Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Psychopathologie
2.1 Definition
2.2 Symptomatik und Klassifikation
2.3 Komorbiditäten
2.4 Diagnostik und Differenzialdiagnostik
2.5 Epidemiologie, Verlauf und Prognosen
2.6 Ätiologie
3 Traumatherapieverfahren
3.1 Trauma-fokussierte kognitiv-behaviorale Therapie (TF-KBT)
3.2 Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)
3.3 Traumazentrierte Spieltherapie (tSt)
3.4 Narrative Expositionstherapie (NET) – für Kinder (KIDNET)
3.5 Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT) – für Kinder (PITT-KID)
3.6 Mehrdimensionale psychodynamische Traumatherapie (MPTT)
4 Vergleich der Therapieverfahren
4.1 Gemeinsamkeiten
4.2 Unterschiede
5 Ergebnisse, Diskussion, Zusammenfassung und Ausblick
6 Literaturverzeichnis
7 Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Zwei Stress-Kreisläufe
Abbildung 2: Klassifikation von Traumafolgestörungen
Abbildung 3: Kognitives Modell nach Ehlers & Clark (2000)
Abbildung 4: Rahmenmodell der Ätiologie von Trauma-Folgen
Abbildung 5: Interventionsfelder der Traumatherapie
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Trauma-Ereignisse und ihrer Gewichtung für psychische Folgestörungen
Tabelle 2: Hauptkriterien des DSM-IV der PTBS
Tabelle 3: Phasen des diagnostischen Prozesses
Tabelle 4: Prävalenzrate der PTBS im Kindes- und Jugendalter
Tabelle 5: Interventionsschwerpunkte traumatherapeutischer Verfahren
Tabelle 6: Von der Evidenz zur Empfehlung (Klassifikationssysteme)
Tabelle 7: Therapieverfahren in Bezug zu den Evidenzstufen
Tabelle 8: Diagnosekriterien der PTBS gemäß DSM-IV-TR
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Das Ausmaß von Trauma-Ereignissen, ob bei Kindern, Jugendlichen, oder Erwachsenen, ist weit gefasst. Es reicht von körperlicher und sexualler Gewalt über Unfälle und lebensbedrohliche Erkrankungen bis hin zu Naturkathastrophen. Viele Menschen, die ein solches Ereignis erleben, oder Zeugen davon werden, erleben im Anschluss Symptome wie zum Beispiel ungewollte Erinnerungen an das Ereignis, Schreckhaftigkeit oder die Vermeidung von Trauma assoziierten Stimuli. Oftmals sind solche Symptome nur vorübergehend vorhanden, bei einigen Betroffenen können sie jedoch dauerhaft auftreten. Unter Umständen kann es dabei zur Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) kommen (Weinberg, 2011, S. 24).
Folgende Hausarbeit führt zunächst in das Thema Traumata und Traumafolgestörungen, insbesondere der PTBS im Kindes- und Jugendalter ein. Dazu werden Definition, Symptomatik und Klassifikation, Komorbiditäten, Diagnostik und Differenzialdiagnostik, Epidemiologie, Verlauf, und Ätiologie als theoretische Grundlagen der PTBS im Kindes- und Jugendalter dargestellt. Ziel dieser Arbeit ist, die Besonderheiten der Patientengruppe von Kindern und Jugendlichen bezüglich dieser Thematik herauszuarbeiten.
Es folgt eine Darstellung sowie eine anschließende Bewertung von psychotherapeutischen Verfahren zur Behandlung der PTBS im Kindes- und Jugendalter. Dabei werden die theoretische Fundierung, die Rahmenbedingungen, sowie die Studienlage zur Wirksamkeit thematisiert. Die beiden evidenzbasierten Traumatherapieverfahren – die Trauma-fokussierte kognitiv-behaviorale Therapie (TF-KBT) und das Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) für Kinder und Jugendliche – werden genauer beleuchtet. Ferner wird die traumazentrierte Spieltherapie (tSt) als ein Verfahren, welches sich insbesondere in der Praxis mit Kindern bewährt hat, vorgestellt. Darüber hinaus wird auf die Narrative Expositionstherapie für Erwachsene (NET) und Kinder (KIDNET), die Psychodynamische Imaginative Traumatherapie für Erwachsene (PITT) und Kinder (PITT-KID) sowie auf die Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie für Erwachsene (MPTT) und für Kinder und Jugendliche (MPTT-KJ) eingegangen. In der Diskussion wird die Frage nach einer vergleichenden Analyse im Fokus stehen. Dabei werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Therapieverfahren erörtert. Abschließend erfolgt eine Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse dieser Arbeit und es wird ein Ausblick gegeben.
2 Psychopathologie
2.1 Definition
Der Begriff Trauma stammt ursprünglich aus dem Griechischen und bedeutet Verletzung oder Wunde[1]. Der Begriff Trauma wird gegenwärtig vielschichtig und inflationär genutzt. Im international gebräuchlichen Krankheitsdefinitionssystem DSM-IV-TR werden beim Psychotrauma zwei Aspekte charakterisiert. Der eine Aspekt ist, dass ein Trauma ein extrem belastendes oder lebensbedrohliches Ereignis darstellt, welches mit einer ernsthaften Bedrohung der köperlichen oder psychischen Integrität der eigenen oder einer anderen Person einhergeht. Der andere Aspekt ist, dass die/der Betroffene mit intensiver Flucht, Hilflosigkeit, Grauen sowie aufgelöstem oder agitiertem Verhalten reagiert (Landolt, 2004, S. 14; Sass, Wittchen & Zaudig, 2003).
In dieser Arbeit wird, aus Gründen einer verbesserten Übersicht, nach Weinberg (2011), zwischen Trauma-Ereignis, Trauma-Reaktion, Trauma-Erfahrung und Trauma-Folge unterschieden. Diese vier Begriffe werden im Folgenden differenziert erläutert:
Trauma-Ereigniss
Das Außmaß von Trauma-Ereignissen ist weit gefasst und reicht von körperlicher und sexualler Gewalt, über Unfälle und lebensbedrohliche Erkrankungen bis hin zu Natrukathastrophen (Landolt & Hensel, 2008a, S. 14). Tabelle 1 gibt einen Überblick über mögliche Trauma-Ereignisse. Ferner wird in der Tabelle die Gewichtung, bezogen auf die psychischen Folgestörungen, berücksichtigt. Sie liest sich von oben nach unten und von links nach rechts und verdeutlicht dabei eine Erhöhung des seelisch zerstörerischen Traumapotenzials (Weinberg, 2011, S. 24). Darüber hinaus wird zwischen Naturkathastrophen und Man-made-Desaster unterschieden. Letzteres differenziert sich in zwei Untergruppen. Beispielsweise hat das Trauma-Ereignis „sexueller Missbrauch“ besonders gravierende Auswirkungen auf die Psyche. Es kann eine Symptomatik hervorrufen, die sogar über die unten beschriebene Symptomatik der PTBS, hinausgeht (s. Kapitel 2.2 u. Kapitel 7) und als komplexe Traumafolgestörungen beschrieben wird (Rosner, 2008).
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Tabelle 1: Trauma-Ereignisse und ihrer Gewichtung für psychische Folgestörungen
(Quelle: Weinberg, 2011, S. 23)
Trauma-Reaktion
Der Begriff Trauma-Reaktion bedeutet laut der Definition von Weinberg (2011) die biologisch determinierte unmittelbare Reaktion des Individuums auf das Trauma-Ereignis. Folgende Abbildung 1 dient zum Verständnis der neurophysiologischen Mechanismen.
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Abbildung 1: Zwei Stress-Kreisläufe
(Quelle: Weinberg, 2008, S. 87)
Zum einen wird die unmitttelbare Stressreaktion auf die neuartige bedrohliche Situation aufgezeigt. Dies umfasst die allgemeinen Aktivierungsmuster des präfrontalen Kortex. Dies beinhaltet die Aktivierung des limbischen Systems sowie die Aktivierung des Hirnstamms. Im SAM-System (Sympathetic-Adreno-Medullary-System) wird Noradrenalin und Dopamin ausgeschüttet. Über die Aktivierung der Hirnanhangdrüse HPA (Hypothalamic Pituitary-Adrenal) wird in der Nebennierenrinde das Stresshormon Cortisol ausgeschüttet. Dieser Vorgang dient zunächst der Überlebenssicherung. Zum anderen folgt daran anschließend die Gegenschockphase. Diese ist in der Abbildung 1 unter dem Punkt „gute Lösungschancen“ differenzierter erklärt und umfasst den Gedankenkreislauf. Wenn Lösungschancen Misserfolg erfahren, kommt es zu unkontrolliertem Stress. Weiteres Aufschaukeln der Misserfolge hat eine unkontrlierte Stressreaktion zur Folge. Diese äußert sich über die Aktiverung des HPA-Systems. Es zeigen sich Gefühle wie Verzweiflung, Hilflosigkeit, Schlafstörungen etc. Dies wiederum hat einen lang anhaltenden hohen Glukortikoidspiegel zur Folge, der wiederum zu Hemmung bis zu Degeneration vom Noradrenergem System, Immunsystem etc. führt. Dysfunktionale Lösungsstrategien werden neu erlernt. Es kann zu einem chronischen Leiden oder einer Persönlichkeitsveränderung kommen (Weinberg, 2011, S. 27; Weinberg, 2008, S. 87).[2]
Trauma-Erfahrung
Der Begriff Trauma-Erfahrung bezieht sich auf den Verarbeitungsprozess nach dem Trauma-Ereignis. Auch hier spielt die Gegenschockphase aus Abbildung 1 eine wesentliche Rolle. Verschieden Menschen reagieren auf ein und dieselbe Trauma-Erfahrung unterschiedlich. So können gleichartige Trauma-Ereignisse bei zwei Menschen zu verschiedenen Trauma-Folgen führen. Bei der Trauma-Erfahrung rücken dann die eigentlichen Ausmaße des Trauma-Ereignisses, wie sie oben beschrieben worden sind, in den Hintergrund. Symptomverarbeitung und der Symptomentstehung stehen im Fordergrund (Wendt, 2011, S. 9).
Wie das Trauma erfahren wird, hängt von vielfältigen Faktoren ab. Dabei können die sogenannten Traumacharakteristika wie Art, Dauer und Vorhersehbarkeit des Trauma-Ereignisses, eine Rolle spielen. Weiter beeinflussen Risiko- und Schutzkonstellationen das Außmaß der Trauma-Erfahrung. Das sind zum einen Personenmerkmale wie zum Beispiel Vorerfahrungen, Überzeugungen, körperlicher Zustand, oder Umgebungsfaktoren, wie beispielsweise die Reaktion der Umwelt auf das Ereignis, zum anderen aber auch die soziale Unterstützung (Wendt, 2011, S. 9). Es wird deutlich, dass die Trauma-Erfahrung von einer Vielzahl von Fakoren abhängig ist. So kommt es, dass manche Personen nach einer solchen Erfahrung starke psychische Beschwerden zeigen, andere nicht.[3] Empirisch belegt ist, dass wenn ein Trauma-Ereignis ein bestimtes Maß an Intensität, sowie an zeitlicher Dauer überschreitet, kein Individuum in der Lage ist, ein solches Ereignis seelisch unversehrt zu überstehen. Die erlebten Erfahrungen können von Kindern und Jugendlichen nicht in ihre Biografie integriert werden. Dies hat zur Folge, dass die Trauma-Erfahrungen ihr „Eigenleben“ in der Psyche der Betroffenen führen, was verschiedene Trauma-Folgen, so wie sie unten definiert werden, nach sich zieht (Weinberg, 2011, S. 43).
Trauma-Folge
Der Begriff Trauma-Folge bezeichnet eine zeitlich abschließende Auswirkung auf das seelisch-leibliche Gleichgewicht der Betroffenen (Weinberg, 2011, S. 43).
Die zwei international gebräuchlichen Krankheitsdefinitionssysteme, das DSM-IV und das ICD-10 beschreiben mehrere Diagnosen, die als eine Trauma- Folge auftreten können. Dabei handelt es sich (im DSM-IV) um folgende Störungsbilder:
- Akute Belastungsstörung (308.3)
- Posttraumatische Belastungsstörung (309.81)
- Anpassungsstörungen (309.X).
Im ICD-10 sind es:
- Akute Belastungsreaktion (F43.0)
- Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) (F43.1)
- Anpassungsstörungen (F43.2)
- Andauernde Persönlichkeitsveränderungen nach Extrembelastung (F62.0).
Daneben können auch weitere psychische Störungen als Trauma-Folge auftreten. Im ICD-10 beschrieben, findet sich davon eine Vielzahl (z. B. Depression, Angststörungen etc.). In folgender Abbildung (s. Abbildung 2) soll eine auf dem ICD-10 basierende mögliche Klassifikation von Traumafolgestörungen aufgezeigt werden:
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Abbildung 2: Klassifikation von Traumafolgestörungen
(Quelle: Landolt, 2008b, S. 30)
In dieser Hausarbeit wird nur die PTBS als Trauma-Folge näher betrachtet. Wie aus Abbildung 2 hervorgeht, kann sie direkt als Trauma-Ereignis erfolgen, oder aber nach einer akuten Belastungsstörung.
2.2 Symptomatik und Klassifikation
Die PTBS tritt bei Kindern und Jugendlichen gehäuft auf und ist aktuell die am besten untersuchte Traumafolgestörung. In der Klassifikation, der PTBS im Kindes- und Jugendalter hat, sich das System DSM-IV durchgesetzt, weil dieses im Gegensatz zum ICD-10 System kindspezifische Kriterien berücksichtigt (s. Sass et al., 2003 im Vergleich zu Dilling & Schulte-Markwort, 2010). Ferner verfährt das DSM-IV deutlich strenger als das ICD-10. In Tabelle 2 werden die fünf Hauptklassifikationskriterien des DSM-IV dargestellt.
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Tabelle 2: Hauptkriterien des DSM-IV der PTBS
(Quelle: Maercker, 2009a, S. 14).
Es wird ersichtlich, dass die Klassifikation der PTBS ein Trauma-Ereignis voraussetzt (s. Kriterium 1). Die Intrusionen – Kriterium 2 – äußern sich bei Kindern wie folgt:
- „In einem weniger lustvollen und wiederholenden Nachspielen der traumatischen Situation
- Mit körperlichen Symptomen der Erregung
- Mit anklammerndem, regressivem (Verlust prätraumatisch schon erworbener Fähigkeiten in den Bereichen Sprache oder Kontinenz) oder aggressivem Verhalten
- Mit neuer Angst vor Dunkelheit, Monstern oder dem Alleinsein
- Mit selbstschädigendem Verhalten wie z. B. Drogenmissbrauch oder auch Automutilation i. S. einer Selbstmedikation bzw. eines Spannungsabbaus ähnlich wie bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung
- Möglicherweise mit einer verkürzten Zukunftsperspektive (,ich werde sowieso nie die Schule beenden, nie eine Partnerschaft haben, nie heiraten, nie Kinder bekommen ...’ etc.)“
(Steil & Rosner, 2009, S. 322)
Kriterium 3 aus Tabelle 2 besagt, dass betroffene Kinder und Jugendliche den Versuch unternehmen, Situationen und Aktivitäten zu vermeiden, welche Erinnerungen an das Trauma-Ereignis hervorrufen könnten. Ebenso zeigen die Betroffenen ein Gefühl der Fremdheit in ihrer Umgebung. Weiter wird beobachtet, dass sie vermeiden, Gefühle zu empfinden (Schneider & Margraf, 2009). Ein anhaltendes physiologisches Übererregung (Hyperarousal) (Kriterium 4) der PTBS äußert sich in Form von Schlafstörungen, motorischer Unruhe, erhöhter Reizbarkeit sowie einem aggressiven Verhalten, Trennungsangst, Konzentrationsschwierigkeiten und einer erhöhten Schreckhaftigkeit und übermäßiger Wachsamkeit (Rosner, 2008). Kriterium 5 besagt, dass die Symptome länger als einen Monat andauern müssen (Maercker, 2009a, S. 14). Das genaue Klassifikationssystem der PTBS im Kindes- und Jugendalter des DSM-IV-TR findet sich im Anhang (s. Kapitel 7).
2.3 Komorbiditäten
Insbesondere die PTBS weißt eine hohe Komorbidität mit anderen psychischen Störungen auf (Pappagallo, Silva & Rojav, 2004). Perkonigg et al. (2000) fanden in ihrer Studie heraus, dass 87,5% der an PTBS Erkrankten mindesten eine zusätzliche Diagnose zeigen. Bei 77,5% der Fälle findet man sogar mehrere Diagnosen (Perkonigg, Kessler, Storz & Wittchen, 2000). In der Literatur gibt es verschiedene Angaben zu komorbiden Störungen der PTBS im Kindesaler. Viele Autoren beschreiben internalisierende und externalisierende Verhaltensprobleme, schlechte schulische Leistung, Suizidgedanken und Suizidversuche, interpersonelle Schwierigkeiten, sowie körperliche Beschwerden (Essau, Conradt & Petermann, 1999; Giaconia, Reinherz, Silverman, Forst & Cohen, 1995; Landolt & Hensel, 2008a, S. 16f.; Steil & Rosner, 2009). Ferner treten depressive Störungen, Substanzabhängigkeit und somatoforme Störungen auf (Essau et al., 1999). Die Autoren Yule et al. (2000) heben die auffallend hohe Komorbidität der PTBS mit affektiven Störungen, Angststörungen, der Störung des Sozialverhaltens und Somatisierungsstörungen hervor. Psychotraumatologische Konzepte betonen, dass es sich bei den Komorbiditäten nicht um ein funktionales Nebeneinander unabhängiger Krankheitsidentitäten handelt (Landolt & Hensel, 2008a, S. 17), sondern dass die/der Patient immer mit ihrer/seiner Gesamtsymptomitk betrachtet werden soll. Daher sollten die Komorbiditäten bei der Betrachtung der PTBS immer berücksichtigt werden.
2.4 Diagnostik und Differenzialdiagnostik
Diagnostik
Folgende Tabelle 3 gibt einen Überblick über die Phasen des diagnostischen Prozesses bei Kindern und Jugendlichen mit einer Traumafolgestörung (Landolt, 2008b, S. 34).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 3: Phasen des diagnostischen Prozesses
(Quelle: Landolt, 2008b, S. 34)[4]
Bis vor Kurzem gestaltete sich die Diagnosestellung der PTBS bei Jugendlichen und insbesondere bei Kindern unter fünf Jahren schwierig. Grund dafür war, dass auf Instrumente und Verfahren zurückgegriffen wurde, welche für Erwachsene konzipiert worden waren und somit Kindern nicht gerecht wurden. Neuerdings werden neue Instrumente erprobt und bereits vorhandene Instrumente für Erwachsene für Kinder adaptiert. Das Kindertraumainstitut in Offenburg stellt eine Liste mit den aktuellsten Screening- und Diagnoseinstrumenten bereit, welche als Goldstandards für eine gesicherte Diagnose nach DSM-IV gelten (Hensel, 2011). Hier wird insbesondere das Interview zu Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen (IBS-P-KJ) für die PTBS angepriesen (Steil & Rosner, 2009). Des Weiteren wird das diagnostische Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (Kinder-DIPS) empfohlen (Unnewehr, Schneider & Margraf, 2009). Daneben gibt es den UCLA PTSD INDEX für DSM IV (Hensel, 2011) und der PTSDSSI: semistrukturiertes Interview und Beobachtungsbogen für Säuglinge und Kleinkinder (auch in der deutschsprachigen Version) (Sonnenmoser, 2009, S. 313f.). Darüber hinaus stehen aktuell folgende Verfahren zur Verfügung:
- CPTSD-RI: Child Posttraumatic Stress Disorder Reaction Index (auch in deutschsprachiger Version) (Sonnenmoser, 2009, S. 313f.)
- CAPS-CA: Clinician Administered PTSD Scale for Children and Adolescents (teilweise deutschsprachige Version: Interview zur Erfassung der posttraumatischen Belastungsstörung [IBS-P-KJ] (Sonnenmoser, 2009, S. 313f.; Steil & Füchsel, 2006)
- PAPA: Preschool Age Psychiatric Assessment (Sonnenmoser, 2009, S. 313f.)
- PTSD-PAC: PTSD Symptoms in Preschool Children (Sonnenmoser, 2009, S. 313f.)
- TSCYC: Trauma Symptom Checklist for Young Children (Sonnenmoser, 2009, S. 313f.)
- CRIES: Children Revised Impact of Event Scale, (Dyregrov, Kurterova & Barath, 1996; Steil & Füchsel, 2006).
Die amerikanische Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (American Association for Child and Adolescent Psychiatry (AACAP), (1998)) hat Empfehlungen zum diagnostischen Prozess und zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen herausgegeben. Diese werden im Folgenden aufgeführt:
1. „Kinder und Jugendliche mit einer klinischen PTBS erfüllen selten alle formalen Kriterien der posttraumatischen Belastungsstörung.
2. Der Wechsel von Symptomen ist deutlich schneller und stärker ausgeprägt als bei Erwachsenen (z. B. der Wechsel von Übererregung und Dissoziation).
3. Die bei vielen Erwachsenen sehr auffällige B-Symptomatik (instruktive Erinnerung) ist bei Kindern und Jugendlichen viel stärker und kann häufig bei genauerer Untersuchung herausgefunden werden.
4. Kinder und Jugendliche zeigen häufig andere Gruppen von Symptomen als Erwachsene. Diese Symptomausprägungen hängen dabei eng mit dem Entwicklungsstand und der Altersgruppe der betroffenen Kinder zusammen und verändern sich auch bei der weiteren Entwicklung entsprechend (z. B. Übererregungs- und Schreisymptomatik bei sehr kleinen Kindern oder aggressives Externalisieren bei älteren Kindern).
5. Insgesamt wird von der AACAP die Empfehlung gegeben, ein Kind oder einen Jugendlichen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung dann als behandlungsdürftig anzusehen, wenn das Alltagsleben des Kindes oder Jugendlichen beeinträchtigt ist, auch wenn nur ein einziges Kriterium erfüllt ist.“ (Riedesser, 2009, S. 174).
Diese Empfehlungen behandeln im Ansatz die speziellen Bedarfe und die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen. Jedoch müssten sie noch genauer differenziert werden.
Differenzialdiagnostik
Differenzialdiagnostisch werden von der PTBS folgende Störungsbilder abgegrenzt (Steil & Rosner, 2009, S. 323):
- Affektive Störungen
- andere Angsstörungen (wie z. B. die Trennungsangst)
- psychotische Störungen
- Borderline-Persönlichkeitsstörung
Die aufgeführten Störungen können ebenfalls als Trauma-Folge auftreten. Ferner sollten auch die Anpassungsstörung sowie die Folgen von Kopfverletzungen (hier die lang anhaltende Irritabilität, Angst etc.) differenzialdiagnostisch abgegrenzt werden. Ebenso verhält es sich bei der traumatischen Trauer. Hierfür finden sich noch keine differenzierten Erklärungen für das Kindesalter (Steil & Rosner, 2009, S. 323f.). Übererregungssymptome wie Reizbarkeit, Wutausbrüche oder Konzentrationsstörungen können irrtümlich auch der hyperkinetischen oder aggresiven Störungen diagnostiziert werden. Auch diese gilt es differenzialdiagnostisch abzugrenzen (Steil & Rosner, 2009, S. 323f.).
Es ist unabdingbar, bei der Anamnese zu Beginn der Untersuchung, einen möglichen Zusammenhang zu Trauma-Folgen abzuklären.
2.5 Epidemiologie, Verlauf und Prognosen
Insgesamt gibt es vier repräsentative Studien zur Prävalenz der PTBS bei Kindern und Jugendlichen, die in folgender Tabelle 4 dargestellt werden:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 4: Prävalenzrate der PTBS im Kindes- und Jugendalter
(Quelle: Elklit, 2002; Essau et al., 1999; Giaconia et al., 1995; Lösel & Bender, 1998)
Die hohe Prävalenzrate der Studie von Elkit (2002) lässt sich dadurch erklären, dass die Trauma-Ereignisse sehr breit gefasst sind. Bereits die Scheidung der Eltern wird hier berücksichtigt. In der Bremer Jugendstudie (Essau, 1998; Essau et al., 1999) berichten 22% der Jugendlichen über traumatische Ereignisse in ihrem Leben. Dabei wurden am häufigsten körperliche Angriffe, Verletzungen und schwere Unfälle benannt. Eine andere epidemiologische Studie von Perkonigg et al. (2000) sagt aus, dass 26% der jungen Männer und 18% der jungen Frauen von mindesten einem traumatischen Ereignis berichten (Lösel & Bender, 1998).
Ferner bestehen unter Berücksichtigung der Geschlecher deutliche Unterschiede in der Prävalenzrate (Salmon & Bryant, 2002). Dies veranschaulichen die oben aufgeführten Studien aus Tabelle 4. Drei der vier Studien zeigen, dass Mädchen häufiger als Jungen in der Folge eines Traumatischen-Ereignisses eine PTBS entwickeln. Weiter wiesen deutlich mehr weibliche Untersuchungspersonen eine höhere Lebenszeitprävalenz der PTBS auf als männliche Untersuchungspersonen (z. B. 10% vs. 2%, Giaconia et al., 1995). Mädchen berichten dabei aber über doppelt so viele Symptome. Des Weiteren entwickelt sich bei Mädchen häufiger ein chronischer Verflauf (Wendt, 2011, S. 10). Zudem ist es so, dass Jungen fast doppelt so häufig wie Mädchen mit Trauma-Ereignissen konfrontiert werden (Wendt, 2011, S. 10).
Nicht nur in Bezug auf das Geschlecht, sondern auch in Bezug auf die Art des Trauma-Ereignissens gibt es Unterschiede. Bei Unfällen und Naturkathastrophen entwickeln 10% eine PTBS. Kriegstraumatisierte und misshandelte Kinder zeigen eine Prävalenzrate zwischen 25-75% (Essau et al., 1999; Salmon & Bryant, 2002). Nach einer Vergewaltigung liegt die Prävalenzrate bei 30 und 50% (Wendt, 2011, S. 10; Essau et al., 1999; Salmon & Bryant, 2002). Opfer von sexueller Gewalt zeigen bei der Prävalenz eine Rate von etwa 90% auf (Essau et al., 1999; Salmon & Bryant, 2002). Studien bei Asylbewerbern und Flüchtlingen verzeichnen eine Prävalenzrate von 50%. Bei Verkehrsunfällen liegt die Rate bei 20%, beim unerwarteten Tod eines Angehörigen bei 15% (Wendt, 2011, S. 10).
[...]
[1] Die Psychopathologie (griechisch) ist die Lehre psychischer Erkrankungen. Sie beschreibt die Ursachen und den Prozess in der Entwicklung der psychischen Erkrankung sowie die Symptomatik und Erscheinungsweisen (Payk, 2007). Streng genommen ist somit die „Definition von Trauma“ nicht unter die Psychopathologie zu fassen. Aus Gründen der Logik innerhalb der Definition, (die Trauma-Folge wird erläutert), wurde dies in dieser Hausarbeit trotzdem so vorgenommen.
[2] Mehr dazu findet sich bei Weinberg (2011, S. 27ff.); Weinberg (2008, S. 87).
[3] Hierzu finden sich auch viele Studien der Resilienzforschung. Werner (2006) konnte insgesamt 19 Längsschnittstudien ausfindig machen, welche seit Beginn der Resilienzforschung in den USA, Europa, Australien und Neuseeland durchgeführt wurden Werner (2006, S. 91). Zu den bekanntesten zählen die „Kauai-Längsschnittstudie“ von Werner und Smith (1982) zit. n. Fröhlich-Gildhoff und Rönnau-Böse (2009, S. 15) und die „Mannheimer Risikokinderstudie“ von Lauch et al. (u. a. 1996, 2000 zit. n. Wustmann 2009, S. 90).
[4] Ferner gehört die Ermittlung der Komorbiditäten und der möglichen prätraumatischen Störungen dazu. Die Ermittlung der posttraumatischen psychischen Störung sollte möglichst auf den allgemeinen Grundlagen der klinisch psychologischen Diagnostik im Kindes- und Jugendalter liegen (Landolt 2008b, S. 34).