Die Psychomotorik, mit ihrem festen Glauben an Ganzheitlichkeit in der Arbeit mit dem Menschen, ist seit langer Zeit eine Nachbarwissenschaft der Pädagogik. Besonders in der Sozialpädagogik wird ihren Methoden ein großer Stellenwert beigemessen. Die Fundierung derselben aber kommt oft leider noch ausschließlich von individuellen Meinungen und Überzeugungen her. Daher wird in der vorliegenden Diplomarbeit eine interdisziplinäre Interventionsstudie genauer beleuchtet, die durch eine Verknüpfung von pädagogischen, psychologischen und informationswissenschaftlichen Grundlagen dem Dilemma Abhilfe und einen Teil einer wissenschaftlichen Basis für den Einsatz der Psychomotorik in Sozialpädagogik und Pädagogik zu schaffen versucht. Dafür wird im pädagogischen Rahmen der Psychomotorik, aufbauend auf Grundsätzen aus der Informatik, mit psychologischen Forschungsmethoden die Effizienz einer ganzheitlichen computergestützten Lernmethode in der Praxis überprüft.
Inhaltsverzeichnis
Danksagung
Vorwort
1. Einleitung
2. Theorie der Psychomotorik für die Schule - pädagogische Basis für einen bewegungsunterstützten mathematischen Lernprozess
2.1 Geschichte, Ansätze und Konzepte der Psychomotorik
2.1.1 Geschichte der Psychomotorik in Deutschland
2.1.2 Ausgewählte Ansätze und Konzepte
2.2 Psychomotorik und Schule
2.2.1 Bedarf der Schule an Psychomotorik
2.2.2 Grundlegende Widersprüche und Desiderate
2.3 Bewegte Schule als alternativer programmatischer Rahmen
2.4 Das ,Tanzmattenprojekt‘
3. Zusammenhang zwischen Körperbewegung im Raum und einem abstrakten mathematischen Lernprozess
3.1 Zahlenrepräsentationen
3.1.1 Triple-Code-Modell
3.1.2 Räumliche und semantische Repräsentation
3.1.3 Embodied Cognition, Embodied Numerosity
3.2 Koppelung von mathematischem Konzept und Bewegung des Körpermittelpunkts - die Studie mit der Tanzmatte
3.2.1 Mediendidaktischer Zusammenhang
3.2.2 Multiple externe Repräsentationen
3.2.3 Interventionsstudie im Detail
3.2.3.1 Studiensetting und Hyp othesen
3.2.3.2 Ergebnisse und Interpretation
4. Zusammenfassung und Ausblick
Quellen
Anhang
Danksagung
An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die mich bei der Erstellung dieser Diplomarbeit unterstützt haben.
Zuallererst möchte ich meiner Mutter und meinen Freunde danken für das geduldige Aushalten meines täglichen Wehklagens und die nicht enden wollenden Ermutigungen und Unterstützungen.
Weiter möchte ich allen, die bei der Planung, Organisation und Durchführung der Studie beteiligt waren für ihre großartige Zusammenarbeit danken. Namentlich sind das Frau Prof. Dr. Ulrike Cress, Herr Prof. Dr. H.-C. Nürk, Herr Korbinian Moeller, Frau Claudia Sauter und Frau Martina Bienzle.
Und schlussendlich ein herzliches Dankeschön an Herrn Prof. Dr. Carl Heese für die Betreuung dieser Diplomarbeit.
Vorwort
Das Gehirn steckt in einem lebendigen Organismus und lässt sich daher nur von diesem her richtig begreifen! (Grundsatz der Embodied Cognition) Ich wünsche der Leserschaft eine bereichernde Lektüre und hoffentlich viele neue und spannende Erkenntnisse. Eine letzte Anmerkung bevor es losgeht: Jegliche Fußnoten, wenn nicht gesondert gekennzeichnet, sind Anmerkungen des Autors.
1. Einleitung
Ganzheitliches Lernen ist Lernen mit allen Sinnen, Lernen mit Verstand, Gemüt und Körper. (Klippel 2000, S. 242)
Die Psychomotorik, mit ihrem festen Glauben an Ganzheitlichkeit in der Arbeit mit dem Menschen, ist seit langer Zeit eine Nachbarwissenschaft der Pädagogik. Besonders in der Sozialpädagogik wird ihren Methoden ein großer Stellenwert beigemessen. Die Fundierung derselben aber kommt oft leider noch ausschließlich von individuellen Meinungen und Überzeugungen her. Daher wird in der vorliegenden Diplomarbeit eine interdisziplinäre Interventionsstudie genauer beleuchtet, die durch eine Verknüpfung von pädagogischen, psychologischen und informationswissenschaftlichen Grundlagen dem Dilemma Abhilfe und einen Teil einer wissenschaftlichen Basis für den Einsatz der Psychomotorik in Sozialpädagogik und Pädagogik zu schaffen versucht. Dafür wird im pädagogischen Rahmen der Psychomotorik, aufbauend auf Grundsätzen aus der Informatik, mit psychologischen Forschungsmethoden die Effizienz einer ganzheitlichen computergestützten Lernmethode in der Praxis überprüft.
2. Theorie der Psychomotorik für die Schule - pädagogische Basis für einen bewegungsunterstützten mathematischen Lernprozess
Psychomotorik ist seit einigen Jahren in das Aufmerksamkeitsfeld der breiten Öffentlichkeit in Deutschland vorgedrungen und scheint in großen Teilen in der Praxis akzeptiert zu werden. Vor allen in der Kinder- und Jugendbildung wird auf verschiedenen Ebenen tief in die ,große Kiste der psychomotorischen Methoden und Vorgehensweisen gegriffen4. Die Ausgestaltung freilich zeigt an verschiedenen Orten und Institutionen ganz unterschiedliche Gesichter, die oft mehr vom individuellen Charakter der ausführenden Person(en) und der ,aktuellen Mode‘ als von grundlegenden Konzepten, Ansätzen und Theorien geprägt sind. Jürgen Seewald zufolge herrscht selbst heute in psychomotorischen Fachzeitschriften überwiegend noch der Eindruck ,bunter‘ Praxis vor und weist die klare praxologische Abkunft der Psychomotorik aus (vgl. Seewald 2000). Hier hat sich in den letzten Jahren viel getan und eine voranschreitende Professionalisierung und Theorie- sowie Wissenschaftsorientierung dringt immer weiter in die breite Praxis vor.
Die verschiedenen wissenschaftlichen Lager sind sich allerdings noch keineswegs einig. Um nur einen Angriffspunkt in den vielen sich heute im Umlauf befindenden und teilweise sehr unterschiedlichen Definitionen von Psychomotorik zu geben, wird an dieser Stelle Renate Zimmer als anerkannte Expertin auf diesem Feld zitiert:
Psychomotorik beschreibt eine „funktionelle Einheit psychischer und motorischer Vorgänge, die enge Verknüpfung des Körperlich-motorischen mit dem Geistigseelischen“ (Zimmer 2006, S. 22) und ist als Arbeitsfeld an der Schnittstelle zwischen Pädagogik und Therapie zu lokalisieren (vgl. Zimmer 2006).
Im weiteren Verlauf (bis einschließlich Kapitel 2.1.1) wird der Einfachheit halber und wenn nicht gesondert darauf hingewiesen von der Definition der Psychomotorik als Einheit motorischer, psychischer und geistiger Prozesse ausgegangen. Der Mensch wird dementsprechend als eine psychomotorische Einheit in sich betrachtet. Vor allem ist auch alle kindliche Entwicklung als psychomotorische Entwicklung zu verstehen (vgl. Könnecke 2005).
Erziehung durch und mit Psychomotorik wird seit Anbeginn ihrer Entwicklung in Deutschland vor allem in Feldern mit gesellschaftsintegrations- und erziehungstechnischem Problemhintergrund angewandt, also in traditionellen Bereichen der Sozialpädagogik. Nur selten findet man ihre Nutzung auch in Institutionen für die breite Masse. Dies wäre, unter der Annahme eines positiven Einflusses auf die breitgefächerte Bildungswirksamkeit der Institutionen, im ursprünglichen und heutzutage wieder stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückten Verständnis von Sozialpädagogik à la Mager, Diesterweg oder Natorp jedoch durchaus zu unterstützen (vgl. Gottschalk 2004, Jegelka 1992). Vor allem die Ausbreitung der Psychomotorik auf das große Feld der Regelschule ist bis heute noch hart umstritten und besteht vorwiegend aus wenig erprobten Vorstellungen und Forderung (vgl. Seewald 2000).
Dies gilt auch für einen anderen Ansatz, der mit einer stärkeren Gewichtung eines neuen Bewegungs- und Wahrnehmungsverständnisses im Lernprozess in der Regelschule nur langsam Fuß zu fassen scheint und daher nicht nur inhaltlich große Übereinstimmungen mit Versuchen hat, psychomotorische Methoden in die Schule einzubringen. Das Konzept der Bewegten Schule, auf welches hier angespielt wird, geht auf den Schweizer Urs Illi zurück, der seit Anfang der 1980er eine Umstrukturierung in Richtung eines mehr bewegungsgestützten, ganzheitlich orientierteren Unterrichts der bis heute noch dominant im europäischen Bildungssystem vertretenen ,Sitzschule‘ fordert.
Diese beiden Vorstellungen von einer anders gearteten Regelschule wissenschaftlich zu unterstützen und in die Praxis zu integrieren ist eines der Ziele des dieser Diplomarbeit zugrunde liegenden Forschungsprojektes. Es wird dabei ein in Richtung Ganzheitlichkeit sich richtender, breit bewegungs- und wahrnehmungsunterstützter, mathematischer Lernprozess auf seine Effekte auf das Anwenden mathematischer Grundlagenkompetenzen hin untersucht.
Hierzu wird im Folgenden erst auf die Grundlagen der Psychomotorik eingegangen, um anschließend deren Praxisbezug für die Schule zu erläutern sowie das Konzept Bewegte Schule einzuführen. Es wird dabei ein Schwerpunkt auf das ,Warum‘ und ,Wie‘ von Bewegung im Schulbezug gelegt. Schlussendlich wird oben genanntes Forschungsprojekt in Verbindung mit beiden Ansätzen und ihren Begründungsmustern gesetzt.
2.1 Geschichte, Ansätze und Konzepte der Psychomotorik
Zu Beginn wird eine grundlegende Darstellung der Entwicklung der Psychomotorik ausgehend von Ernst Jonny Kiphards ,psychomotorischer Übungsbehandlung‘ in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland dargelegt. Anschließend werden verschiedene aktuellere Ansätze und Ausrichtungen der Psychomotorik vorgestellt, um der in den letzten 15 Jahren in der Psychomotorik vonstatten gegangenen starken theoretischen Veränderung und inhaltlichen Verbreiterung des Fachgebietes gerecht zu werden.
2.1.1 Geschichte der Psychomotorik in Deutschland
Vorgeschichte/Grundlage
Der Körper und die Bewegung werden nicht erst heute im Zusammenhang mit pädagogischen Fragestellungen genannt und in den Mittelpunkt grundlegender Überlegungen über die Erziehung gestellt. (Hammer 2004 a, S. 12)
Schon seit der Antike gab es immer wieder kulturelle Entwicklungen, in denen die Erziehung zu Idealbildern stark auf Bewegung und Körperlichkeit baute. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte sich dann, unter dem Einfluss der Reformpädagogik, in Europa eine Art Leibeserziehung als neues Erziehungsprinzip, welche „fächerübergreifend gegen die einseitige intellektuelle Bildung“ (ebd., S. 14), die bis dahin der ,Standard‘ war, wirken sollte. Sie grenzte sich auch klar von der seit der Antike bestehenden Definition von Bewegungserziehung ausschließlich zur Verbesserung motorischer Fertigkeiten ab. Renate Zimmer zufolge sollte „einer weitgehend funktional-mechanischen Betrachtungsweise von Motorik ein neues bewegungspädagogisches Leitbild entgegengesetzt werden“ (Zimmer 2006, S. 17). Als Ziel dieses neu entstandenen, bewegungsorientierten Erziehungsprinzips wurde eine ganzheitliche Erziehung der gesamten Persönlichkeit formuliert, die Körper, Geist und Seele mit einbezieht.
Diesem damals neuen Ansatz der Erziehung mit und durch Psychomotorik lag und liegt heute noch ein humanistisches Menschenbild zugrunde, dessen spezielle Ausrichtung auf Autonomie und Ganzheitlichkeit - neben anderen in der psychomotorischen Erziehung wichtigen Grundsätzen aus diesem Menschenbild, wie sozialer Interdependenz, Selbstverwirklichung und Ziel- und Sinnorientierung - im Laufe der zeitlichen Entwicklung und Verbreitung der Psychomotorik in Deutschland immer stärker in den Vordergrund getreten ist. Hans-Peter Färber drückt dies folgendermaßen aus1:
Psychomotorik ist auf die Ganzheit der menschlichen Persönlichkeit gerichtet, weil sie nicht die Verbesserung bestimmter motorischer Fertigkeiten eines Kindes in das Zentrum ihrer Bemühungen stellt, sondern die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit als wesentliches Ziel und das selbstbestimmte Bewegungshandeln als wesentliches Mittel einer solchen Förderung versteht. (Färber 2004, S. 277)
Ausgangspunkt in Deutschland
Ernst Jonny Kiphard (*1923) wird, vor allem durch seine frühen Veröffentlichungen im Bereich der Psychomotorik und die Entwicklung einer der ersten psychomotorischen Erziehungsmethoden, der ,psychomotorischen Übungsbehandlung‘, landläufig als Nestor der Psychomotorik in Deutschland gesehen, deren Entstehung in der Mitte der 1950er Jahre zu verorten ist.
Kiphard erkannte durch jahrelange Erfahrungen mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen, dass Psyche und Motorik untrennbar zusammenhängen und sensomotorische Schwierigkeiten und Defizite in der Wahrnehmung eine der Ursachen für psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen sind sowie, dass der Ausdruck und die Verarbeitung der Psyche und deren Schwierigkeiten in der und durch die Motorik geschieht. (vgl. Kiphard 2004). Die psychomotorische Übungsbehandlung entstand daraufhin mit dem Ziel, in der Behandlung psychisch geschädigter Kinder und Jugendlicher statt dem Leistungsprinzip ein freies Handeln anzusetzen und somit selbstgesteuerte und -bestimmte Handlungs- und Wirkungserfahrungen und ein Mit- statt ein Gegeneinander in der immer mehr leistungsorientierten Bildungslandschaft durch bewegungs- und spielgestützte Lernprozesse zu ermöglichen, um so einen besseren Umgang mit den psychischen Problemen zu erreichen. Zu diesem Zwecke wurden in der „Übungsbehandlung Ideen aus der Leibeserziehung und Gymnastikbewegung, der Sinnes- und Bewegungsschulung und der rhythmischen Erziehung“ (Perras ohne Datum, S. 1) mit pädagogischen Grundlagen verbunden. Die Persönlichkeit der Kinder und Jugendlichen sollte durch eine bewegungsunterstützte und selbstgesteuerte Auseinandersetzung mit den eigenen Fähigkeiten und Ängsten stabilisiert und beruhigt werden. Er schuf mit anderen Sportpädagogen und Ärzten zusammen, in deutlicher Abgrenzung zur damaligen Sportmotorik und anderen Trainingsmethoden, eine nicht mehr nur symptom- und defektorientierte, sondern die Gesamtheit des Kindes mit Stärken und Schwächen beachtende Bewegungsmethode. Das Ziel war eine ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung des Kindes, die dem Spiel, als kindliche Bewältigung und Umgangsform mit der Umwelt, eine gewichtige Rolle einräumt. Für diese, nach seinen Worten „ganzheitlich-humanistische, entwicklungs- und kindgemäße Art der Bewegungserziehung“ (Zimmer 2006, S. 17) formulierte Kiphard folgende, für die psychomotorische Erziehung auch heute noch größtenteils repräsentativen Haupteigenschaften und Ziele:
- kindorientiert, verstehend, einfühlend, geduldig
- prozessorientiert, Betonung des Weges zum gesteckten Ziel
- erlebnisorientierte, psychomotorische Situationsbewältigung
- entspannte, fröhliche, spielerische, humorvolle Atmosphäre
- weitgehend selbstbestimmt
- explorativ und kreativ mit Material und Umwelt
- situative Offenheit, variierend
- vielfältige Möglichkeiten zu eigenen Erfolgserlebnissen
- Anerkennung, Ermutigung und Stärkung des Selbstwertgefühls
- Steigerung der Konflikttoleranz
- konstantes und konsequentes Lehrerverhalten
- persönliche Beziehungen
- Hinführung zu positiven Gemeinschaftserlebnissen
- Abbau von Ichbezogenheit und Egoismus (vgl. Kiphard 2004)
Wissenschaftliche Grundlagen & Entwicklung
Bevor nun einige Ansätze der Psychomotorik differenzierter dargestellt werden, soll noch ein kurzer Abriss der wissenschaftlichen Grundlagen der Psychomotorik in Deutschland einfügt werden.
Wie oben bereits erwähnt zeichnet sich die praxologische Abkunft der Psychomotorik auch heute noch in wissenschaftlichen Foren durch eine Vielzahl von immer wieder neuen und meist unbelegten ,Konzepthits‘ und Praxisideen ab (vgl. Seewald 2000). Nichtsdestotrotz entstand schon bald nach der Formierung des neuen Ansatzes einer Erziehung mit und durch Psychomotorik in Deutschland ein Streben nach wissenschaftlicher Fundierung desselben - dem eine bereits bestehende breitgefächerte Praxis als Herausforderung gegenüberstand.
Die professionelle Psychomotorik hat sich akademisch unter dem Namen Motologie formiert2.
In der Gründerphase der Motologie, die aus der Praxis der Psychomotorik in Deutschland hervorging, stand zunächst der Versuch der wissenschaftlichen Etablierung, Legitimierung und Anerkennung des Faches durch das Konzeptionieren einer tragfähigen theoretischen Basis im Vordergrund. (Balgo 2004, S. 187)
Aufgrund des interdisziplinären Ursprungs der Psychomotorik und der schon über viele Professionen verteilten, sehr unterschiedlichen praktischen Anwendungen derselben, war und ist das Ziel, eine theoretische Basis zu finden, die allen Einflüssen gerecht wird, nicht einfach in einem von innen aufgebauten und logisch stringenten Theoriekonstrukt zu realisieren.
Dies führte zu einem ,Zusammensuchen’ von Theoriebausteinen, die, jeder für sich, die Bedeutung des Bewegungs- und Wahrnehmungslernens für die Persönlichkeitsentwicklung ein Stück weit legitimieren konnten. Bedingt durch diesen Legitimationswunsch kam dabei so etwas wie ein theoretischer ,,Flickerlteppich “ heraus, bei dem allerdings gewisse Grundmuster immer wiederkehren. (Seewald ohne Datum, S. 24f)
Nach Richard Hammer ist das, um es kritisch zu betrachtet, ein Ausdruck unterschiedlicher „Ansätze, die aber immer wieder in fremden Gewässern fischen müssen, um letztlich eine existierende und funktionierende Praxis zu rechtfertigen.“ (Hammer 2004 d, S. 243).
Dabei wesentliche theoretische Grundlagen, die bei dem entstandenen ,Flickerlteppich‘ maßgebliche Teile stellen und damit einen großen Einfluss auf die Ausrichtung der Psychomotorik hatten und immer noch haben sind nach RolfBalgo:
- verschiedene neurophysiologisch ausgerichtete Begründungsmodelle
- das Adaptionsmodell
- die Gestaltkreislehre nach Viktor von Weizsäcker
- strukturtheoretische Modelle des motorischen Lernens
- die Theorie der sensomotorischen Entwicklung von Piaget
- verschiedene handlungstheoretische Modelle (vgl. Balgo 2004)
Die oben von Jürgen Seewald erwähnten Grundmuster der Theoriebausteine im ,Flickerlteppich‘ und damit der Motologie an sich sind Rolf Balgo zufolge vor allem in zwei Aspekten zu finden - einem positivistischen und naturwissenschaftlichen Grundverständnis mit deduktivem Erklärungsansatz und zweitens der Annahme, dass Verhaltensauffälligkeiten als „sekundäre psychische Kompensation von primär vorhandenen ursächlichen Mängeln biologischer Strukturen [...] oder sensomotorischer Strukturen erklärt“ (ebd., S. 187) werden können.
Schlussendlich ist der Motologie, als professionellem Zweig der Psychomotorik, zum heutigen Stand noch eine gewisse ,Unausgereiftheit‘ zu konstatieren, oder, um es in Richard Hammers Worte zu fassen: „Eine fundierte, eigene Theorie ist noch nicht in Sicht.“ (Hammer 2004 d, S. 243).
2.1.2 Ausgewählte Ansätze der Psychomotorik
In der Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts vollzog sich, in einer kritischen Revision des auf Kiphards Ansatz aufbauenden Kompetenztheoretischen Ansatzes, eine Neuorientierung der Psychomotorik3 in Deutschland. Der stark defizitorientierte Kompetenztheoretische Ansatz passte nicht mehr in das sich zu der Zeit neu entwickelnde konstruktivistische Verständnis der ,Psychomotorik vom Kinde aus‘, in welchem Kinder ihre eigenen Entwicklungsschritte selbst gehen und nicht mehr nur diagnostizierte Auffälligkeiten von extern bearbeitet werden. Seit 1990 ist darauffolgend eine starke Ausdifferenzierung und konzeptuelle Verbreiterung der psychomotorischen Landschaft in Deutschland, vor allem in Richtung geisteswissenschaftlich-hermeneutisch orientierter Konzepte zu beobachten.
Diese Neuorientierung geht einher mit einer Ausweitung der Zielgruppen und einer immer stärker werdenden wissenschaftlichen Fundierung. Von den neu entstandenen Psychomotorik-Schulen werden im Folgenden einige der wichtigsten und bedeutendsten Ansätze der Gegenwart vorgestellt. Die hier aufgezählten Ansätze und Konzepte repräsentieren weder die vollständige psychomotorische Landschaft in Deutschland, noch sind sie disjunkt, ganz im Gegenteil, sie überschneiden sich in vielen inhaltlichen und methodischen Aspekten und/oder ergänzen sich.
Kompetenztheoretischer Ansatz
In dem auch als Kompetenzorientierten Ansatz bekannten Konzept, welches federführend von Friedhelm Schilling ausgearbeitet wurde, ist die zentrale Annahme, dass Wahrnehmungs- und Bewegungsdefizite durch psychisches Fehlverhalten kompensativ ausgeglichen werden. Dementsprechend sollen durch „Erfahrungen mit dem eigenen Körper, mit der materialen und sozialen Umwelt ,im Nachvollzug’ Handlungskompetenzen“ (Hammer 2004 b, S. 43) zur Erweiterung der Handlungsfähigkeit erworben werden und damit die Möglichkeit der Aufgabe des psychischen Kompensationsverhaltens geschaffen werden. „Dem Grundgedanken dieses Modells folgend zielen also die psychomotorischen Interventionen auf Verhaltensänderungen und damit auf Veränderungen in der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen - der Weg dorthin gehtjedoch über die Bewegung“ (Hammer 2004 b, S. 45).
In der psychomotorischen Intervention im Sinne des Kompetenztheoretischen Ansatzes ist der Ausbau der folgenden drei Kernkompetenzen von besonderer Bedeutung:
- Ich-Kompetenz - mit dem eigenen Körper erleben, erfahren und umgehen können
- Sachkompetenz - an Umweltgegebenheiten anpassen und die Umwelt an sich anpassen sowie der Umgang mit der Umwelt
- Sozialkompetenz - an andere anpassen, andere verändern, sich anpassen und damit kommunizieren (vgl. Schilling 1981)
Diese drei Kompetenzen sollen in jeglicher Interventionshandlung nicht nur enthalten, sondern auch untrennbar miteinander verbunden sein. Sie stehen als Einheit stellvertretend für die angestrebte Ganzheitlichkeit der Entwicklung im Konzept der Psychomotorik. Neben dem Abbau der primären Symptomatik soll auch eine Verbesserung der psychomotorischen Leistungsstruktur zur Erweiterung von Handlungsspielräumen und der Stabilisierung und Harmonisierung des Verhaltens im Generellen erreicht werden. Somit kann das Kind lernen, sich mit seiner Störung zu arrangieren und Kompensationsmechanismen abzubauen (vgl. Hammer 2004 b) sowie mit zukünftigen störenden Einflüssen selbst fertig zu werden. Wichtig dabei ist, dass das Kind während der Intervention immer als aktiver Partner gesehen wird und somit analog seinem inhärent vorhandenen Entwicklungsplan an seiner eigenen Entwicklung aktiv mitwirken kann.
Problematisch bei diesem Ansatz ist das Vorgehen, erst von der Symptomatik auszugehen und dann die Entstehung und aktuellen Auswirkungen zu suchen, Bewegung wird dabei immer nur als ,Funktionsgeschehen‘ gesehen. Der sinnhaften Komponente der Bewegung an sich, vor allem der Bewegung im Spiel, wird kaum Rechnung getragen.
Der Verstehende Ansatz wurde Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts von Jürgen Seewald formuliert. Der Fokus der Methode ist auf ein psychoanalytisches und sinnhaftes Verständnis des Menschen gerichtet, welches ein subjektives Erleben und die Lebensgeschichte des Individuums gegenüber einem biologischen ,Herauserklären‘ von Problemen betont. Es ist dabei das Ziel, das vollständige Ursachen- und Beziehungsgeflecht mit in den Verstehensprozess und die Sinnerschließung einer bestehenden Problematik einzubeziehen. Hammer schreibt dazu: „Es geht hier nicht darum, Probleme und Störungen der Kinder zu erklären, sondern den Sinn ihrer Äußerungen zu verstehen“ (Hammer 2004 c, S. 164). Um dieses Verstehen zu erreichen, soll das Kind in einem dialogisch aufgebauten freien Spiel den Verlauf desselben selbst dirigieren, so dass der erwachsene Therapeut nur Anweisungen ausführen muss. Parallel kann und soll er dem Kind bei der Verarbeitung der Erlebnisse helfen, indem er eine symbolische Darstellung anregt oder zum Gespräch auffordert (vgl. Seewald 1993).
Meist sollen im Prozess des Spiels Probleme und deren Ursprung ermittelt werden, damit diese dann langfristig durch Bewegungs- und Beziehungsangebote verarbeitet und bewältigt werden können. Durch das freie Spiel wird den Kindern, dem Verstehenden Ansatz zufolge, die Möglichkeit eröffnet, sich auszudrücken, auszuprobieren und ,sich selbst zu heilen‘ (vgl. Könnecke 2005).
Es zeigt sich immer wieder, dass sie [die Kinder] hier zurückgreifen auf Bewegungsund Spielformen, die eigentlich ihre entwicklungsfördernde Kraft schon in viel früheren Entwicklungsstufen hätten entfalten müssen. Dadurch wird deutlich, dass sie im freien Spiel versuchen, die ungelösten Krisen ihrer Vergangenheit zu bewältigen, um sich damit neue Entwicklungschancen für die Zukunft zu eröffnen. (Hammer 2004 c, S. 173)
Diese Vorgehensweise determiniert diesen Ansatz allerdings auf eine Dyade zwischen Kind und Therapeut, in der hohe Erwartungen an den Therapeuten gestellt werden, vor allem im Bezug auf die Kontrolle des Auslebens der eigenen Persönlichkeit und die Interpretation der kindlichen Handlungen.
Kindzentrierte Psychomotorische Entwicklungsförderung
Der Kindzentrierte Ansatz wurde federführend von Renate Zimmer und Meinhart Volkamer entwickelt und hat in seinen Ursprüngen Parallelen zur non-direktiven Spieltherapie4 nach Virginia Axline und der Persönlichkeitstheorie nach Carl Rogers. Die zentrale Idee des Kindzentrierten Ansatzes ist eine psychomotorische Intervention, die eine ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung durch das Ausdrucksmedium Bewegung unterstützt. Dabei liegt eine besondere Betonung auf vier Aspekten: Eigentätigkeit, selbstständiges und selbstgesteuertes Handeln, Erfahrungen in der Gruppe und Handlungs- und Kommunikationskompetenz. Diese sollen zusammen zu einem kombinierten Aufbau der Ich-, Sozial- und Sachkompetenz beitragen.
Von der Annahme her, dass Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten bei Kindern oft Folgen eines negativ ausgerichteten Selbstkonzeptes sind, wird in der psychomotorischen Intervention des Kindzentrierten Ansatzes auf den Aufbau eines positiven Selbstkonzeptes hingearbeitet.
Körper- und Bewegungserfahrungen stellen für das Kind nicht nur wesentliche Mittel der Aneignung der Wirklichkeit dar, auf ihnen baut auch die Identitätsentwicklung auf. Das Ziel einer psychomotorischen Förderung liegt daher einerseits in der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten eines Kindes und in der Verbesserung seiner motorischen Fähigkeiten, eine weitere wesentliche Aufgabe besteht jedoch auch in der Stärkung seines Selbstbewusstseins. (Zimmer 2001, S. 24)
Bewegung wird hierbei also als Zugang zu Verhaltensauffälligkeiten und auch als Mittel zum Aufbau eines positiven Selbstkonzeptes gesehen. Bei der „Frage, unter welchen Voraussetzungen Körper- und Bewegungserfahrungen die Identitätsentwicklung von Kindern unterstützen und zum Aufbau von Selbstvertrauen und zur Bildung eines positiven Selbstkonzeptes beitragen können“ (Zimmer 2004, S. 55), wird besonders dem Spiel eine herausragende Bedeutung zugemessen. Das Spiel wird als universelles Ausdrucksmedium zum Verarbeiten von Umwelteinflüssen und als Lernmedium auf allen Ebenen mit großer psychohygienischer Wirkung beschrieben. Weiter gibt es im Spiel immer auch eine symbolische Komponente, wodurch es die Möglichkeit des Entwurfs eines neuen Selbstkonzeptes, welches das alte negative Selbstkonzept ersetzen könnte, beinhaltet. Aus diesem Grund wird das Spiel als zentrale Methode im Kindzentrierten Ansatz angesehen.
Neben dem Spiel als Methode hat vor allem die Forderung nach Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeitsüberzeugung der Kinder eine tiefere Bedeutung.
In der Psychomotorik wird das Kind als handelndes Subjekt verstanden, das Verantwortung übernehmen und auch für sich selbst entscheiden kann. Damit wird selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Handeln nicht nur Ziel, das irgendwann am Ende einer erfolgreichen Förderung steht, sondern es wird gleichermaßen bereits Methode derFördermaßnahme. (Zimmer 2004, S. 58)
Der Ursprung dieser Forderung ergibt sich aus der Erfahrung, dass nur dann, wenn ein Kind sich selbst als Ursache für Erfolge und Misserfolge sieht, eine Intervention in der Entwicklung auch langfristig ein positives Selbstkonzept bewirkt und unterstützt. Nur wenn es von der Tätigkeit aus kommend Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen kann, besteht für das Kind die Möglichkeit, ein realistisch begründetes Selbstkonzept zu entwickeln (vgl. Zimmer 2006). Daraus ergeben sich bestimmte Prinzipien einer kindzentrierten psychomotorischen Entwicklungsförderung:
- Freiwilligkeit der Entscheidung über die Teilnahme
- Handlungsimpulse, die vom Kind kommen, aufgreifen
- Vermeidung von Bewertung - Verstärkung der Eigentätigkeit
- Anfängliche Vereinbarung von einsichtigen Grenzen (vgl. Zimmer 2004)
In einer Bewegungssituation wird, dem Kindzentrierten Ansatz zufolge, dem Kind damit ermöglicht, immer mehr von der Fremdhilfe zur Selbsthilfe zu gelangen und aufgrund des entstehenden positiven Selbstkonzeptes mit realistischer Selbstwirksamkeitsüberzeugung zunehmend auch selbstständig Problemsituationen bewältigen zu können.
Systemische Psychomotorik
In der Psychomotorik erschien unter dem Namen Systemische Psychomotorik in der Mitte der 1990er Jahre ein neues auf die Systemtheorie aufbauendes Konzept von Rolf Balgo und Reinhardt Voss. Zentral hierbei ist eine systemtheoretische Erweiterung der Psychomotorik mit der basalen Aussage, dass der Mensch sich erst durch
Kommunikation und Interaktion im sozialen System konstituiert. Diesem Interaktionsund Kommunikationskontext sieht Balgo noch nicht Rechnung getragen in den traditionellen psychomotorischen Konzepten, die nur „versuchen Bewegung, Verhalten, Handeln, das im sozial-kommunikativen Phänomenbereich zwar beobachtbar aber nicht verstehbar ist, durch die Beschreibung von der direkten Beobachtung nicht zugänglichen Phänomenen im biologischen und/oder psychischen (sensomotorischen sowie affektlogischen) Bereich des Individuums wieder erklärbar bzw. verstehbar zu machen“ (Balgo 2004, S. 189) und somit nicht direkt auf eine zwischenmenschliche Ebene aufbauen.
Im systemischen Ansatz werden Probleme hingegen als ein nicht gelungener kommunikativer Umgang mit und zwischen verschiedenen Wirklichkeitskonstrukten verschiedener Menschen begriffen, weswegen die Psychomotorik nicht nur auf der Ebene der motorischen und seelischen Probleme, sondern auch im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen ansetzen muss.
Das Kind und dessen psycho-physische Dimensionen werden nicht mehr individuumszentriert, sondern individualisiert und kontextualisiert thematisiert, d.h. sowohl die Eigenwerte bzw. Entwicklungslogik des Kindes, als auch die Lebenswelt (ökologische Dimension) geraten in das Blickfeld. (Hilbers 2000, S. 30)
Die oben genannten Wirklichkeitsdefinitionen und -konstruktionen entstehen wiederum durch Bewegungserfahrungen, die als Anpassungsprozess an die materiale und soziale Umwelt gemacht werden. In einer systemisch orientierten Psychomotorik werden „Bewegungs-, Verhaltens- und Handlungsweisen sowohl als kommunikatives Geschehen als auch als Wegweiser für die Wirklichkeitskonstruktionen von Kindern und Erwachsenen verstanden“ (Balgo 2004, S. 207). Dies lässt die Psychomotorik ein adäquates Mittel zur Behandlung von Kommunikationsproblemen aufgrund von verschiedenen Wirklichkeitskonstrukten auf der zwischenmenschlichen Ebene werden.
Die Gemeinsamkeiten und Überschneidungen in den hier vorgestellten Ansätzen repräsentieren einen großen Teil des heutigen Verständnisses von Psychomotorik. Dabei heben sich besonders zwei der vertretenen Aspekte als Grundlage der heutigen Psychomotorik heraus: Erstens die zentrale Bedeutung und ganzheitliche Betrachtung von Körperausdruck und Körperwahrnehmung in Bewegung und Spiel sowie zweitens die Grundlegung des humanistischen Menschenbildes mit einer besonderen Zielorientierung in Richtung Autonomie, soziale Interpendenz, Suche nach Selbstverwirklichung und dem Kind als Akteur seiner eigenen Entwicklung (vgl. Hammer 2004 d).
Neben den positiven Zusammenhängen in den oben genannten psychomotorischen Ansätzen gibt es aber auch einige kritische Aspekte zu beachten, wovon besonders einer herauszugreifen ist. Problematisch und die Anwendungspraxis oft nicht beachtend ist die in allen theoretischen Ansätzen vertretene fast ausschließliche Ausrichtung auf Individuen und Kinder mit schon vermuteten oder diagnostizierten Problemen. Dabei stellt sich die Frage, ob ein ganzheitlicher Lernprozess im psychomotorischen Verständnis nicht auch für ,problemfreie‘ Kinder und in größeren Gruppen einen positiven Effekt auf deren Entwicklung hätte und die bereits vorhandene erzieherische Förderung gut unterstützen würde. Oder, um zu präzisieren, könnte Psychomotorik auch in der heutigen Regelschule einen positiven Impact haben?
2.2 Psychomotorik und Schule
Die oben genannten grundlegenden Ansätze weitergedacht und generalisiert auf den Bereich der Regelschule, lassen die Frage auftreten, wie ein mehr auf Bewegung und Wahrnehmung aufbauendes psychomotorisches Lehren und Lernen in dieser in Deutschland aussehen könnte und inwieweit es dafür überhaupt einen Bedarf gibt.
2.2.1 Bedarf der Schule an Psychomotorik
Jegliche Interaktion mit der Außenwelt benötigt den Körper als Bindeglied, dies betrifft also auch alle mit der Umwelt verknüpften Lernprozesse5. Bei genauerer Betrachtung basieren also auch die Prozesse und Methoden in der Schule auf komplexen psychomotorischen Leistungen (vgl. Wendler 2004).
Selbst das Lesen, Schreiben und Rechnen benötigt nicht nur frühkindliche Bewegungserfahrung als unbedingte Basis und sensomotorische Voraussetzung, sondern den tatsächlichen, konkreten und höchst differenzierten Einsatz einer Vielzahl von komplexen Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Handlungsabläufen. (Köckenberger 2004 b, S. 448f)
Nun stellt der Übergang in die Schule von einer Sekunde auf die andere plötzlich ganz neuartige und bis dahin meist unbekannte Anforderungen an Kinder in unserer Gesellschaft. Die vom Kindergarten gewohnte Freizügigkeit und Ganzheitlichkeit der Entwicklung wird plötzlich in fest vorgegebene und meist sehr selektiv modalisierte Bahnen gelenkt, die oft nicht mehr auf Ganzheitlichkeit in Wahrnehmung und Bewegung basieren. Diese extreme spezialisierende Einschränkung im Entwicklungsprozess der Kinder besteht schon seitjeher in der Geschichte der spezialisierten Wissensvermittlung6. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Forderung nach einer ,adäquateren Vermittlung4 mit mehr Bewegung und Abwechslung im Schulalltag nicht erst heute und nach der breiten Einführung der Psychomotorik in unserer Gesellschaft gestellt worden ist, sondern schon weitaus früher von Reformpädagogen wie Freinet, Montessori, Dewey und einigen Weiteren vertreten wurde. „Gerade bei Kindern mit Entwicklungsverzögerungen wird die Hilflosigkeit groß; kein Wunder, wenn ich nicht weiß, was die kindlichen Voraussetzungen sind, wie soll mir dann als Lehrer die ,adäquate Vermittlung’ gelingen[?]“ (Wendler 2004, S. 315f) ist eine Frage, die dabei immer wieder in den Vordergrund tritt.
Das daraufhin heutzutage geforderte Einfließen der Psychomotorik in die Standardlernmethoden der Regelschule soll ein ganzheitliches Lernen im Bezug auf Wahrnehmung und Bewegung als integratives Lernprinzip in den Unterrichtsfächern etablieren (z.B. Zimmer 2006). Die Körper-, Sach- und Sozialkompetenzen sollen dabei, ganz im traditionellen psychomotorischen Sinne, verknüpft werden, der Trennung von geistiger, sinnlicher und emotionaler Ebene, wie in heutigen Regelschulen meist üblich, soll entgegengewirkt werden (vgl. Höhne 2004).
Bewegung kann zum Medium der Erfahrungsgewinnung in allen Unterrichtsfächern werden. Als fachübergreifendes Lernprinzip rückt sie körperlich-sinnliche Aneignung in den Vordergrund einer handlungsorientierten Unterrichtmethode und macht auch abstrakteLerninhaltebessernachvollziehbar. (Zimmer 2006, S. 198)
Auf der Basis von Piagets Theorie, in der sensomotorische Erfahrungen eine grundlegende Bedingung für das fortgeschrittene Lernen darstellen (vgl. Stangl ohne Datum), können gerade zur Ausbildung schwieriger abstrakter Strukturen des Schullernstoffs psychomotorisch gestützte Wahrnehmungs- und Bewegungsprozesse in konkreten Handlungen im Lernprozess dienlich sein. Nach Höhne bedeutet Psychomotorik in Verbindung mit einem Schul- bzw. Unterrichtsfach „ein inhaltlich verknüpftes Lernen in und mit Bewegung zur Ausbildung abstrakter und übertragbarer Denkmuster. [...] Wahrnehmung und Bewegung erhält hierbei eine ermittelnde und explorative Aufgabe“ (Höhne 2004, S. 335f). Schulisches Wissen und Lernen wird dadurch ein sehr viel stärker integrierter Bestandteil in der Lebensbiographie eines jeden Kindes. Nach Schmidt-Kotyrba „kann jedes Lernziel nach gegebenen Voraussetzungen durch Pädagoginnen und Pädagogen fachorientiert, projektorientiert und handlungsorientiert im Klassenverband, klassenübergreifend oder als Interessengemeinschaft den Schülerinnen und Schülern nahegebracht werden“ (Schmidt-Kotyrba 2004, S. 387).
Inhalte und Methoden müssen natürlich aufeinander abgestimmt sein und es muss in jeder konkreten Situation abgewogen werden, ob das Einfließen psychomotorischer Methoden wirklich einen Mehrgewinn im schulischen Lernprozess bringt. Allgemeinen lernpsychologischen Untersuchungen zufolge behalten Menschen allerdings von dem, was sie lesen 10%, „während das, was sie tun mit 90% in ihrem Gehirn dauerhaft abgespeichert wird - ein gutes Argument also für einen handlungsorientierten, d.h. psychomotorischen Unterricht“ (Hammer 2004 e, S. 443).
Bei der Gestaltung des psychomotorisch ausgerichteten Unterrichts ist nach Renate Zimmer in diesem Zusammenhang auf fünf allgemeine Prinzipien zu achten:
- Berücksichtigung möglichst vieler Sinne bei derVermittlung der Lerninhalte
- Arbeits- und Spielmaterialien sollen vielfältige sensorische Erfahrungen ermöglichen
- Modalitätsspezifische Wahrnehmung durch Isolation einzelner Sinnesbereiche
- Verbindung mehrerer Sinnessysteme bewusst machen
- Wechsel von Phasen der Aufmerksamkeit und der Entspannung, vor allem für unruhige, konzentrationsschwache Kinder (vgl. Zimmer 2006)
In der methodischen Vermittlung ist dabei besonders auf eine Motivation vom Angebot aus, eine vertrauensvolle Atmosphäre und das Fördern der Selbstständigkeit zu achten (vgl. ebd.).
Neben der gewohnten Wissensvermittlung muss die Schule heute allerdings zusätzlich auch noch gesellschaftlich bedingte ,Löcher stopfen‘, denn der Erwerb körpernaher Erfahrungen scheint in unserer heutigen Gesellschaft für Kinder immer schwieriger zu werden und „konfrontiert Schule zunehmend mit der Aufgabe, unterschiedliche Voraussetzungen für Lernprozesse über Wahrnehmung und Bewegung zu ermöglichen - den Schülern die Möglichkeit zu eröffnen, ,neu’ zu erfahren. An dieser Stelle erhält die Psychomotorik eine [weitere] grundlegende Bedeutung in der Unterstützung schulischer Intentionen“ (Höhne 2004, S. 334). Defizite im Erfahrungsschatz des sensomotorischen Bereichs werden häufig als Ursache für Entwicklungsrückstände gesehen.
Lernschwierigkeiten wie zum Beispiel auch Dyslexie und Dyskalkulie genauso wie Sprachstörungen treten oft in Gemeinschaft mit Koordinationsstörungen oder mangelhafter Bewegungserfahrung auf. Probleme in verschiedenen Wahrnehmungsleistungen müssen über andere Wahrnehmungskanäle und Bewegungssysteme ausgeglichen werden. Dies alles legt ein handlungsorientiertes Unterrichten mit viel Bewegung, Körpererfahrung und Abwechslung nahe. (Köckenberger 2004 b, S. 448)
Schularztberichten zufolge sind zum Zeitpunkt der Einschulung bei ca. 11% aller Kinder ohne explizite Frühförderung „unzureichende grundlegende Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen“ (Höhne 2004, S. 333) zu konstatieren. Diese ,Bewegungs- beeinträchtigungen‘ erzeugen in der Schule und im Unterricht unübersehbare Probleme. Besonders deutlich ist das hinsichtlich differenzierter Anforderungen an das Verständnis von Raum-Lage-Beziehungen, an die Graphomotorik7, an die Entwicklung der Sprach- und Lesekompetenz, an die Entwicklung der mathematischen Grundlagen oder an die Konzentrationsleistung der Kinder zu erkennen (vgl. ebd.). Dies stellt also die Schule vor das „Problem, dass Kinder heute oft die Voraussetzungen für ein schulisches Lernen nicht mehr mitbringen, sondern dass diese erst in der Schule erworben bzw. nachgeholt werden müssen“ (Zimmer 2006, S. 193). Zusätzlich dazu wird in den Schulen ein immer mehr von der Norm abweichendes Entwicklungs- und Lernverhalten beobachtet. Eine große Affinität zu motorischer Aktivität, Unkonzentriertheit, Ablenkbarkeit und schneller Erregbarkeit, als Folge von Einschränkungen der kindlichen Handlungs- und Bewegungsmöglichkeiten, wird heute konstatiert und weitgehend akzeptiert. Auch genau um gegen diese Probleme vorzugehen, muss Psychomotorik laut Renate Zimmer in unserer heutigen Gesellschaft als Sportergänzung, Förderung bei Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten und als fach- und fächerübergreifendes Arbeitsprinzip in die Schule eingebracht werden (vgl. ebd.).
Die körperlich-sinnlichen Erfahrungen der ganzheitlichen Psychomotorik sollen im Schulalltag dabei nicht als Add-on verstanden werden, sondern die wesentliche Form der Weltaneignung sein. Höhne fasst die wesentlichen Kriterien von Psychomotorik in der Regelschule folgendermaßen zusammen:
Elementare Erfahrungen und gezielter Umgang in den Bereichen der Wahrnehmung, der Grob- und Feinmotorik und eine Vielzahl an Körper-, Material- oder Sozialerfahrungen stellen Grundlagen für Basisqualifikationen - wie Spielfähigkeit, Handlungsplanung, Konzentrationsfähigkeit oder Arbeitshaltung und Motivation - dar.
Psychomotorik in der Schule bietet in diesem Zusammenhang eine Möglichkeit grundlegender Lern- und Entwicklungsförderung, in der Schülerinnen und Schüler immer in Auseinandersetzung mit personaler und materialer Umwelt zunehmend Basisqualifikationen erwerben und dabei ihr Selbstkonzept entwickeln. Darüber hinaus bezieht die Psychomotorik als Lernprinzip im Unterricht vielsinnig und ganzheitlich den gesamten Körper und die Bewegungsmöglichkeiten des Schülers in das Lernen kognitiver Inhalte mit ein. (Höhne 2004, S. 337)
2.2.2 Grundlegende Widersprüche und Desiderate
Das größte Hindernis für den Anspruch der Psychomotorik auf Teilhabe an der Schulerziehung liegt auf der praktischen Ebene. Es gibt bis heute keine tragfähigen psychomotorischen Konzepte, die didaktisch und methodisch für die Regelschule tauglich sind, geschweige denn einen auf den ersten Blick erkennbaren speziellen Lerngegenstand8. In einem größeren Rahmen wird der Psychomotorik oft angelastet, nur über ein ungenügend reflektiertes Erziehungsverständnis zu verfügen und eher in Entwicklungstheorien und förderdiagnostischen Konzepten zu denken, als in Erziehungsund Bildungstheorien (vgl. Seewald 2000).
Ein Grund für die Schwierigkeit der Entwicklung eines Konzeptes der Psychomotorik für die Regelschule ist ihre traditionelle Ausrichtung auf das ,Problem- kind‘ und auf Kleingruppen oder Individuen. Durch diese Spezialisierung auf einen Sonderbereich, welche sich schon in der Gründungsphase der Psychomotorik in Deutschland vollzog, schienen didaktische Überlegungen bür den Normalfall und damit für die Regelschule entbehrlich (vgl. Seewald 2000)9.
Es gibt aber einen noch schwerer zu behebenden Widerspruch im Anspruch der Psychomotorik, an der Regelschule teilzuhaben und dafür ein realistisches Konzept zu entwickeln. „Die Orientierung am Kind als ,Akteur seiner eigenen Entwicklung’ verhindert auch die Reflexion der Psychomotorik vor dem Hintergrund konkreter Zielsetzung und normativen Begründungen“ (Hammer 2004 d, S. 246) - in der Psychomotorik werden Lernvorgänge durch Freiwilligkeit und Offenheit im Prozess gefördert, was genau im Gegensatz zum Pflichtunterricht und der expliziten Zielorientiertheit in der heutigen Regelschule steht. In der und für die Regelschule ist meist ein fester Rahmen mit einer festen Rollenstruktur gefordert, was in den moderneren Konzepten der Psychomotorik explizit nicht erwünscht ist. Aus diesem Grund erklärt Seewald 2000 noch, dass sich „Psychomotorik als Verfahren [...] wegen unüberwindbarer Widersprüche im Setting nicht in die Schule einbringen“ (Seewald 2000, S. 429) lässt.
Es existieren aber inzwischen schon einige gute Ideen (vgl. Köckenberger 2004 b), die die beiden vermeintlichen Extreme Psychomotorik und Schule, mit dem Ziel einer adäquaten Lern- und Entwicklungssituation mit einem gesunden Maß zwischen Strukturiertheit und Offenheit, schon näher zusammenbringen und eine psychomotorisch ausgerichtete Lernsituation in der Regelschule in einem realistischerem Licht erscheinen lassen. Dies kann man unter anderem an verschiedenen Schulversuchen und an der Lehrplangestaltung in den letzten Jahren, vor allem für Grundschulen, in Deutschland erkennen (vgl. z.B. Rahmenplan Grundschule des Hessischen Kultusministeriums von 1995).
[...]
1 Der Begriff Psychomotorik wird von Färber gleichbedeutend wie der Ausdruck ,Erziehung mit und durch Psychomotorik1 verwendet.
2 Dieser ist bis heute umstritten, da der vorwissenschaftliche Begriff der Psychomotorik „für viele inhaltlich besser zutrifft und zum anderen, weil er europaweit dominiert und hier auch als Wissenschaftsbegriff benutzt wird“ (Seewald 2000, S. 246).
3 Im Folgenden wird der Begriff Psychomotorik im Text sinngemäß als ganzheitliche Förderung, mit besonderer Betonung von Wahrnehmung und Bewegung, in der (kindlichen) Erziehung verwendet, da dies der Verwendung des Begriffes von den meisten der genannten Autoren am nächsten kommt.
4 Ein kinderpsychotherapeutischer Ansatz mit der Methode des Spiels zur Heilung, in dem das Kind der Akteur der Handlung ist.
5 Offen wird hierbei die Frage gelassen, ob es Lernprozesse gibt, die unabhängig von der Umwelt initiiert werden und ablaufen.
6 Zu einem gewissen Grad ist eine Spezialisierung der Lerninhalte selbstverständlich nur mit einer Spezialisierung der Lehre und Einschränkung auf bestimmte Methoden zu verwirklichen.
7 Als Graphomotorik bezeichnet man die Schreibbewegungen.
8 Dies kann auf der anderen Seite natürlich auch als Vorteil von Offenheit gegenüber und Verknüpfbarkeit mitjeglichem Inhalt gesehen werden.
9 Dabei entsteht heute allerdings die Frage, inwieweit der damalige Sonderbereich schon fast zum Normalfall geworden ist oder zumindest ganz regulär teilnimmt an der Regelschule und die Psychomotorik mit ihren breiten bewegungs- und wahrnehmungsunterstützten Lernvorgängen in den Regelschulen den heute typischen ,Problemkindern‘ durchaus zugute kommen würde.
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