Leseprobe
Inhalt
1 Wahrheitsbegriffe der mittelalterlichen Literatur
2 Historizität und Fiktionalität der Rabenschlacht
3 Die Rabenschlacht am Übergang zur Schriftlichkeit
4 Die Rabenschlacht zwischen Scylla und Charybdis
5 Konsequenzen für den Umgang mit historischer Dietrichepik
Literatur
1 Wahrheitsbegriffe der mittelalterlichen Literatur
Das Mittelalter kennt zwei verschiedene Wahrheitsauffassungen: eine tatsächliche rechte Wahrheit und eine moralisch-lehrhafte exemplarische Wahrheit. 1 Beide stellen verschiedene, im Mittelalter gleichberechtigte Sichtweisen auf Geschichte dar und schließen sich noch nicht gegenseitig aus: das Wissen um das historische Detail steht der exemplarischen Situation gegenüber. 2 Die rechte Wahrheit berichtet Fakten, sie hat den Charakter von authentischer Geschichtsschreibung und vertritt auch deren Korrektheitsanspruch. Eine Veränderung des Berichteten in diesem Sinne würde als Fälschung und Lüge aufgefasst. Der moralisch-exemplarischen Wahrheitsauffassung wiederspricht eine Veränderung des Berichteten hingegen nicht. Es kommt hier nicht auf den faktischen Wahrheitsgehalt, sondern auf eine Übereinstimmung des Erzählten mit den gültigen Normen von Moral, Ethik und dem Gerechtigkeitsempfinden an; der Wahrheitsgehalt bemisst sich an der Beispielhaftigkeit und Lehrhaftigkeit: „Je lehrhafter ein Text, desto wahrer.“ 3 Ein solcher Text wird vom Rezipienten nicht mehr bezüglich des Tatsächlichen hinterfragt.
Aus den beiden Wahrheitsbegriffen lassen sich, als vom historischen Sachverhalt abweichende Schilderungen, die bewusste Geschichtsfälschung mit Betrugsabsicht, sowie die Auffassung von Wahrheit als Belehrung und Exempel ableiten. Beide werden auch als Scylla (Geschichtsfälschung) und Charybdis (veränderter Wahrheitsbegriff) bezeichnet. 4
Es kann zunächst davon ausgegangen werden, dass es sich bei der sachlich falschen Darstellung von Ereignissen um eine Veränderung im Sinne des Belehrens um einen normalen und allgemein akzeptierten Vorgang handelt. Joachim Heinzle spricht in diesem Zusammenhang davon, dass ein Text „exemplarisches Interesse für jede Gegenwart“ gewinnt, daher kann er als ein zeitloses Lehrstück, dessen Gültigkeit nicht mehr vom historischen Faktum abhängt funktionieren. 5 Texte dieser Art können, da sie im erwähnten Kontext als wahr gelten und als Lehrstücke fungieren, zur Konstruktion einer gemeinsamen Erfahrungswelt von Geschichte führen. Auf diese Weise können sie entsprechende Erzähltraditionen begründen. Es kommt dann nach Kurt Röttgers in der Folge zu einer intersubjektiven und intertemporalen Gemeinschaftsbildung, die Stabilität bezüglich der vermittelten Normen herstellt und gewährleistet. 6 Dadurch entstehen auch Erzählmuster und - situationen, die später als bekannt voraussetzt und in Verbindung mit allgemein bekannten und akzeptierten literarischen und historischen Figuren für das Erzählen genutzt werden können. 7
2 Historizität und Fiktionalität der Rabenschlacht
Im Bezug auf die Rabenschlacht, lässt sich feststellen, dass das als Vorlage dienende Ereignis nicht korrekt im Sinne der rechten Wahrheit wiedergegeben wird - eine strikte Trennung von Fakten und Fiktion findet nicht statt. 8 Die Rabenschlacht behandelt ein besonders bedeutsames Ereignis der Spätantike bzw. der Völkerwanderungszeit: Die Errichtung des ostgotischen Reiches in Italien durch Theoderich den Großen. 9 Das Weströmische Reich, das mit der Übernahme der Macht durch dem germanischen Offizier Odoaker seine Identität zum Großteil verloren hatte, erlitt seine letzte Niederlage - es ging mit der Eroberung durch Theoderich endgültig unter. 10
Die Figur Dietrich von Bern, die den König der Ostgoten, Theoderich den Großen, zum Vorbild hat, tritt in der Rabenschlacht als Zeitgenosse und Freund Etzels bzw. Attilas des Hunnenkönigs auf, genießt Asyl an dessen Hof und erobert mit dessen Unterstützung Italien. Attila verstarb im Jahre 453, Theoderich wurde vermutlich im Jahre 451 geboren - beide sind daher nicht als Zeitgenossen zu bezeichnen. 11 Als Dietrichs Gegner fungiert die Figur des Ermrich - sie ist in Teilen die Entsprechung des gotischen Königs Ermanarich. Dieser hatte im Jahre 375 den Krieg gegen die Hunnen Attilas verloren und verstarb ein Jahr später, es handelt sich bei ihm also ebenfalls nicht um einen Zeitgenossen Theoderichs. 12
Das Reich Theoderichs, der 474 König der Ostgoten wurde, konnte sich nur während dessen Lebenszeit halten. Nach seinem Tod im Jahre 526 begann der Zerfall, der 552 mit der Niederlage der Ostgoten gegen die oströmische Italienarmee endete. Das Volk der Ostgoten wurde über verschiedene Reiche verstreut und ging schließlich in deren Bevölkerung auf - es hörte auf, als unabhängiges Volk zu existieren. 13 Innerhalb von etwa 200 Jahren hatte das Gebiet des heutigen Italiens zwei radikale Umbrüche erfahren. Die Wandlung Westroms zu einem germanischen Reich hatte unter der Herrschaft Odoakers ihren Höhepunkt erreicht. Gleichzeitig hatte Ostrom damit einen Großteil seiner Identität und militärischen Stärke eingebüßt und war nicht imstande, den Angriff Theoderichs abzuwehren und diesen entscheidend zu Schlagen. 14 Das Oströmische Reich verschwand schließlich endgültig von der politischen Landkarte. Die zweite Zäsur stellt der rasche Zerfall des Ostgotenreiches einhergehend mit der Auflösung des Volkes der Ostgoten nach dem Tode Theoderichs dar. 15
Die Referenzen der Rabenschlacht erstrecken sich auf belegte Ereignisse und Personen. Der Text arrangiert diese neu und stellt sie in einen neuen Zusammenhang, in dem sie ursprünglich nicht gestanden haben. Es werden neue Ursache- und Wirkungsverhältnisse konstruiert, dabei kommt es zu einer Verschmelzung auf Ebene der Interessenlagen und zu einer Synchronisierung der beteiligten Figuren. 16 Den Angriff auf Odoakers Herrschaftsbereich begann Theoderich als römischer Bürger und Heermeister in Diensten der oströmischen Armee im Auftrag und mit Zustimmung des oströmischen Kaisers Zenon; bereits seine Kindheit und Jugend hatte er an dessen Hof in Byzanz verbracht. 17 Es handelte sich also insbesondere nicht um einen Kampf bei dem Theoderich ihm zustehendes Land von einem Usurpator befreien wollte, vielmehr war Theoderich selbst ein Aggressor. Es gelang ihm, zum Gebiet Pannonien, das er 474 von seinem Vater Theodimir geerbt hatte, Italien hinzu zu gewinnen und ein ostgotisches Reich, das Teile des heutigen Frankreichs, Kroatiens sowie ganz Italien 18 umfasste, zu gründen: Nach mehreren Schlachten und einer dreijährigen Belagerung Ravennas war 493 eine vertragliche Herrschaftsteilung zwischen Odoaker und Theoderich beschlossen worden; kurz nach Abschluss dieses Vertrages hatte Theoderich Odoaker bei einem Festmahl ermordet und dessen Familie ebenfalls hinrichten lassen. 19
Allerdings findet Odoaker selbst in der Rabenschlacht keine Erwähnung - seine Position wird durch Ermanarich in Gestalt des erwähnten Ermrich, einen Verwandten Dietrichs, und dessen intriganten Berater Sibich besetzt. 20 Ermanarich hatte sich in der Wahrnehmung der germanischen Stämme und Völker, als er in der Schlacht gegen Attilas Hunnen und mit ihnen verbündete Gruppen von Goten unterlag, zu einem Brudermörder und Verwandtenfeind entwickelt. 21 Durch Odoakers Ersetzung wird der politische Konflikt um Italien zum familiären Problem. Die daraus folgende kriegerische Auseinandersetzung, die in der Schlacht um Ravenna den Höhepunkt findet, gewinnt daraus eine besondere Tragik - sie scheint gerechtfertigt und unvermeidlich. Die fiktionale Umgestaltung leistet auch für die historisch verbürgte Ermordung Odoakers durch Theoderich die moralische Rechtfertigung. Indem Odoaker und Ermanarich zu Ermrich vereint werden, übernimmt diese neu geschaffenen Figur Eigenschaften von beiden und kann sowohl als Odoaker oder Ermanarich agieren. In seiner Stellvertreterrolle für Odoaker ist es nun ebenfalls möglich, Ermanarich nachträglich als Verräter und Verwandtenfeind zu bestrafen und so für Gerechtigkeit zu sorgen: Theoderich tut dies in Gestalt der Sagenfigur Dietrich von Bern. 22 Die Kunstfigur Ermrich übt hier eine Doppelfunktion aus, indem sie zur Rechtfertigung eines tatsächlichen Verbrechens und zur virtuellen Bestrafung einer als Verräter empfundenen historischen Person genutzt wird.
Im Zuge der Synchronisierung der Personen und Ereignisse findet sich Attilas erfolgloser Angriff auf Italien bzw. Weströmische Reich im Jahre 452 nur verschmolzen mit der Eroberung durch Theoderich in den Jahren 488 bis 491 wieder. In der Rabenschlacht tritt Attila in Gestalt des Etzel nur als Truppensteller ohne eigenes Interesse auf, seine einzige Absicht ist es, seinen Freund Dietrich zu unterstützen. Diese Darstellung Etzels als milder, freigiebiger und hilfsbereiter Herrscher steht im Gegensatz zum in Westeuropa vorherrschenden Bild von Attila als gewaltsamem Eroberer und grausamem Herrscher, der bis nach Gallien vorstieß. In Südosteuropa galt er dagegen als Beschützer und wurde als Völkerhirte bezeichnet, daher fügt er sich funktional als literarische Figur in die Dietrichsage ein. Das mächtige Hunnenreich im Osten tritt als Großmacht im Hintergrund auf, eine Bedrohung für die Völker und Reiche Europas scheint von ihm nicht auszugehen. 23 Die Rolle Ostroms als eigentliche Schutzmacht Theoderichs und die Rolle Kaiser Zenons als Unterstützer und Auftraggeber des Italienfeldzuges bleiben unerwähnt. Ostrom hatte an der Beseitigung des, durch seine Eroberung Dalmatiens im Jahr 481 zu einer Gefahr zu werden drohenden Odoaker, ein substanzielles Interesse.
Theoderichs Eroberung Italiens und seine spätere Herrschaft wurde zwischen ihm und Zenon vertraglich vereinbart. 24 Nachdem er Odoaker ermordet und seine Herrschaft gefestigt hatte, herrschte Theoderich daher mit Billigung Ostroms. 25
Im Kollektivgedächtnis der Völker Europas sind diese teils katastrophalen Ereignisse der Völkerwanderungszeit erhalten geblieben und unteranderem durch die mystische und historische bzw. historisierende Dietrichepik verarbeitet und bewältigt worden. 26 Der Prozess der Verarbeitung beinhaltet dabei neben der Vermittlung des faktischen Wissens um die Schlacht in Italien und den Untergang des weströmischen Reiches mit seinen weitreichenden geopolitischen Konsequenzen für Europa 27 auch die Modifikation Abwandelung des Berichteten sowie eine Anreicherung mit fiktionalen Elementen. Als solche sind beispielsweise die Schilderung der vom Kampf glühenden Schwerter 28 der Kämpfer und das Auftreten einer Meerfrau, die in das Geschehen eingreift, zu nennen. 29 Diese fiktionalen Elemente sind aus erzählerischer Sicht praktisch, um den Lauf der Ereignisse nachhaltig zu beeinflussen, ohne dass die Heldenfiguren die übernatürliche Intervention verhindern könnten. Auf diese Weise muss ihre Heldenhaftigkeit der betroffen Figuren vom Rezipienten nicht hinterfragt werden, denn die Geschehnisse haben den Charakter höherer Gewalt bzw. unvermeidlicher Naturereignisse.
Die Nutzbarkeit des Textes als Lehrstück scheint, neben den anderen Dietrichüberlieferungen, auch der Rabenschlacht zu großer Popularität im Rahmen dieser Verarbeitungsprozesse verholfen zu haben.
Dietrich gelingt es, trotz des tragischen Todes seines Neffen und der Söhne Etzels, seine Führungsstärke zu erhalten und die Stadt Ravenna zu erobern. 30 Letztlich erfährt er Gnade durch Etzel und Helche. Beide verzeihen ihm, da er den Tod Scharphes und Ortes nicht selbst verschuldet und mit dem Tod Diethers ebenfalls einen schweren Verlust erlitten hat. 31 Es kommt dadurch in Teilen zu einer Auflösung der Tragik. Diese wird allerdings nicht gänzlich getilgt, es werden Lücken in der Erzählung geschaffen, die einen Freiraum für die Einordnung der tatsächlichen Entwicklungen, die das Volk der Ostgoten erlebte, zulassen: Dietrich kehrt am Schluss der Rabenschlacht nach Panonoien bzw. in Etzels Machtbereich zurück. Über das weitere Geschehen im Italien berichtet die Erzählung nichts Weiteres. Dietrichs Abwesenheit in Italien lässt daher für den mittelalterlichen Rezipienten einen Untergang des dortigen Gotenreiches denkbar werden, ohne dass Dietrich von Bern damit zwingend in einen direkten ursächlichen Zusammenhang gestellt werden müsste. Die Figur des armen Dietrich, der Treue und Standhaftigkeit auch angesichts schwerster Schicksalsschläge bewahrt, kann somit als Vorbild und Volksheld getrennt von dem historischen Theoderich im Rahmen der allgemeinen Erzählschemata und -situationen Fluchtsage mit Treuemotiv, Verwandtenfeindschaft, und der Figur des Völkerhirten Etzel fortbestehen. 32
[...]
1 Vgl. Ebenbauer 1983, S. 60.
2 Vgl. Wenzel 1983, S. 162.
3 Vgl. Ebenbauer 1983, S. 62.
4 Vgl. Ebenbauer 1983, S. 59.
5 Vgl. Heinzle 1999, S. 82.
6 Vgl. Röttgers 1982, S.30 f.
7 Beispielsweise die Exilsituation Dietrichs und die Darstellung Attilas als gütiger Völkerhirte Südosteuropas.
8 Vgl. Lienert 2008, S. 12.
9 Vgl. Heinzle 1999, S. 2.
10 Vgl. Lienert 2008, S. 2, 3, Heinzle 1999, S. 2 ff., Gibbon 1981 S. 622 f.
11 Vgl. Lienert 2008, S. 2.
12 Vgl. Lienert 2008, S. 12.
13 Vgl. Knefelkamp 2003, S. 24 - 26, S. 31.
14 Vgl. Knefelkamp 2003, S. 30.
15 Vgl. Lienert 2008, S. 2.
16 Vgl. Heinzle 1999, S. 5.
17 Vgl. Lienert 2008, S. 2 f., Knefelkamp 2003, S. 29.
18 Vgl. Knefelkamp 2003, S. 29.
19 Vgl. Knefelkamp 2003, S. 31.
20 Strophen 862 und 865 in: Rabenschlacht - Textgeschichtliche Ausgabe, Lienert / Wolter 2005, Vgl. Heinzle 1999, S.68, S. 77.
21 Vgl. Heinzle 1999, S. 5.
22 Vgl. Lienert 2008, S. 17 f.
23 Vgl. Heinzle 1999, S. 5 f., S. 76 f., S. 82.
24 Vgl. Grant 1996, S. 408 f., Knefelkamp 2003, S. 29.
25 Vgl. Grant 1996, 408 f.
26 Vgl. Heinzle 1999, S. 6 f.
27 Vgl. Heinzle 1999, S. 7, Knefelkamp 2003, S. 24 ff.
28 Str. 952.
29 Str. 963.
30 Str. 1014.
31 Str. 1097 - 1098, 1137 - 1139.
32 Vgl. Heinzle 1999, S. 5, 76 f., S. 82, Lienert / Wolter 2005 S. 13.