Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Hauptteil
2.1 Martha Nussbaums Kritik an Rawls Theorie der Gerechtigkeit als Fairness
2.2 Überprüfung der Kritik von Martha Nussbaum anhand eines Fallbeispiels
2.3 Der Fähigkeitenansatz
2.4 Überprüfung des Fähigkeitenansatz am Fallbeispiel des Herrn B.
3. Fazit
1. Einleitung
Gerechtigkeit ist ein Schlagwort, das heutzutage in aller Munde ist. Rechtsphilosophisch gesehen ist die soziale Gerechtigkeit die zentrale Idee des Rechts überhaupt (vgl. Dt. Verein für öffentliche und private Fürsorge, 2007, S. 851). Doch wie Gerechtigkeit tatsächlich aussieht wird sehr unterschiedlich definiert. Vertragstheorien üben hierbei einen großen Einfluss auf die Politik aus. Martha Nussbaum, amerikanische Philosophin, beschäftigt sich in ihrem neuen Buch „Die Grenzen der Gerechtigkeit“ mit den Unzulänglichkeiten gängiger Vertragstheorien, insbesondere derer John Rawls, einer der bekanntesten zeitgenössischen Vertragstheoretiker. Nussbaum weist auf drei Bereiche hin, in denen die Theorie Rawls an ihre Grenzen gelangt: Dies umfasst zum einen Menschen mit Behinderung, die Beziehungen von Staaten bzw. die nationale Zugehörigkeit sowie der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Spezies, also den Umgang mit Tieren und Pflanzen. Rawl selbst hat diese Probleme benannt, Martha Nussbaum geht ihnen nun nach. Mit dem mit Amartya Sen entwickelten Fähigkeitenansatz (capability approach), den sie überträgt und erweitert, so dass er nicht mehr nur ökonomisch ausgelegt wird, schlägt sie eine andere Sichtweise vor, die diese Probleme lösen soll.
Diese Arbeit geht der Frage nach, inwiefern diese Thesen haltbar sind. Nussbaum belegt ihre Annahmen anhand einiger Beispiele von Menschen mit geistiger Behinderung, die in den USA leben. Diese Arbeit wird ebenfalls überprüfen, ob diese auf einen Menschen mit geistiger Behinderung, der in Deutschland lebt, übertragbar und daher global sind.
2. Hauptteil
2.1 Martha Nussbaums Kritik an Rawls Theorie der Gerechtigkeit als Fairness
Gerechtigkeitstheorien bedürfen langfristiger Stabilität und müssen daher abstrakt sein. Gleichzeitig müssen sie auf die Gegenwart und die drängendsten Fragen eingehen. Heute werden insbesondere drei Probleme durch die Gerechtigkeitstheorien vernachlässigt: Dies ist zum einen die Gerechtigkeit gegenüber Menschen mit Behinderung, die Gerechtigkeit gegenüber allen Menschen der Welt bzw. unter den Nationalstaaten sowie die Gerechtigkeit gegenüber nichtmenschlichen Tieren (vgl. Nussbaum, 2010, S. 13ff). Eine befriedigende Theorie der Gerechtigkeit muss, so Nussbaum, auch Menschen mit geistiger Behinderung einbeziehen (vgl. Nussbaum, 2010, S. 142). Sie benennt zwei drängende Probleme bezüglich der Gerechtigkeit gegenüber Menschen mit geistiger Behinderung, die gelöst werden müssen: zum einen müssen individuelle Hilfen eingesetzt werden, um einen fairen Umgang zu gewährleisten (vgl. Nussbaum, 2010, S. 143). Sie fordert beispielsweise eine angemessene Schulbildung, um das Potential von Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen zu fördern. Dies könne nach individuellen Gesichtspunkten entweder im Rahmen von Inklusion in eine Schulklasse mit Kindern ohne Behinderung geschehen (in den USA als „mainstreaming“ bezeichnet) oder aber durch Sonderbeschulung (vgl. Nussbaum, 2010, S. 276ff). Zum anderen benötigen die Unterstützer und Helfer von Menschen mit geistiger Behinderung eine Reihe von Dingen. Pflegemütter und Kindergärtnerinnen waren beispielsweise in einer amerikanischen Studie unter den am schlechtesten angesehen Berufen. Nussbaum fordert unter anderem Anerkennung der Leistung als Arbeit, finanzielle und praktische Unterstützung, die Chance auf einen lohnenswerten Job und gesellschaftlicher sowie politischer Teilhabe (vgl. Nussbaum, 2010, S. 143).
Insbesondere bei den sogenannten Vertragstheorien ist das Problem der Vernachlässigung von Menschen mit Behinderung, speziell mit geistiger Behinderung, offensichtlich. Hier wird von Gerechtigkeit ausgegangen, die von einem Gesellschaftsvertrag ausgeht. Dieser wird von den beteiligten Personen auf Augenhöhe geschlossen, bzw. von Menschen, die frei, gleich und unabhängig sind (vgl. Nussbaum, 2010, S. 25ff). Vor diesem Hintergrund benennt Nussbaum zwei vorrangige Kritikpunkte an dieser Theorie: Teilhabe am Gesellschaftsvertrag und seinen Errungenschaften wie z.B. der Gerechtigkeit, sowie das an ökonomischen Gesichtspunkten ausgelegte Leistungsprinzip.
So gehören Menschen mit Beeinträchtigung nicht zur Gruppe der Freien, Gleichen und Unabhängigen, und damit zu denjenigen, die den Vertrag mitentwickeln und über seine grundlegenden Prinzipien mitentscheiden (vgl. Nussbaum, 2010, S. 33). Die Fähigkeit, frei zu sein umfasst zumindest die Fähigkeit, vernünftige moralische Entscheidungen zu verfassen (vgl. Nussbaum, 2010, S. 53). Manche Menschen mit schweren geistigen Behinderungen können selbst bei größtem Wohlwollen an diesen Entscheidungen nicht teilnehmen (vgl. Nussbaum, 2010, S. 35). Der Gesellschaftsvertrag geht von einer Norm aus, an der gemessen wird – Menschen mit Behinderung entsprechen dieser Norm jedoch nicht, sind also nicht gleich (vgl. Nussbaum, 2010, S. 51). Die Behinderung an sich verursacht Abhängigkeiten, wodurch auch das Merkmal der Unabhängigkeit auf Menschen mit Behinderung nicht zutrifft.
Der Gesellschaftsvertrag und seine Vorteile sind für diejenigen Menschen gedacht, die an seinem Beschluss teilhaben konnten, da er um des gegenseitigen Vorteils willen geschlossen wurde. Menschen mit Behinderung sind daher von den Vorteilen ausgeschlossen, wenn sie nicht fähig sind, den Vertrag mitzuentwickeln. Zu den Vorteilen gehören auch Würde und respektvolle Behandlung (vgl. Nussbaum, 2010, S. 37).
Der Gesellschaftsvertrag geht von Vorteilen für beide Seiten aus – diese werden ökonomisch definiert (vgl. Nussbaum, 2010, S. 157ff). Wird der ökonomische Nutzen von Menschen mit geistiger Behinderung für eine Gesellschaft hinterfragt, so wird klar, dass sehr viel mehr Geld in Förderung, Ausbildung und Versorgung dieser Menschen eingebracht wird, als diese jemals erwirtschaften können. Nussbaum benennt den Gewinn für die Gesellschaft in den Beziehungen des Sorgens für Menschen mit geistiger Behinderung an sich, der Achtung ihrer Würde und der Weiterentwicklung ihres menschlichen Potentials unabhängig einer ökonomischen Verwertbarkeit. Weiterhin gewinnt die Gesellschaft durch ein mehr an Vielfalt und einem besseren Verständnis der Menschheit durch Achtung und Reziprozität, auch vor dem Altern und dem Wert der Interaktionen und Beziehungen für die Menschen mit geistiger Behinderung selbst (vgl. Nussbaum, 2010, S. 183ff).
Rawl stellt in seiner Theorie die Frage nach der Behinderung zurück- er möchte erst den Gesellschaftsvertrag aushandeln, und anschließend Menschen mit Behinderung in diese Theorie integrieren. Nussbaum hält dem entgegen, dass sich durch dieses Vorgehen einige Probleme auftuen: So geht dieses Vorgehen von einem Normzustand aus, den Menschen aufweisen (nicht behindert zu sein), ohne allerdings belegen zu können, wodurch sich diese Annahme begründen lässt. Weiterhin ist die Identifikation des Schlechtgestelltesten nur anhand von Gütern und Vermögen nicht auf Menschen mit Behinderung zugeschnitten, ebenso wie die rein ökonomische Definition von Vorteilen für beide Seiten. Nussbaum schlägt hier eine moralische Definition vor, sowie die Idee einer Art „Unfallversicherung“ (vgl. Nussbaum, 2010, S. 157ff). Die Berücksichtigung der Interessen von Menschen mit Behinderung zu einem späteren Zeitpunkt geschehe außerdem nicht aus Gerechtigkeit, sondern aus Wohltätigkeit. Rawl lehnt diese Vorschläge aus verschiedenen Gründen ab, v.a. weil seine Theorie dadurch stark verändert werden würde bzw. elementare Grundlagen nicht standhalten würden (vgl. Nussbaum, 2010, S. 177).
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