speck 2008, 322). Kobi (2004) sieht jedoch wesentliche Unterschiede zwischen Therapie und Erziehung: „Wer jemandem ein störendes Etwas weg-bringt, therapiert. Wer jemandem ein erwünschtes Etwas bei-bringt, unterrichtet" (a.a.O., 347). Weiters sieht er Therapie als „indikativ, restaurativ, reparativ" (a.a.O., 344) und „funktional" (a.a.O., 345) - Erziehung hingegen als „imperativ, innovativ, emanzipatorisch" (a.a.O., 344) und „interaktional" (a.a.O., 345). Weiters thematisiert er die Diskussion des Verhältnisses von Therapie und Erziehung und sieht den Grund für diese Diskussion in „unterschiedlichen Systembedingungen, in unterschiedlichen Sichtweisen, Sozialisationsgeschichten, versicherungstechnischen Einschätzungen, Sozialprestige und Depersonalisierungsbedürfnissen" (a.a.O., 343).

[...]


1 Das Team der MA 10 - Fachbereichmobile Entwicklungsförderung stellt sich zum momentanen Zeitpunkt aus einem männlichen Psychologen und sonst weiblichen Kolleginnen zusammen.

Ende der Leseprobe aus 147 Seiten

Details

Titel
Physiotherapie zwischen Heilpädagogik und Medizin
Untertitel
Kinderbetreuung in Wiens Integrationskindergärten
Hochschule
Universität Wien  (Bildungswissenschaften)
Note
2
Autor
Jahr
2011
Seiten
147
Katalognummer
V194942
ISBN (eBook)
9783656204466
ISBN (Buch)
9783656207658
Dateigröße
1762 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
erziehen, physiotherapie, wiens, integrationskindergärten, brennpunkt, heilpädagogik, medizin
Arbeit zitieren
Priska Wikus (Autor:in), 2011, Physiotherapie zwischen Heilpädagogik und Medizin, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/194942

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