Der Staat wird für seine Teile mindestens soweit wirksam, dass er seine Mitglieder einem institutionalisiertem Gewaltregime unterwirft. Dieser Zusammenhang zwischen Gewaltausübung und Staatlichkeit ist für das Werden politischer Gruppierungen grundlegend. Den frühesten, für uns fassbaren Beginn dieses Staatswerdungsprozesses bietet Athen in seiner vorklassischen Periode. Die Gesetzgebung Drakons markiert den Beginn des Überganges der Gewaltausübung von starken Einzelnen hin zu legitimierten Institutionen, die sich schrittweise der Kontrolle durch die Polis unterwerfen. Die vorliegende Arbeit zeichnet diesen Prozess anhand der Quellen und der Forschungsliteratur nach. Sie verknüpft dabei die athenische Frühgeschichte mit der Staatentheorie Thomas Hobbes' und dem Politikbegriff Max Webers.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Gewalt
3. Aristokraten
4. Die Geset8ge9ung Dratom
5. Die Tyrannis der Peisistratiden und der Weg dorthin
5.1. Die Krise Athens und die Reformen Solons
5.2. ΠΕΙΣΙΣΤΡΑΤΟΣ
6. Athen nach dem Ende der Tyrannis - die Reformen des Kleisthenes
7. Fazit
8. Schlussreexkurs
Literaturverzei chni s
„Jungs raufen halt auf dem Spielplatz, das war schon immer so; das ist ein Naturgesetz. “
„Nein, ist es nicht! “
„Aber sicher! Wissen Sie, es braucht eine gewisse Lehrzeit, um Gewalt durch Recht zu ersetzen.
Der Ursprung des Gesetzes ist, wie Sie natürlich wissen, brutale Gewalt. “ „Das gilt vielleicht für Neandertaler, aber nicht in unserer Welt. “ „Erzählen Sie. mir etwas über unsere Welt...“ „Sie öden mich an, dieses ganze Gespräch ödet mich an. “ „[unverständlich] Ich glaube an den Gott des Gemetzels, den Gott, dessen Gesetze seit dem Anbeginn der Zeiten die Welt unverändert regieren, [...]“ Aus: „Der Gott des Gemetzels “ [1]
1. Einleitung
Eine der grundlegenden Fragen kultureller Existenz ist, inwieweit sich ein Individuum seines Lebens, seiner körperlichen Unversehrtheit sicher sein kann. Dies ist eine Gemeinsamkeit über die Zeitalter hinweg, eine wirkliche conditio humana[2]. Die Antike war ein Zeitraum, der mit unseren Alltagserfahrungen kaum verglichen werden kann und in dem trotzdem Prinzipien wirkten, die in der Moderne noch bestimmend sind. Philosophen und später Soziologen sahen in dieser Bedingtheit, körperliche Unversehrtheit, einen inneren Grund, warum Menschen sich zu Gemeinschaften zusammengeschlossen haben[3]. Die Besonderheit der Antike ist dabei, dass sie protostaatliche Zusammenschlüsse kennt, dass der Staat als Gemeinschaft von Menschen in mindestens einer spezifischen Ausprägung, die wir heute an unserem Staatsmodell noch wahrnehmen können, in der griechischen Antike seinen Ursprung hat. Betrachten wir diesen Aspekt antiker Staatlichkeit, dann können wir gleichermaßen dem Urknall des Politischen nachlauschen und dabei erkennen, was ein Grundmuster unseres Zusammenlebens ist: die Abwesenheit direkter Gewalt in der Konstitution menschlicher Gemeinschaft. Dieser Zustand ist das Ergebnis einer historischen Entwicklung, an deren für uns heute am besten fassbaren Beginn das Werden der athenischen Staatlichkeit zum 5. Jahrhundert steht[4]. Die Formen menschlicher Gesellung haben sich dabei von proto- staatlichen Personenverbänden weg zur formal ausdifferenzierten, institutionell fassbaren überindividuellen Polis Athen entwickelt. Diese Transformationsprozesse will die vorliegende Arbeit für Athen zwischen der Gesetzgebung Drakons 621/20[5] und den Reformen des Kleisthenes um 507[6] nachzeichnen.
Die Schwerpunktsetzung dieser Arbeit ergibt sich durch das Thema des Seminars verbunden mit meinem persönlichen Erkenntnisinteresse, Gewalt als Constituens von Staatlichkeit aufzufassen und dabei zu betrachten, inwieweit (früh)neuzeitliche Staatentheorien im Grundsatz Gültigkeit für unsere Rekonstruktion des Staatenwerdungspro- zesses in Athen beanspruchen können.
Als Quellen kommt eine epigraphische Wiederaufzeichnung der drakontischen Gesetzgebung in Betracht (IG I3 104) sowie die literarischen Quellen Herodots und der Athe- naíon politeía. Die notwendige Quellenkritik haben andere vor mir geleistet, insofern ist im Zusammenhang auf sie verwiesen.
Unmittelbare Gewalt ist ein zentraler Aspekt von Staatlichkeit, sowohl deren Vorhandensein als auch deren Abwesenheit. Der Prozess des Übergangs der direkten Gewaltausübung von mächtigen Einzelnen auf prozessual legitimierte Institutionen als Repräsentanten eines Gemeinwillens lässt sich am Beispiel Athens zeigen und illustriert eine Kernfunktion von Staatlichkeit, die heute noch Gültigkeit hat. Die notwendige funktionale Ausdifferenzierung von Institutionen lässt sich als Integrations- und Wandlungsprozess der ursprünglich gewaltausübenden Einzelnen in die Polis hinein beschreiben; dabei kann deutlich gemacht werden, dass das so mit Wirkmacht versehene Institutionengefüge das zunehmend gültige Aktionsfeld gewaltausübender Einzelner geworden ist.
Nachgezeichnet wird dieser Prozess großteils an der Forschungsliteratur zu Athen und zur griechischen Archaik; wo die Quellenlage es anbietet, wird auf literarische und epigraphische Quellen eingegangen werden. Der Schwerpunkt der Überlegungen besteht darin, die in den Quellen überlieferten Ereignisse als einen Prozess darzustellen, dessen Für und Wider seinen Niederschlag in einzelnen Quellen findet. Hinsichtlich der Staatstheorie stützt sich diese Arbeit auf die Überlegungen Thomas Hobbes’ im Grundlegenden, auf die Max Webers im Definitorischen und auf jene Michel Wieviorkas im Aktuellen. Dabei wird zuerst der Blick auf den Zusammenhang zwischen Gewalt und Staatlichkeit gerichtet, hernach der ursprüngliche Träger der Gewalt, der Aristokrat, und dessen spezifische Lebenswelt in den Blick genommen. Anschließend werden die jeweiligen Etappen der Institutionalisierung Athens auf ihre Wirksamkeit als Integrationsschritt zur Etablierung funktionaler Herrschaftsinstitutionen hin untersucht; breiter sollen hier die Zeit der Tyrannis der Peisistratiden zwischen 546 [7] und 511/10 [8] und die Reformen des Kleisthenes 508/07 [9] Beachtung finden.
2. Gewalt
Ein „berühmte Formel“ [10], die Staat definitorisch in direkten Zusammenhang mit Gewalt bringt, stammt von Max Weber, indem er schreibt, dass der „Staat [...] diejenige menschliche Gemeinschaft [ist], welche innerhalb eines bestimmten Gebietes [...] das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht.“ [11] Diese Formulierung verbindet das Vermögen des Staates, Gewalt einzusetzen, mit dem Kriterium, dass dieses legitim geschieht, also durch institutionelles Handeln abgesichert worden ist. Thomas Hobbes beschreibt den Menschen dergestalt, dass es seiner Natur gemäß sei, auf der einen Seite die Freiheit zu lieben, auf der anderen Seite aber auch die Herrschaft über andere Menschen anzustreben. Diese Doppelnatur führe zur Staatenbildung, weil in ihm die Herrschaft des Gesetzes mit dem Mittel der Gewalt, also des Schwertes durchgesetzt werden kann, das dem Individuum Schutz vor den natürlichen Leidenschaften des Stärkeren bietet. [12] Hobbes führt im weiteren Gründe an, warum der Mensch nicht einfach friedlich zusammenleben könne, auf die später eingegangen werden wird. Für die heutige Zeit wird der Zusammenhang zwischen Staatlichkeit und Gewalt eher als Nachlassen der Autorität des Staates beschrieben, was dazu führt, dass der Gewalt günstigere Rahmenbedingungen geboten werden, „um in Formen aufzutreten, die als delinquent oder kriminell wahrgenommen werden.“ [13] Somit wird hier von beiden Seiten des Institutionalisierungsprozeses der Blick auf den Zusammenhang zwischen Staatlichkeit und organisierter Abwesenheit von direkter Gewalt geworfen, einmal zum Beginn dieses Prozesses mit dem Beginn der Staatlichkeit in Athen und einmal mit Lockerungsprozessen im Hinblick auf die Gegenwart. Inwiefern eine Theorie vom Gewaltmonopol für das archaische Athen bzw. für die Antike Geltung beanspruchen kann, bleibt streitig, da man von einem wirklichen Gewaltmonopol in der Antike nicht sprechen kann, weil der ,Staat’ nicht die alleinige Gewalt für sich monopolisiert hatte, sondern im Prozess seiner Staatswerdung lediglich auf die höchste Gewalt bestand. [14] Streitig bleibt insofern nur der Grad, wobei der Grundsatz aufgezeigt worden ist, dass Staatlichkeit und Gewalt einander wechselseitig Bedingung sind.
3. Aristokraten
Die ursprünglichen Träger individueller und vorinstitutioneller Gewaltausübung waren die einzelnen Aristokraten mit ihren Gefährtenschaften, den Hetairoi. Sie verfügten als Oikosbesitzer über die notwendigen natürlichen Ressourcen, ihrem Leben einen anderen Zweck geben zu können als den Selbsterhalt. Ein großer Teil der Lebenswelt der Aristokraten bestand aus dem Wettstreit mit anderen Aristokraten (Agon), der sich auf erfolgreiche Handelsunternehmungen, Teilnahme an Spielen oder religiösen Kulthandlungen und ein spezifisches Ethos richtete. Der Schicht der Aristokraten war ein Lebensraum bestimmt, der über den engeren Horizont der Heimatpolis hinausreichte, gleichsam als „international“ gelten konnte. Die eigene Polis und der wirtschaftliche Zusammenhalt ebendieser sank so als Mittel zum Zweck des eigentlich Entscheidenden, des Wettkampfes, hinab. In Verbindung mit allfälligen Agrarkrisen entstand so eine Gemengelage, die die Polis herausforderte und zu einem langsamen Wandel der Sozialstrukturen in Athen und anderswo führte. [15]
4. Die Gesetzgebung Drakons
Auf das Jahr 621/20 wird die uns überlieferte athenische Gesetzgebung datiert, die mit dem Namen des Gesetzgebers Drakon verbunden wird, zu dessen Person wenig überliefert ist. Sein Gesetzeswerk soll mehrere Gesetzesmaßnahmen umfasst haben [16], wovon uns eine Wiederaufzeichnung aus dem Jahr 409/08 epigraphisch in Teilen erhalten ist [17].Der uns erhaltene Teil kodifiziert die Tötung „με εκ προνοίας“ [18]. Ob die Kodifizierung Drakons auch Mord als beabsichtigte Tötung umfasst hat, muss auf Grund der Quellenlage als unsicher bezeichnet werden.
[...]
[1] R. Polanski, Der Gott des Gemetzels, Deutschland 2011, Minuten 54:55-55:26, in: sockshare.com, (Zugriff am 10.2.2012), http://www.sockshare.com/file/AE78B07FD92591F7
[2] Hobbes, Leviathan, 131-135.; 3 Ibid.
[3] Jahreszahlen beziehen sich in dieser Arbeit - abgesehen von Fußnoten - auf die Zeit vor Beginn der
[4] Zeitrechnung nach Christus, sofern nichts anderes angegeben ist.
[5] K.-J. Hölkeskamp, DNP 3, 1997, 810f., s.v. Drakon [2].
[6] P. J. Rhodes, DNP 6, 1999, 569f., s.v. Kleisthenes [2].
[7] K. Kinzel, DNP 9, 2000, 483f., s.v. Peisistratos [4].
[8] K. Kinzel, DNP 9, 2000, 482f., s.v. Peisistratidai.
[9] P. J. Rhodes, DNP 6, 1999, 569f., s.v. Kleisthenes [2].
[10] Wieviorka, Gewalt, 69.
[11] Weber, Politik, 566.
[12] Hobbes, Leviathan, 131.
[13] Wieviorka, Gewalt, 62.
[14] Demandt, Staatsformen, 20.
[15] Stein-Hölkeskamp, Geschichte der Antike, 74-77.
[16] K.-J. Hölkeskamp, DNP 3, 1997, 810f., s.v. Drakon [2].
[17] Koerner, Inschriftliche Gesetzestexte, 27-29. Vgl. auch die Anmerkungen dort. IG I3 104 zitiert nach Koerner:, vgl. insbesondere Nörr, Drakon, 631-653.
[18] „nicht aus Vorsatz“ - Eigene Übersetzung.
- Arbeit zitieren
- Kristian Kaiser (Autor:in), 2012, Gewaltregulation als Constituens von Staatlichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/195105
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