Psychoanalytische Deutung der Figuren aus Kafkas „Der Verschollene“ als Vertreter der Instanzen Ich, Über-Ich und Es


Seminararbeit, 2010

14 Seiten, Note: 2,0

Sandra K. (Autor:in)


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Freudsche Instanzenmodell
Beschreibung
Relevanz in der Literaturwissenschaft

3. Deutung der Figuren als Vertreter der Instanzen

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Kafkas Fragmentroman „Der Verschollene“ oder auch „Amerika“ (unter diesem Titel erschien der Roman zuerst 1927) beinhaltet viele verschiedene Charaktere.

Der eigentliche Protagonist Karl Roßmann erweckt oft den Eindruck, zwischen dem Einfluss der einzelnen Charaktertypen, sich seiner selbst nicht (mehr) bewusst zu sein. Seine Ansichten, Träume und vor allem sein Wille erscheinen sehr variabel. Aufgrund dieser Beobachtung bietet sich eine psychoanalytische Betrachtungsweise besonders an. Unter dem Freudschen Instanzenmodell lassen sich er selbst und die Personen seines Umfeldes als Vertreter der Instanzen ICH, ÜBER-ICH und ES genauer ventilieren und bieten psychoanalytische Erklärungsansätze für das Verhalten der literarischen Figur des Karl Roßmann.

Die Vielzahl an Romanfiguren lässt einen Fokus auf einzelne, bedeutend wirkende Charaktere sinnvoll erscheinen.

2. Das Freudsche Instanzenmodell

Das Instanzenmodell bietet weitaus mehr psychologische Tiefe als sich hier nun behandeln ließe, weshalb nur eine Beschränkung auf einen groben Überblick über die Instanzen folgt.

Beschreibung

Die Frage nach den Gründen, die ein Individuum ausmacht, haben Freud zu der Entwicklung seines Instanzenmodells gebracht. Dies besagt, dass zwei gegnerische und unvereinbare Instanzen der Persönlichkeit einen ewigen Kampf gegeneinander führen, das ES und das ÜBER-ICH, wobei das Selbst, in seinem Modell ICH genannt, versucht zwischen den beiden gegensätzlichen Instanzen zu vermitteln.

In dem ES liegen die grundlegenden Triebe, die auf unmittelbare Befriedigung drängen und fernab jeglicher Ratio liegen. Das ES wird vom Lustprinzip beherrscht. Den Schwerpunkt hierbei legt es auf sexuelle, körperliche und emotionale Lüste, die ohne Berücksichtigung von Konsequenzen erfüllt werden müssen.

Das ÜBER-ICH versteht sich als Speicher aller Werte, Normen und Moral, wodurch eine gesellschaftliche Prägung vorliegt. „Es versteht sich als innere Stimme des

Sollens und Nicht Sollens.“ (Gerring, Richard J./Zimbardo, Philip G. u.a.: Psychologie. München, 18. Aufl. 2008, S. 5181 )

Ebenso beinhaltet das ÜBER-ICH eine Idealvorstellung des eigenen Selbst, wodurch sich die Konflikte mit dem ES von vornherein schon klar absehen lassen. „Das Es will tun, was sich gut anfühlt, während das Über-Ich darauf besteht, das zu tun, was richtig ist.“ (Psychologie 2008, S. 518)

Das Ich repräsentiert die Sicht auf das materielle und soziale Umfeld und wird vom „Realitätsprinzip“ beherrscht. Es vermittelt zwischen den Instanzen des ES und ÜBER-ICH, indem es Impulse des ES aufgreift, die mit vertretbaren Konsequenzen verbunden sind. Es ist stets um ein ein Gleichgewicht herstellenden Kompromiss bemüht.

Relevanz in derLiteraturwissenschaft

Die Psychoanalyse in der Literaturwissenschaft ist einerseits natürlich darauf bedacht Interpretationsansätze für das Verhalten und Handeln der Figuren eines literarischen Textes zu finden, um dieses besser nachvollziehen zu können. Auch die Psyche des Autors lässt sich durch dieses Verfahren genauer ventilieren. Eine dritte Komponente bietet der Leser, der auf das Geschriebene in irgendeiner Weise reagieren wird. Die Kombination dieser drei Aspekte kann auf spezifische Themen, Motive und Strukturen des Textes verweisen, die einer psychoanalytisch fernen Interpretation womöglich entgehen.

3. Deutung der Figuren als Vertreter der Instanzen

Der Ausgangspunkt der folgenden Analyse soll der Protagonist Karl Roßmann sein. Daher liegt es nahe ihn als Mittelpunkt, das ICH, zu deklarieren. Das ICH beinhaltet sowohl ÜBER-ICH als auch ES, was auch Berücksichtigung finden sollte.

In dem Fragmentroman spiegeln sich, die sonst im ICH integrierten Instanzen im Umfeld des Karl Roßmann wider.

Vor dem eigentlichen Romanbeginn, später in einer Rückblende ersichtlich, liegt der Grund für die Amerikareise des Protagonisten verborgen. Das ES wird durch das Dienstmädchen, welches in seinem Elternhaus eingestellt war, Johanna Brummer symbolisiert. Es „verführte“ mit gewalttätiger Penetranz das ICH, des jungen Karl.

Einmal aber sagte sie „Karl!“ und führte ihn, der noch über die unerwartete Ansprache staunte, unter Grimassen seufzend in ihr Zimmerchen, das sie zusperrte. Würgend umarmte sie seinen Hals als während sie ihn bat sie zu entkleiden, entkleidete sie in Wirklichkeit ihn und legte ihn in ihr Bett[...]drückte ihren nackten Bauch an seinen Leib, suchte mit der Hand, so widerlich daß Karl Kopf und Hals aus dem Kissen heraus schüttelte, zwischen seinen Beinen, stieß dann den Bauch einigemale gegen ihn, ihm war als sei sie ein Teil seiner selbst und vielleicht aus diesem Grunde hatte ihn eine entsetzliche Hilfsbedürftigkeit ergriffen. Weinend kam er endlich nach vielen Wiedersehenswünschen ihrerseits in sein Bett. (Kafka, Franz: Der Verschollene. Frankfurt am Main, erste Auf! Juni 20082, S. 35f)

An dieser Textstelle zeigt sich der „Lust und Aggressions-Anteil (in Freuds Terminologie: Die Sexualität) der Persönlichkeit“ (De Berg, Henk: Freuds Psychoanalyse in der Literatur- und Kulturwissenschaft. Tübingen, 20053, S.58), welche das ES ausmacht. Das Dienstmädchen führt ihn in ein separates Zimmer und schottet Karl somit von seinem Umfeld ab. Das Zusperren der Tür zeigt das Ausgrenzen des ÜBER-ICH, welches den natürlichen Gegenpol zum ES bildet und für eine Balance sorgt. So kann sich diese Instanz frei entfalten. „Das ES diskutiert nicht und überlegt nicht, kennt keine Werte oder Regeln, es beachtet weder Verstand noch Logik. Es ist pure Begierde.“ (De Berg 2005, S. 58)

Das ÜBER-ICH im Gegenzuge übernehmen die Eltern, die ihren Sohn „beiseitegeschafft haben, wie man eine Katze vor die Tür wirft, wenn sie ärgert.“ (Der Verschollene 2008, S. 33)

„Das ÜBER-ICH umfasst jene Normen, Werte und Ideale, die durch Erziehung und Bildung erworben wurden.“ (De Berg 2005, S. 58)

Da Eltern gewöhnlich für die ersten Lebensjahre ihrer Kinder ohnehin das ÜBERICH darstellen, welches sich erst noch bilden muss, und die Erziehung und damit auch einen Großteil der Wertevermittlung übernehmen, liegt diese Wahl nahe. Auch die sehr hart ausfallende Strafe des Verstoßes, die komplett überzogen scheint, spricht für die Charakteristika des ÜBER-ICHs.

Das ÜBER-ICH ist ein absolutistischer Herrscher: Geringfügige Überschreitungen, zufällige Ausrutscher, kurzfristige Ausnahmen oder gut gemeinte Kompromisse werden nicht toleriert. Allein schon der Gedanke daran, diese Grenze zu überschreiten, wiegt für das Über-Ich schon so schwer wie die tatsächliche Überschreitung. (De Berg 2005, S. 62)

Im weiteren Verlauf des Romans nehmen andere Figuren in Karls Umfeld die Rolle des ES und ÜBER-ICH ein, jedoch bleibt der Einfluss weiter bestehen, was an einzelnen Textpassagen deutlich wird.

Als ihm der Vater den Koffer für immer übergeben hatte, hatte er im Scherz gefragt: Wie lange wirst du ihn haben? und jetzt war dieser teure Koffer vielleicht schon im Emst verloren. Der einzige Trost war noch, daß der Vater von seiner jetzigen Lage nicht das allergeringste erfahren konnte [...] der Anzug, den er anhatte war sogar besser, als jener im Koffer, der eigentlich nur ein Notanzug war, den die Mutter noch knapp vor der Abreise hatte flicken müssen. Jetzt erinnerte er sich auch, daß im Koffer ein Stück Veroneser Salami war, die ihm die Mutter als Extragabe eingepackt hatte, von der er jedoch nur den kleinsten Teil hatte aufessen können, da er während der Fahrt ganz ohne Appetit gewesen war und die Suppe, die im Zwischendeck zur Verteilung kam, ihm reichlich genügt hatte. (Der Verschollene 2005, S. 14f)

Trotz räumlicher Distanz werden durch Assoziationen, in diesem Falle der Koffer, Erfahrungen und Gefühle geweckt, die durch das ÜBER-ICH ausgelöst, noch im ICH nachklingen.

Eine andere und doch sehr bedeutende Figur, der Karl begegnet, ist der Heizer.

Dieser weckt sofort das Interesse des jungen Reisenden und das Gefühl von Vertrautheit entsteht recht schnell. „Ich sollte mich vielleicht an diesen Mann halten, gieng es Karl durch den Kopf, wo finde ich gleich einen bessern Freund.“ (Der Verschollene 2008, S. 11) Eine Rolle als ES oder ÜBER-ICH scheint nicht ganz zutreffend. Viel eher wirkt er wie ein zweites ICH, das mit Karl in Dialog tritt.

„Und jetzt haben Sie auch noch den Koffer verloren. Vom Regenschirm rede ich gar nicht“, und der Mann setzte sich auf den Sessel, als habe Karls Sache jetzt einiges Interesse für ihn gewonnen. „Ich glaube aber, der Koffer ist noch nicht verloren.“ „Glauben macht selig.“, sagte der Mann und kratze sich kräftig in seinem dunklen Haar. (Der Verschollene 2008, Sil)

Gelegentlich entsteht der Eindruck eines inneren Monologes, wodurch das Gespräch mit dem Heizer eher Karls innere Unentschlossenheit und Unsicherheit nach Außen trägt.

„Da muß ich aber doch gleich hinaufschauen“, sagte Karl und sah sich um wie er herauskommen könnte. „Bleiben Sie nur“, sagte der Mann und stieß ihn mit einer Hand geradezu rau ins Bett zurück. „Warum denn?“ fragte Karl ärgerlich. „Weil es keinen Sinn hat“, sagte der Mann. „In einem kleinen Weilchen gehe ich auch, dann gehen wir zusammen. Entweder ist der Koffer gestohlen, dann ist keine Hilfe und Sie können ihm nachweinen bis an das Ende Ihrer Tage oder der Mensch bewacht ihn noch immer, dann ist er ein Dummkopf und soll weiter wachen oder er ist bloß ein ehrlicher Mensch und hat den Koffer stehn gelassen, dann werden wir ihn bis das Schiff ganz entleert ist, desto besser finden. (Der Verschollene 2008, S. 12)

„Das ICH umfasst dabei mehr als nur die bewusste und vorbewusste Persönlichkeit.“

[...]


1 Künftig zitiert als „Psychologie 2008“

2 Künftig zitiert als „Der Verschollene 2008“

3 Künftig zitiert als „De Berg 2005“

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Psychoanalytische Deutung der Figuren aus Kafkas „Der Verschollene“ als Vertreter der Instanzen Ich, Über-Ich und Es
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Note
2,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
14
Katalognummer
V196411
ISBN (eBook)
9783656373179
ISBN (Buch)
9783656373636
Dateigröße
540 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kafka, Amerika, Der Verschollene, Psychoanalyse, Freud, Instanzenmodell, Karl Roßmann, Heizer, Es, Ich, Über-Ich
Arbeit zitieren
Sandra K. (Autor:in), 2010, Psychoanalytische Deutung der Figuren aus Kafkas „Der Verschollene“ als Vertreter der Instanzen Ich, Über-Ich und Es, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/196411

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