Als Christian Wulff kürzlich seinen Rücktritt erklärte, freute ich mich. Dann las ich die
Schlagzeile „Migrantenverbände bedauern Wulffs Rückblick“ und stutzte. „Er war der
Präsident, den die Migranten brauchten“ (O. Verf. 2012), las ich weiter und fragte mich: war er
das wirklich?
Für mich persönlich war der Bundespräsident Christian Wulff vor allem eines: blass. Erst recht,
wenn er von der „bunten Republik“ (Wulff 2010) schwärmte. Seine Reden erschienen mir wie
eine Aneinanderreihung ausgedienter Werbesprüche. Gespickt mit Einwortphrasen und
abgedroschenen Weisheiten war auch seine Rede zum Tag der Deutschen Einheit 2010. Wollte er
Geschichte als Integrationsheld der Nation machen? Oder nur das Maß an Anerkennung
bekommen, das einem Bundespräsidenten qua Amt zusteht?
Einige Muslime in Deutschland taten ihm den Gefallen, sie sprachen fortan nur noch von ihrem
Präsidenten. Kein Wunder, immerhin hatte Wulff sich ihnen mit imponierender Offenheit und
ungewöhnlichem Mut zugewandt. Er hatte ihnen zugerufen: „Ja, natürlich bin ich ihr Präsident!
Und zwar mit der Leidenschaft und Überzeugung mit der ich der Präsident aller Menschen bin,
die hier in Deutschland leben“ (ebda). Dass Wulff hier recht Banales in schwülstiges Gewand
kleidete, störte die Applaudierenden offenbar nicht. [...]
Ein Versuch
Als Christian Wulff kürzlich seinen Rücktritt erklärte, freute ich mich. Dann las ich die
Schlagzeile „Migrantenverbände bedauern Wulffs Rückblick“ und stutzte. „Er war der
Präsident, den die Migranten brauchten“ (O. Verf. 2012), las ich weiter und fragte mich: war er das wirklich?
Für mich persönlich war der Bundespräsident Christian Wulff vor allem eines: blass. Erst recht, wenn er von der „bunten Republik“ (Wulff 2010) schwärmte. Seine Reden erschienen mir wie eine Aneinanderreihung ausgedienter Werbesprüche. Gespickt mit Einwortphrasen und abgedroschenen Weisheiten war auch seine Rede zum Tag der Deutschen Einheit 2010. Wollte er Geschichte als Integrationsheld der Nation machen? Oder nur das Maß an Anerkennung bekommen, das einem Bundespräsidenten qua Amt zusteht?
Einige Muslime in Deutschland taten ihm den Gefallen, sie sprachen fortan nur noch von ihrem Präsidenten. Kein Wunder, immerhin hatte Wulff sich ihnen mit imponierender Offenheit und ungewöhnlichem Mut zugewandt. Er hatte ihnen zugerufen: „Ja, natürlich bin ich ihr Präsident! Und zwar mit der Leidenschaft und Überzeugung mit der ich der Präsident aller Menschen bin, die hier in Deutschland leben“ (ebda). Dass Wulff hier recht Banales in schwülstiges Gewand kleidete, störte die Applaudierenden offenbar nicht.
Harsche Kritik für seine Islamfreundlichkeit musste Wulff aus den eigenen Reihen einstecken.
Der bayrische Innenminister Joachim Hermann korrigierte Wulff schroff: „Deutschland will den Islam nicht integrieren, sondern seine kulturelle Identität bewahren“. Und auch Hans-Peter Friedrich legte Widerspruch ein: „Dass der Islam zu Deutschland gehört, ist eine Tatsache, die sich auch aus der Historie nirgends belegen lässt (zitiert nach Drobinski & Preuß 2010).
Heute, knapp zwei Jahre nach Wulffs vielfach diskutierter Rede und zwei Monate nach seinem Rücktritt, ist zu konstatieren: Aus konservativer Seite hagelte es Kritik, der breiten Öffentlichkeit jedoch bleibt Wulff als musterhafter Integrationspräsident in Erinnerung. Zeit also Bilanz zu ziehen und zu fragen: Treffer oder Trugschluss? Hat Wulff tatsächlich einen konstruktiven Beitrag zur Integrationsdebatte geleistet? Ist es ihm gelungen, sein „Herzensanliegen“ in die Tat umzusetzen und „den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu stärken“ (Wulff 2012)?
Meine kritische Vermutung lautet, Wulffs Beitrag zur Integrationsdebatte war kontraproduktiv. Die Semantik seiner politischen Reden mobilisiert gerade jene xenophoben Kräfte, die eine gelungene Integrationspolitik verhindern. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, Integrationsdebatten besänftigen nicht, sie laufen vielmehr Gefahr, eine Herausforderung ungewollt zu dramatisieren. Die geforderte Toleranz sowie der gewünschte Pluralismus bleiben aus. Und so geht Wulffs Bild der bunten Republik zwar in die Geschichte ein, jedoch als leere Hülse und nicht als gelebte Wirklichkeit.
„Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei
zu Deutschland. Das ist unsere christliche-jüdische Tradition. Aber der Islam gehört
inzwischen auch zu Deutschland.“ (Wulff 2010)
So lautet die Passage der Präsidentenrede zum Tag der Deutschen Einheit 2010, die intensiv
diskutiert, kritisiert und interpretiert wurde. Verwunderlich ist das nicht, eine solch schillernde
Aussage will mehrfach gedeutet werden, und: sie muss. Zunächst können die vier Sätze als
deskriptive Aussage gelesen werden: Christian Wulff beschreibt eine Tatsache, die allgemein
nachvollzogen und gleichfalls überprüft werden kann.
Der Satz, auf den es Wulff ankommt, stellt er ans Ende seines kleinen Ausflugs in die deutsche Religionsgeschichte: „Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“. Dass Wulff hier abrupt aus seiner historischen Erzählung in die soziopolitische Realität springt, macht seine Rede keinesfalls unglaubwürdig. Schließlich spricht Wulff nicht als Religionswissenschaftler, sondern als Politiker. Er macht das zum Thema, was die Menschen derzeit in Deutschland wahrnehmen und bewegt: Mitten unter uns leben Muslime, die ihre Religion oftmals ziemlich ungehemmt in der Öffentlichkeit ausleben. Der Islam ist von auffälliger Präsenz. Das ist eine Tatsache, ob man sie für gut oder schlecht hält. In Zahlen gefasst: Etwa vier Millionen Muslime leben dauerhaft in Deutschland und bilden die zweitgrößte Religionsgemeinschaft im Lande.
Erhellend muss Wulffs scharfsichtige Status-Quo-Analyse besonders für diejenigen gewesen
sein, die sich lange Zeit eingebildet hatten, der Islam verschwinde schon wieder aus
Deutschland. Ärgerlich hingegen war die Aussage für alle, die gehofft hatten, der
Bundespräsident würde darauf hinweisen, dass der Islam kein monolithischer Block ist, sondern sich durch seine Vielgestaltigkeit auszeichnet. Ihnen sollte man ans Herz legen, Wulff nicht zu viel abzuverlangen. Schließlich ist dieser, wie bereits erwähnt, kein Wissenschaftler, der differenziert analysieren soll, sondern ein Politiker, der sich einer breiten Hörerschaft
verständlich machen muss.
Mit feinem Gespür für chronologische Ordnung beginnt Wulff seine Islam-Passage: „Das
Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland“. Auch das ist wohl war. Das Christentum hat
unsere Kultur über mehr als anderthalb Jahrtausende entscheidend mitgeprägt. Unsere Kunst,
Literatur und Musik wurden lange Zeit aus christlichen Wurzeln gespeist. Auch das ist eine
Tatsache, selbst wenn sie nur selten bewusst wahr genommen wird.
Manch ein Christ wird reflexartig ergänzen wollen, dass sich das Christentum nicht
vereinnahmen lässt. Weder von der Christlich Demokratischen Union noch von sonst einer
Partei. Schließlich beruht das Christentum nicht auf einem Parteibuch, sondern auf dem
Evangelium, einer radikal kulturkritischen Schrift. Nein, mit Jesus, dem Rabbi aus Nazareth,
lässt sich politische Herrschaft nicht legitimieren und keine Leitkultur begründen! Auch das hätte Christian Wulff erwähnen können – doch er tut es nicht.
Stattdessen fährt er fort „Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland“. Zweifelsfrei?
Wieder scheint Wulff eine Kleinigkeit vergessen zu haben: Das Jüdische galt hierzulande lange Zeit als das Un deutsche, war Jahrzehnte der Inbegriff des Nicht -Deutschen! Vor noch nicht einmal achtzig Jahren gipfelte die Ausgrenzung der Juden im nationalsozialistischen
2Völkermord. Klingt Wulffs „Zweifelsfrei“ da nicht nach Zynismus und seine
Geschichtserzählung nicht nach Geschichtsvergessenheit?
Wulff fährt fort, selbstbewusst und stolz erklärt er: „Das ist unsere christlich-jüdische
Tradition“. Mit empörten Reaktionen hatte er an dieser Stelle wahrscheinlich nicht gerechnet.
Doch schnell melden sich Experten zu Wort. Almut Bruckstein Çoruh etwa erhebt Einspruch und nennt die christlich-jüdische Tradition „eine Erfindung der europäischen Moderne und ein
Lieblingskind der traumatisierten Deutschen“ (Bruckstein Çoruh 2010). Gemeinsam mit einer
Gruppe jüdischer und islamischer Gelehrten hat die Philosophin ein Projekt initiiert, welches
sich mit den komplexen Verflechtungen europäischer, jüdischer, arabischer, islamischer und
persischer Traditionen auseinandersetzt.
Wulff hätte gut daran getan, diese Gruppe jüdisch-islamischer Intellektuellen vor seiner großen Rede zu treffen und seine Wissenslücken in Religionsgeschichte zu füllen. Vielleicht aber hätte es auch schon ein Crash-Kurs zur christlich-jüdischen Tradition getan, zum Beispiel beim jüdischen Publizisten Henryk M. Broder. Der bekam leider erst nach der gehaltenen Rede die Gelegenheit, Wulff pointiert zu erklären, dass der Bindestrich der jüdisch-christlichen Geschichte „vor allem eine Geschichte der Glaubenskriege, der Unterdrückung, des Antisemitismus und der Gewalt war, vom Holocaust zu schweigen“ (Broder & Mohr 2010)
[...]
- Quote paper
- Anne-Marie Geisthardt (Author), 2012, „Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“ – und Christian Wulff zur Vergangenheit. Wohin jetzt mit der Integrationsdebatte?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/196432