'Das Steinerne Herz' von ArnoSchmidt - Kriminalgeschichte oder Schelmenroman


Wissenschaftliche Studie, 2012

29 Seiten


Leseprobe


Einleitung

"Das steinerne Herz" im Spiegel der Kritik

Bei Kritikern und Rezensenten von Arno Schmidts "Das steinerne Herz" stößt man gelegentlich auf die Auffassung, der Roman trage Züge einer Kriminalgeschichte oder er sei als Parodie auf die gewinnorientierte deutsche Wohlstandsgesellschaft der Fünfziger Jahre angelegt. Vieles im Roman weist darüberhinaus in die Richtung des traditionellen Schelmenromans, freilich nicht nach dem Muster des ursprünglichen spanischen Vorbilds, der "novela picaresca" des anonym erschienenen "Lazarillo de Tormes" aus dem 16. Jahrhundert, der als Archetypus dieser Romangattung gilt, oder des an der Wende zum 17. Jahrhundert veröffentlichten "Guzmán de Alfarache" von Mateo Alemán. Aus diesen Vorläufern des pikaresken Romans entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte eine europäische Tradition dieser Gattung, die bis in die Gegenwart hineinreicht und im 20. Jahrhundert beispielsweise von Thomas Mann mit seinen "Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull" fortgeführt und weiterentwickelt wurde. Bei genauerer Überprüfung erkennt man, dass dieser Roman eine ganze Reihe von Parallelen mit dem "Steinernen Herzen" von Arno Schmidt aufweist, wobei Letzterer sich nicht ausdrücklich dazu geäußert hat, ob er sich davon hat beeinflussen lassen.

Individuum und Gesellschaft

In vielen einschlägigen Rezensionen werden nicht nur die Eigenarten und Verhaltensweisen des Ich-Erzählers Walter Eggers, sondern auch der gesellschaftliche Kontext, in dem die Protagonisten sich bewegen, kritisch beleuchtet. Sie leben nicht in einem luftleeren Raum, sondern sie agieren und reagieren im Wechselspiel mit der sie umgebenden gesellschaftlichen Realität. Sie passen sich geschickt gesellschaftlichen Normen und Spielregeln an - nicht, weil sie von deren Gültigkeit überzeugt sind, sondern weil sie für sich einen Vorteil darin erblicken. In ihren häufigen Kommentierungen des aktuellen Zeitgeschehens gehen sie fast immer auf Distanz zu den Institutionen und ihren Repräsentanten. Sie unterziehen sie schonungslos einer massiven Kritik als durch und durch verlogen und korrupt. Auf dem Hintergrund dieser Realität begreifen und beurteilen sie ihr eigenes Verhalten allerdings - man könnte hinzufügen: völlig unkritisch - als ganz und gar legitim.

Die Zentralfigur: kriminell oder opportunistisch?

Walter Eggers wird als zentrale Romanfigur von einer unbezähmbaren "Sammelleidenschaft"

(Arnds 7) bzw. einer ausufernden "Sammelgier" (ebd.) angetrieben. Der Leser sieht sich mit seiner "Kaltherzigkeit" (ebd.) konfrontiert, die sich mit seinem "Materialismus" (ebd.) und seinem "Atheismus" (ebd. 13) zu einer explosiven Mischung verbündet zu haben scheint. Man fragt sich angesichts seiner Geheimniskrämerei, was er im Schilde führt und wohin die Reise geht, als er sich bei Karl und Frieda Thumann in Ahlden einquartiert. Will er sich in einer vom "Kapitalismus" (ebd. 15) geprägten Gesellschaft für sein eigenes Verhalten von Skrupeln völlig freimachen? Ist es ein Wunder, wenn er in einem "gewinnorientierten Gesellschaftssystem" (Albrecht 45) sich das Gewinnstreben zur Lebensmaxime und zur Richtschnur seines Verhaltens macht und "unter der Maske eines gutsituierten ehrbaren Geschäftsmannes"

(ebd.) seine wahren Intentionen verbirgt? Ist er deswegen ein Krimineller, dem man alles zutrauen muss und der gnadenlos zuschlägt, wenn es darum geht, sich zu bereichern? Einiges scheint in diese Richtung zu deuten, wenn man beispielsweise bei Marius Fränzel liest: "Eggers entwickelt ein gehöriges Maß von - wie man beamtendeutsch so schön sagt - krimineller Energie ..." (Fränzel 2012, 8) Und wenn Heinrich Böll behauptet, er habe im Roman eine "spannende Kriminalgeschichte" (Böll 43) gefunden, so könnte man im ersten Moment vermuten, dass es sich vielleicht im weiteren Sinne um eine Art von Kriminalroman handelt. Allerdings fügt er gleich darauf einschränkend hinzu, es gehe "nicht um Bankraub oder Mord, sondern um den abenteuerlich geplanten und ausgeführten Tausch eines Buches in der ostberliner Staatsbibliothek ..." (ebd.) Das klingt wiederum eher harmlos, genau wie die "Schatzgräbergeschichte mit Happy End" (ebd,), die er ebenfalls im Roman entdeckt hat, und der "Humor", der ihm allerdings "grimmig" vorkommt. (ebd.)

Anti-Held von überragender Intelligenz

Ist "Das steinerne Herz" also eine Art von "Kolportage-Reißer" mit "action en masse" (Schardt 192), der den Anschein eines Kriminalromans erwecken will, in dem es aber im Grunde nur um "Diebstahl, Betrug, Urkundenfälschung, Ehebruch" (ebd.) geht? Oder ist es vielmehr so, dass die zentrale Figur Walter Eggers, ein Anti-Held aus ungeklärten Verhältnissen, ein Underdog mit außergewöhnlicher Intelligenz wie viele andere Protagonisten in der europäischen Tradition des pikaresken Romans, ein "Doppelleben" führt, ein "Mimikry-Dasein, zu dem sich der Individualist in einem Machtstaat gezwungen sieht"? (Schumann 38)

Es ist offensichtlich, dass wir es hier mit einem - wie Josef Huerkamp meint - "gewieften Betrüger" zu tun haben, "der Devisen schmuggelt, Urkunden fälscht, seinen Personalausweis 'umradiert'" und der "überhaupt eine ganz zwielichtige Rolle vorspielt" (Huerkamp 1979, 100) - aber doch nicht mit einem hochgradig gefährlichen Kriminellen, den man an die Kette legen und ins Gefängnis stecken muss, um die Gemeinschaft der Anständigen vor seinen weiteren Untaten zu schützen. Was also verleiht dem Text - oder Teilen davon - den unverwechselbaren Charakter einer "Kriminalgeschichte" und wo trägt die zentrale Gestalt unverkennbare Züge eines "picaro", also eines Schelms oder Gauners, der den Repräsentanten einer vermeintlich guten Gesellschaft den Spiegel vorhält, sie an der Nase herumführt und mit ihren eigenen Waffen schlägt?

Verhältnis von Sein und Schein

Bei der Überprüfung und Beantwortung dieser Fragen ist darauf zu achten, dass es hier nicht nur um Akte des Betrügens und Fälschens in einem jeweiligen konkreten Gegenstandsbereich geht - also beispielsweise das Fälschen eines Personalausweises oder das Vertauschen eines Buches in der Bibliothek - sondern es geht auch um das "sprachliche Verfälschen von Sachverhalten, soll heißen: das Lügen". (Rathjen 70) Aber damit nicht genug: "Eggers fälscht seine eigene Identität, um sich in Ahlden und speziell im Hause Thumann zu installieren." (ebd. 75) Hierin gleicht er dem Hochstapler Felix Krull, allerdings mit dem Unterschied, dass er nicht wie jener Kostüme und Verkleidungen trägt, um nach dem Motto "Kleider machen Leute" (4. Kapitel des dritten Buches, 242) einen Repräsentanten der gehobenen Gesellschaft zu spielen. Bei beiden geht es jedoch um das Verhältnis von "Sein und Schein" (ebd. 261), konkret: um die Fähigkeit wie jemand zu scheinen, der man in Wirklichkeit nicht ist.

Spiel mit der Wirklichkeit

Offensichtlich empfinden der Autor Arno Schmidt und auch seine Protagonisten - besonders Walter Eggers und sein Kumpan Karl Thumann - Freude daran, eine Nähe zum Genre Kriminalroman vorzuspiegeln, die tatsächlich nicht existiert und auch gar nicht beabsichtigt ist, sondern nur als Spiel mit der Wirklichkeit, der spielerischen Verdrehung von realen Sachverhalten, betrieben wird, um die Spannung und Dramatik des Romangeschehens für den Leser zu forcieren. Wie so häufig bei Arno Schmidt zu beobachten, verwendet der Autor auch hier eine bestimmte Terminologie fachsprachlicher Begriffe und selbst erzeugte Wortgebilde oder greift auf fiktive oder historische Gestalten zurück, um mit dramatischen Effekten zu experimentieren, ihre Wirksamkeit auf den Leser zu überprüfen und auszukosten. So ist es zu erklären, dass beispielsweise Eggers' Vater "bei de Polizai" war, in dieser Eigenschaft mit anrüchigen Milieus zu tun hatte und von "Huren und Wasserleichen" umgeben war. (StH, BA I/2, 26) Beim Durchsuchen des Hohlraums in der Zimmerdecke im Hause Thumann sieht Karl aus, "als sei ein Geköpfter da mit dem Halsstumpf an die Zimmerdecke geklebt". (ebd. 130) Kurz darauf, als es darum geht, den in der Deckenverkleidung gefundenen Münzschatz gewinnbringend zu veräußern, treten die vier Hauptprotagonisten wie eine Verschwörergemeinschaft auf, um das "Geheimnisvoll=Gefährliche der Expedition" (ebd. 138) zu unterstreichen. Karls Hand umklammert einen imaginären Dolchgriff, und er verkündet drohend: "Ein toter Mann erzählt keine Geschichten mehr!" (ebd.)

Berühmt-berüchtigt: Fritz Haarmann und Magister Tinius

Auch der Massenmörder Fritz Haarmann gerät in Walter Eggers' Gedankenstrom als assoziative Momentaufnahme kurz ins Bild (ebd. 148), d. h. ohne eigentlichen Bezug zu seinem eigenen Vorhaben, als er sich auf dem Wege zu Direktor Dettmering, dem prospektiven Käufer der wertvollen Münzen, befindet. Eine viel nachhaltigere Wirkung auf Walter Eggers übt jedoch der "Magister Tinius" aus, von dem auf Seite 109 des "Steinernen Herzens" ausführlich die Rede ist und der auf Seite 147 während der Fahrt zu Dettmering noch einmal als kurzer Gedankenblitz auftaucht. Denn dieser ist - wie Eggers selbst - ein "Bücherverfallener" (ebd. 109), aber - im Unterschied zu Eggers - jemand, der durch diese Leidenschaft in der Tat zum Morden getrieben und deswegen im Jahre 1823 zu 18 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Man erkennt an diesen Beispielen, in welchem Umfeld Arno Schmidt für seinen Roman recherchiert hat und inwieweit er ursprünglich in der Planungsphase des Romans "dem Sammlerthema des StH den kriminellen Aspekt hinzufügen wollte". (Huerkamp 2011, 630)

Das Genre "Kriminalroman

Abgesehen davon, wird das Genre "Kriminalroman" und einer der berühmtesten Autoren der Kriminalliteratur, "Georges Simenon", und sein Werk mit dem Titel "Um eines Mannes Kopf", zu Beginn des zweiten Teils (StH, BA I/2, 57) erwähnt, an dem Walter Eggers jedoch offensichtlich nicht viel Beeindruckendes findet, der für ihn vielmehr "ein mühsam gebastelter Kriminalreißer und von solider Plattheit" (ebd.) ist. [1] Manches deutet also darauf hin, dass Arno Schmidt sich nicht in die Phalanx berühmter Kriminalautoren einreihen wollte, dass er vielmehr dieses Genre benutzt hat, um es zu parodieren und ihre Vertreter als bloße Unterhaltungsschriftsteller zu karikieren. Dieser Gedanke wird im weiteren Verlauf noch einer genaueren Prüfung unterzogen.

Das pikareske Element im "Steinernen Herzen"

Das pikareske Element und das, was Heinrich Böll als grimmigen Humor beschrieben hat, ist hingegen als ein konstitutives Merkmal sowohl der Handlung als auch der Erzählweise anzusehen. Das lässt sich schon bei oberflächlicher Betrachtung aus dem Geschehen herauslesen, wenn Walter Eggers zum Beispiel als "Reisender" (StH, BA I/2, 11) und als jemand, der "keine Religion; kein Vaterland; keine Freunde" (ebd. 56) hat, vorgestellt wird, wenn vom "Reiz des Geldes" (ebd.) die Rede ist und Begriffe wie "geschickt" (ebd. 13), "Ganoven" (ebd. 22), "Verschwörererotik" (ebd. 25), "eavesdropper" (ebd. 77), "vertauschen" (ebd.), "fälschen" (ebd. 110), "verdunkeln" (ebd. 125), "Deckname" (ebd. 134) und "Tricks" (ebd. 151) verwendet werden. Auch das sprachliche Verfälschen von Sachverhalten ist wiederholt im Spiel. Es konkretisiert sich beispielsweise in Begriffen wie "Wortattrappen" (ebd. 75), "Lüge" (ebd. 24) oder "Schwindel" (ebd. 135). Dass häufig nicht mit offenen Karten gespielt wird, dass Vieles verdeckt, verborgen oder hintergründig bleibt und die vordergründige Evidenz nur Schein und Trug ist, dass oft eine Diskrepanz zwischen Gesagtem und Gemeintem bzw. zwischen Gesagtem und Nicht-Gesagtem und nur Gedachtem besteht, wird schon durch die grafische Gestaltung unterstrichen, indem Eggers' gedankliche Kommentierungen in Parenthese gesetzt werden, wie zum Beispiel bei seinem Vorstellungsgespräch mit Frieda Thumann: "(Wenn's bloß klappte! Ich hab alles auf eine Karte gesetzt! ...)" (ebd. 11) Auf diesem Feld ist daher eine reiche Ernte zu erwarten, und vielleicht gelingt es auch, Querverbindungen zu anderen pikaresken Texten herzustellen und auf Bezüge und Parallelen zu verweisen, ohne allerdings die Frage eindeutig zu beantworten, inwieweit der Autor sich bewusst von ihnen hat inspirieren lassen oder sie gezielt in seinen Roman eingearbeitet hat.

Zuvor müssen aber hinsichtlich der Genres "Kriminalroman" und "pikaresker Roman" einige gattungsrelevante Fragen erörtert werden, um darauf aufbauend die eingangs gestellten Fragen beantworten zu können. Dabei kann es in diesem Zusammenhang nur darum gehen, in sehr vereinfachter und stark gebündelter Form einige grundlegende Aussagen zu machen und keine in die Tiefe gehende und viele Details erfassende ausführliche Erörterung anzustreben.

Kriminalroman und pikaresker Roman: einige gattungstypische Merkmale

Der Kriminalroman

Progressives und regressives Erzählen

Die für die Kriminalliteratur typischen Merkmale lassen sich in knapper Form folgendermaßen zusammenfassen: Es gibt in der Regel einen Täter und sein Opfer, und man unterscheidet das Tatmotiv, den Tathergang und den Tatausgang. Verläuft die Erzählung dem Geschehen parallel, d. h. wird das Erste zuerst und das Letzte zuletzt erzählt, so spricht man von einer progressiven Form des Erzählens und von einem Kriminalroman.

Denkbar ist aber auch eine andere Art des Erzählens, die als Ausgangspunkt das Auffinden des Tatopfers hat und wo die Geschichte nun in die umgekehrte Richtung geht und das Geschehen gewissermaßen von hinten aufgerollt wird. Diese gegen den Strich verlaufende Form des Erzählens nennt man regressiv. Hier geht es darum, aufgrund von Verdachtsmomenten, Hinweisen, Indizien, Zeugenaussagen und einer Anzahl von Verdächtigen zum Tatmotiv und zum Täter vorzustoßen und diesen durch die Art der Beweisführung oder durch ein Geständnis der Tat zu überführen. Eine solche Erzählung, die sich mit der Aufklärung eines Verbrechens beschäftigt, nennt man Detektivroman.

Vertrauen in die menschliche Ratio

Ein Kriminalroman oder ein Krimi ist nur denkbar vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die auf dem Boden einer staatlichen Rechtsordnung steht. Der Verstoß gegen deren Normen und Gesetze wird sanktioniert, so dass die verletzte Ordnung wieder hergestellt wird. Im Unterschied zum Alltagsleben, wo Vieles im Sande verläuft, ungeklärt und unverständlich bleibt, gibt es im Krimi in der Regel eine kausale Verkettung des Geschehens, so dass eine rationale Analyse des Zusammenhangs und die kombinatorischen Fähigkeiten professioneller Aufklärer es ermöglichen, logische Schlussfolgerungen zu ziehen und den Tathergang und die Tatausführung zu rekonstruieren. Der klassische Krimi basiert auf der Zuversicht in die Lösbarkeit von Problemen und die Aufklärungsfähigkeit der menschlichen Ratio. [2] Er bietet dem Leser mit der Gesetzeshüterrolle der Aufklärer positive Identifikationsfiguren an, die ihn in dieser Zuversicht bestärken. Aber er konfrontiert ihn auch mit negativen Identifikationsfiguren, in die er seine unterdrückten Triebe und Aggressionsbedürfnisse projiziert. Aus der Sanktionierung der bösen Taten dieser "Sündenböcke" oder "Stellvertreterfiguren" (vgl. Goette 24) leitet er für sich eine kathartische Wirkung ab.

Nach diesem Verständnis sind die Gewaltdarstellungen von Kriminalromanen die nach außen gekehrten Projektionen von Vorgängen, die sich im Inneren jedes Einzelnen in differenzierter Form unbewusst abspielen. Dieser Gedanke wurde schon von Goethe hellsichtig in folgender Weise zum Ausdruck gebracht: "Es gibt kein Verbrechen, dessen ich mich nicht in meiner eigenen Brust für fähig hielte." (Goette 87)

Prodesse und delectare

Die Welt eines Krimis kann mithin - in Analogie zum Märchen - als eine übersichtlich in "Gute" und "Böse" geordnete Welt angesehen werden, die es so in der Realität nicht gibt. Der dieser Gattung eigentümliche Rätselcharakter, die Denkaufgaben, die bei dem Bestreben, Licht ins Dunkel zu bringen, gestellt werden und die kombinatorischen Fähigkeiten des Aufklärungspersonals erzeugen beim Leser ein intellektuelles Vergnügen und unterstreichen die unterhaltende Funktion eines Krimis nach dem schon in der antiken Poetik anzutreffenden Grundsatz "prodesse et delectare", wonach die Aufgabe des Dichters darin besteht, sowohl zu belehren als auch zu unterhalten. (Vgl. zum Beispiel die "Ars Poetica" des Horaz) Wahrscheinlich hat gerade der unterhaltsame Aspekt des Krimis dazu beigetragen, dass moderne Krimis häufig als Beispiele trivialer Literatur angesehen werden.

Der pikareske Roman

Jahrhundertealte Tradition

Wie bereits ausgeführt, blickt diese Romangattung auf eine jahrhundertealte Tradition zurück, die bis ins Spanien des 16. Jahrhunderts zurückreicht. Erste Vorläufer gab es jedoch bereits in der römischen Literatur, beispielsweise das "Satyricon" des Petronius (1. Jahrhundert n. Chr.), die "Metamorphosen" oder "Der Goldene Esel" des Apuleius (um 170 n. Chr.) und in der arabischen Literatur der "Makame" (seit dem 10. Jahrhundert). "Die Räuber von Liang-Schan-Moor" aus dem chinesischen Volksbuch des 13. Jahrhunderts und das "Volksbuch vom Eulenspiegel" (1510/11) bilden weitere Beispiele.

Der pikareske Roman als Gattungsbegriff

Die Hauptfigur der spanischen "novela picaresca" ist ein "picaro" (etwa: gemeiner Kerl oder Gauner), was in den frühen deutschen Übersetzungen und Schelmenromanen mit "Landstörzer"[3] wiedergegeben wurde und soviel wie "Landstreicher" bedeutet. Erst im 18. Jahrhundert verlor der Begriff "Schelm" allmählich seine ursprüngliche negative Konnotierung als verworfener Mensch oder Betrüger und wandelte sich zu einer Bezeichnung für einen Schalk oder Spaßvogel. In Deutschland bildete die Gattung des pikaresken Romans in der Literatur des Barock neben dem hohen oder höfischen Roman (mit fürstlichem Personal und an ein höfisches Publikum adressiert) und dem Schäferroman (Liebesschicksale der einfachen Bevölkerung auf dem Hintergrund beschaulichen Landlebens) eine der drei gängigen Romanformen. Mit Blick auf die Ständehierarchie, die in ihnen abgebildet wird, ist der pikareske oder pikarische Roman der niederen Form des Romans dieser Zeit zuzuordnen.

Eigenschaften des "picaro"

Gemäß seinen spanischen Vorbildern stammt der Picaro aus den unteren Gesellschaftsschichten, wobei seine genaue Herkunft oft ungeklärt ist. Er ist daher ungebildet, aber äußerst intelligent und zeichnet sich durch seine Bauernschläue aus. Nach einer ersten desillusionierenden Konfrontation mit der Schlechtigkeit der Welt bricht er zu abenteuerlichen Reisen auf, durchquert dabei viele gesellschaftliche Schichten und entwickelt großes Geschick, sich in wechselnden Umgebungen und gefährlichen Situationen zu behaupten. Er erweist sich als äußerst lebensklug und anpassungsfähig, aber auch als amoralisch und teils als zynisch. Mit erlaubten und unerlaubten Mitteln, mit List und Betrug, Gerissenheit, Lüge und Heuchlertum schlägt er sich durchs Leben und entlarvt die durchlaufenen Gesellschaftsschichten, ihre Ideale, ihre Berufs- und Standesethik durch seine sozialkritischen Kommentare aus der Perspektive des Außenseiters und Anti-Helden als durch und durch verlogen und heuchlerisch. In "Guzmán de Alfarache" (Teil I 1599, Teil II 1604) von Mateo Alemán, mit dem sich diese Romangattung in ganz Europa verbreitete, tritt der Titelheld bereits als skrupelloser Falschspieler, Hochstapler, Betrüger und Zuhälter in Erscheinung und als jemand, der ganz darauf erpicht ist, Karriere zu machen. (Vgl. Ricklefs, Ulfert, Hrsg.: Fischer Lexikon Literatur. Band 3. Frankfurt a. M.: Fischer 2002, 1681) [4]

Handlungsschema, Erzählweise und Erzählperspektive

Von der Handlungsstruktur und der Erzähltechnik her betrachtet handelt es sich um ein Genre mit einem autobiografischen Ich-Erzähler, der in Retroperspektive berichtet und bei dem der Autor das, was dieser sagt oder tut, keiner moralischen Bewertung unterzieht. Es herrscht das Prinzip der additiven Reihung vor, d. h. das Geschehen gliedert sich in Episoden auf und spielt sich auf Schauplätzen ab, die nur durch die Gestalt der Zentralfigur miteinander verbunden sind, wobei deren individuelle Lebensgeschichte mit dem zeitgeschichtlichen Hintergrund verknüpft wird. Der Ich-Erzähler vermittelt aufgrund seiner niederen Herkunft und seiner eingeengten Erzählperspektive (Froschperspektive) eine ausschnitthafte Weltsicht. Damit verzichtet der Autor auf die Außenperspektive einer alles überblickenden, allwissenden auktorialen Erzählinstanz zugunsten der Sichtweise der Erzählerfigur als konstitutives Merkmal der pikaresken Erzählweise. (Vgl. Rötzer 119) Die Beschreibung wird durch einen teils derben Realismus und durch die Einflechtung erotischer Abenteuer geprägt und enthält häufig komische und satirische Elemente.

Verbürgerlichung und Domestizierung des "picaro"

Am Ende seiner abenteuerlichen Reise durch die Welt findet der geläuterte oder bekehrte Held zu einem geregelten Leben zurück. Es erfolgt beispielsweise, wie im 1672 anonym erschienenen "Jan Perus" und der sich daraus entwickelnden Erzählmuster europäischer "Abenteuerromane", ein Schluss mit Happy End, wodurch der Erzähler in die Gesellschaft reintegriert wird. Dieser Prozess der "Verbürgerlichung" des Picaro bzw. seiner "Domestizierung" mündet entweder in die Einheirat in eine begüterte Familie oder in seine Etablierung als erfolgreicher Geschäftsmann. (Vgl. Rötzer 109 f.) Durch diesen sozialen Aufstieg wird er dem ursprünglichen pikaresken Milieu entzogen und findet eine Heimat im wohlhabenden Bürgertum.

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Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
'Das Steinerne Herz' von ArnoSchmidt - Kriminalgeschichte oder Schelmenroman
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Zentrale Einrichtung für Lehre, Studium und Weiterbildung)
Autor
Jahr
2012
Seiten
29
Katalognummer
V195091
ISBN (eBook)
9783656206194
ISBN (Buch)
9783656207108
Dateigröße
492 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
steinerne, herz, arnoschmidt, kriminalgeschichte, schelmenroman
Arbeit zitieren
Hans-Georg Wendland (Autor:in), 2012, 'Das Steinerne Herz' von ArnoSchmidt - Kriminalgeschichte oder Schelmenroman, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/195091

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