EINLEITUNG
In Deutschland befindet sich in der heutigen Zeit in etwa jedem dritten Haushalt ein Haustier (vgl. Industrieverbands Heimtierbedarf 2011). Tiere existieren in allen Gesellschaftsschichten und begleiten Menschen verschiedenen Alters (vgl. ebd.). In pädagogischen und therapeutischen Handlungsfeldern steigt die Präsenz von Tieren ebenfalls (vgl. Buchner-Fuhs / Rose 2012 / i. E., S. 12 f.): Tiere erhalten Einzug in Einrichtungen und Projekte. Außerdem werden gezielte tiergestützte Interventionen durchgeführt. Vor diesem Hintergrund stellen sich die Fragen, welche Möglichkeiten Tiere für die Disziplin „Soziale Arbeit“ bringen und welche Risiken und Grenzen bestehen.
Zur Klärung dieser Fragen wird vordergründig die Mensch-Tier Beziehung analysiert. Hierfür wird die historische und gesellschaftliche Entwicklung des Mensch-Tier-Verhältnisses betrachtet. Darauf aufbauend werden Erklärungsansätze aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zu der Mensch-Tier-Beziehung erläutert und Verhaltensaspekte der Menschen und Tiere in der Beziehung zueinander konkretisiert. Auf dieser Basis werden verschiedene Bereiche tiergestützter Interventionen aufgezeigt. Im Folgenden wird der Einsatz von Tieren in der Sozialen Arbeit untersucht und weitere Berührungspunkte aufgezeigt. Abschließend werden die durch Tiere gebotenen Möglichkeiten und die in diesem Zusammenhang existierenden Grenzen reflektiert.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Mensch-Tier-Beziehung im historischen Kontext
2.1 Geschichtliche Entwicklung
2.1.1 Beginn der Menschheit
2.1.2 Beginn der Landwirtschaft
2.1.3 Zeitalter der Antike
2.1.4 Verbreitung des Christentums
2.1.5 Franz von Assisi und Thomas von Aquin - 13. Jahrhundert
2.1.6 Zeitalter der Renaissance
2.1.7 René Descartes - 17. Jahrhundert
2.1.8 Jean-Jacques Rousseau - 18. Jahrhundert
2.1.9 Charles Darwin - 19. Jahrhundert
2.1.10 Albert Schweitzer - 20. Jahrhundert
2.1.11 Zeitalter der Industrialisierung
2.2 Zusammenleben mit Tieren in der heutigen Gesellschaft
2.3 Fazit
3 Theoretische Erklärungsansätze der Mensch-Tier-Beziehung
3.1 Soziobiologischer Erklärungsansatz: Biophilie
3.2 Psychologischer Erklärungsansatz I: Du-Evidenz
3.3 Psychologischer Erklärungsansatz II: Ableitungen aus der Bindungstheorie
3.3.1 Bindungstheoretische Grundlagen
3.3.2 Bindungen zwischen Menschen und Tieren
3.4 Biologischer Erklärungsansatz: Konzept der Spiegelneuronen
3.5 Philosophischer Erklärungsansatz: Subjekttheorie
3.6 Sozialpädagogischer Erklärungsansatz: Lebensqualität
3.7 Fazit
4 Verhaltensaspekte der Mensch-Tier-Beziehung
4.1 Anthropomorphismus
4.2 Interaktion
4.3 Kommunikation
4.3.1 Digitale und analoge Kommunikation
4.3.1.1 Digitale Kommunikation
4.3.1.2 Analoge Kommunikation
4.3.2 Dialogebenen
4.3.2.1 Optische Kommunikation
4.3.2.2 Akustische Kommunikation
4.3.2.3 Haptische Kommunikation
4.3.2.4 Olfaktorische Kommunikation
4.4 Fazit
5 Tiergestützte Interventionen
5.1 Entstehungsgeschichte tiergestützter Interventionen
5.2 Begriffliche Klärung der Bereiche tiergestützter Interventionen
5.2.1 Begriffe im anglo-amerikanischen Raum
5.2.1.1 Animal-Assisted Activities (AAA)
5.2.1.2 Animal-Assisted Therapy (AAT)
5.2.2 Begriffe im deutschsprachigem Raum
5.2.2.1 Tiergestützte Aktivität (TG A)
5.2.2.2 Tiergestützte Förderung (TG F)
5.2.2.3 Tiergestützte Pädagogik (TG P)
5.2.2.4 Tiergestützte Therapie (TG T)
5.2.2.5 Kritik
5.3 Zielgruppen
5.4 Geeignete Tiere
5.5 Fazit
6 Tiere in der Sozialen Arbeit
6.1 Tätigkeitsfelder der Sozialen Arbeit
6.2 Entwicklung der tiergestützten Sozialen Arbeit
6.3 Tiergestützte Interventionen in der Sozialen Arbeit
6.3.1 Tiergestützte Kurzzeittherapie für Menschen mit Behinderung
6.3.2 Resozialisierung in der Jugendstrafanstalt Neustrelitz
6.3.3 Tiergestützte Pädagogik an der Petri Grundschule
6.4 Berührungspunkte der Sozialen Arbeit mit Tieren
6.5 Fazit
7 Möglichkeiten und Grenzen
7.1 Tiere als Unterstützung und Ressource
7.1.1 Personale Ressourcen
7.1.2 Soziale Ressourcen
7.2 Risiken des Tierkontaktes bzw. der Tierhaltung
7.3 Tierschutz
7.4 Das „doppelte Mandat“ der Sozialen Arbeit
7.5 Idealisierung tiergestützter Interventionen
7.6 Professionalitätsproblem in der tiergestützten Sozialen Arbeit
7.7 Fazit
8 Schlussbetrachtung und Ausblick
9 Quellenverzeichnis
9.1 Internet
1 Einleitung
In Deutschland befindet sich in der heutigen Zeit in etwa jedem dritten Haushalt ein Haustier (vgl. Industrieverbands Heimtierbedarf 2011). Tiere existieren in allen Ge- sellschaftsschichten und begleiten Menschen verschiedenen Alters (vgl. ebd.). In pädagogischen und therapeutischen Handlungsfeldern steigt die Präsenz von Tieren ebenfalls (vgl. Buchner-Fuhs / Rose 2012 / i. E., S. 12 f.): Tiere erhalten Einzug in Einrichtungen und Projekte. Außerdem werden gezielte tiergestützte Interventionen durchgeführt. Vor diesem Hintergrund stellen sich die Fragen, welche Möglichkei- ten Tiere für die Disziplin „Soziale Arbeit“ bringen und welche Risiken und Grenzen bestehen.
Zur Klärung dieser Fragen wird vordergründig die Mensch-Tier-Beziehung analy- siert. Hierfür wird die historische und gesellschaftliche Entwicklung des Mensch- Tier-Verhältnisses betrachtet. Darauf aufbauend werden Erklärungsansätze aus ver- schiedenen Wissenschaftsdisziplinen zu der Mensch-Tier-Beziehung erläutert und Verhaltensaspekte der Menschen und Tiere in der Beziehung zueinander konkreti- siert. Auf dieser Basis werden verschiedene Bereiche tiergestützter Interventionen aufgezeigt. Im Folgenden werden der Einsatz von Tieren in der Sozialen Arbeit un- tersucht und weitere Berührungspunkte erläutert. Abschließend werden die durch Tiere gebotenen Möglichkeiten und die in diesem Zusammenhang existierenden Grenzen reflektiert.
Mit „Tieren“ sind in dieser Arbeit höhere Tierarten gemeint. Auf kulturelle Einflüsse und Differenzen wird nicht detailliert eingegangen, da dies als eigenständiges Thema zu betrachten ist und den Rahmen dieser Arbeit übersteigen würde. Sofern nicht anders gekennzeichnet, beziehen sich alle Ausführungen auf den europäischen Raum.
Oftmals sind Tiere Gegenstand von Abschlussarbeiten sozialpädagogischer Studien- gänge. Jedoch „… enden die Abschlussarbeiten trotz großen Fleißes und Engage- ments (oft) mit einem für alle Beteiligten unbefriedigendem (!) Ergebnis …“ (Spies 2012 / i. E., S. 115 f.). „Für die betreuenden und benotenden DozentInnen sind sie nicht immer Grund zur Freude …“ (Buchner-Fuhs / Rose 2012 / i. E., S. 11). Als Problem wird die Literaturlage genannt, „… die die Studierenden auf fragwürdige Fährten bringen kann“ (Buchner-Fuhs / Rose 2012 / i. E., S. 11). Vor diesem Hinter- grund erscheint das Verfassen einer Bachelorthesis zu diesem Thema gewagt. In dieser Arbeit wird daher kein Leitfaden zur Durchführung tiergestützter Sozialer Arbeit erstellt. Viel mehr werden die Gründe für die Verwendung von Tieren erläutert, die aktuelle Situation beschrieben und kritische Reflektionen beleuchtet.
2 Die Mensch-Tier-Beziehung im historischen Kontext
Um die Komplexität der Beziehung zwischen Mensch und Tier zu verdeutlichen, wird in diesem Kapitel die geschichtliche Entwicklung des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier erläutert. Nach einer chronologisch angeordneten Ausarbeitung der in der Vergangenheit vollzogenen Praktiken und Denkweisen wird im zweiten Teil dieses Kapitels auf das heutige Zusammenleben von Menschen mit Tieren ein- gegangen. In einem abschließenden Fazit wird die Entwicklung der Mensch-Tier- Beziehung zusammengefasst und bewertet. Dabei wird besonders auf das Zusam- menleben von Tieren und Menschen in der heutigen Gesellschaft eingegangen.
2.1 Geschichtliche Entwicklung
Seit Anbeginn der Menschheit leben Menschen mit Tieren zusammen. Das Verhält- nis zwischen Mensch und Tier hat sich im Laufe der Jahrhunderte stark verändert. Dies betrifft sowohl Veränderungen in der Art und Weise des Zusammenlebens, als auch Veränderungen der menschlichen Einstellung dem Tier gegenüber (vgl. Körner 1996, S. 32).
2.1.1 Beginn der Menschheit
In den ersten Jahren der Menschheit war der Mensch als Jäger und Sammler der Natur eng verbunden. Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier war kein von Überlegenheit geprägtes. Tiere galten als gleichwertige „Mitgeschöpfe“ (vgl. Münch 2001, S. 21). „… der Mensch (konnte) stets gleichzeitig auch ein Tier sein, wie umgekehrt Tiere gleichzeitig als Erscheinungsformen lebender Menschen galten“ (Greiffenhagen, Buck-Wernern 2007, S. 17). Später im Paläolithikum (Altsteinzeit) übernahm der Mensch mehr und im Mesolithikum (Mittelsteinzeit) fast vollständig die Jägerrolle in der Jäger- / Beute- Beziehung (vgl. ebd.).
Tiere dienten dem Menschen hauptsächlich als Nahrungs- und Kleidungslieferant, aber auch als Vorbild für einige Verhaltensmuster, z.B. das Anschleichen (vgl. Bökönyi 1985, S. 75 f.). Da der Erfolg der Jagd auch von dem Wissen über das Tier abhängig war, studierten Jäger das Verhalten der Jagdtiere intensiv. So wurden Kenntnisse über Tagesrhythmus, Herdenstruktur, Paarungsverhalten und Paar- ungs-, Trag- und Wurfzeiten erlangt. Ebenso bedeutsam waren Anatomie, Biologie und Physiologie der Beutetiere (vgl. ebd.). Das Wissen, das aus diesen Studien ge- wonnen wurde, diente zuerst nur der Spezialisierung der Jagd und Weiterentwick- lung des Jagdtypus.
2.1.2 Beginn der Landwirtschaft
Als die Menschen anfingen, sesshaft zu werden und begannen, Land- und Viehwirt- schaft zu betreiben, war das bis dahin erworbene Wissen sehr hilfreich für die Do- mestikation von Tieren. Zu dieser Zeit traten erste große Veränderungen in dem Verhältnis zwischen Menschen und Tieren ein. „Die Nutzbarmachung von Acker- böden und die Haltung von Tieren nahmen erheblichen Einfluss auf die bis dahin friedliche Koexistenz“ (Frömming 2006, S. 4). Mit der Domestikation erlangten die Menschen eine Art Dauerherrschaft über das Tier (vgl. Münch 2001, S. 21). Sie ent- schieden nicht nur über Leben und Tod der eigenen Tiere, sondern züchteten durch präzise Auswahl Tiere, die gut für das Zusammenleben mit Menschen geeignet wa- ren. Der Mensch hatte von nun an Verantwortung für das Wohl seiner Tiere und ein Tier konnte erstmals ein Partner für den Menschen sein (vgl. Frömming 2006, S. 5). Körner (1996, S. 32) sieht dieses Verhältnis zwischen zwei Polen: „… der Verwen- dung, der Kontrolle einerseits und der Sehnsucht nach dem ,Bruder Tier‘, der Hin- gabe andererseits.“
2.1.3 Zeitalter der Antike
Im Zeitalter der Antike prägten einige Vorsokratiker, wie z.B. Pythagoras, Platon und Aristoteles die Einstellung der Menschen zu Tieren (vgl. Münch 2001, S. 22). Pythagoras schrieb nicht nur Menschen, sondern auch Tieren Vernunft zu (ebd.). Ebenso wie Platon ging er davon aus, dass die Seelen verstorbener Menschen auf Tiere übergingen. Aus diesem Grund verachtete er den Verzehr von Fleisch und er- mutigte seine Schüler, Tiere respektvoll zu behandeln (vgl. Kaplan 2006, S. 5).
Die einflussreichste Schule zu jener Zeit war die von Aristoteles, einem Schüler von Platon (vgl. Kaplan 2006, S.5). Er vertrat die Meinung, dass Tiere zum Zwecke des Menschen existierten. Dies ließe sich durch eine Hierarchie in der Natur erklären. Demnach seien jene mit geringen Verstandeskräften zum Nutzen derer mit größeren Verstandeskräften da (vgl. Singer 1982, S. 210). D.h. Pflanzen existierten für Tiere und Tiere für Menschen. Mit dieser Sichtweise wurde nicht nur die untergeordnete Stellung des Tieres begründet, sondern gleichzeitig auch eine Legitimation für dessen Unterwerfung geschaffen (vgl. Otterstedt 2003a, S. 20).
2.1.4 Verbreitung des Christentums
Mit der Verbreitung des Christentums verstärkte sich die Herrschaft der Menschen über Tiere. Der Gott der Juden und später der Christen setzte die Menschen über alle anderen Lebewesen. Die Wurzel des christlichen Glaubens ist der Schöpfungs- gedanke: Gott habe die Erde, Menschen, Tiere und Pflanzen geschaffen. Dem Men- schen als Krone der Schöpfung sei alles andere Leben auf der Welt untergeben (vgl. Frömming 2006, S. 8).
Und Gott sprach: Laßt (!) uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. (Gen 1, 26-30)
Demnach bestimme der Schöpfergott, dass die Menschen über Tiere herrschen könnten. Interessant ist die Frage nach der Umsetzung dieser Macht. Der Psycho- analytiker und Erziehungswissenschaftler Jürgen Körner (1996, S. 36) schreibt dazu: „Der Mensch solle liebevoll und barmherzig mit Tieren umgehen, und zwar in dem Sinne, wie er selbst auf die Barmherzigkeit Gottes vertrauen dürfe“. Von einem gu- ten Vertrauensverhältnis zwischen Mensch und Tier wird in einigen Gleichnissen erzählt. So galt Noah als Erretter für die von der Sintflut bedrohte Tierwelt und in der Weihnachtsgeschichte war es ein Esel, mit dessen Hilfe Maria und Joseph den Tierstall als Herberge erreichten. An weiteren Stellen wird der Umgang mit Tieren beschrieben. So stand z.B. am siebten Tag nicht nur dem Menschen, sondern auch dem Tier eine Ruhepause zu: „Sechs Tage sollst du deine Arbeit tun; aber des sieben- ten Tages sollst du feiern, auf dass dein Ochs und Esel ruhen und deiner Magd Sohn und der Fremdling sich erquicken“ (Ex 23, 12). Diese Bibelstellen weisen darauf hin, dass das Wohl der Tiere in dem christlichen Glauben eine Bedeutung haben könnte (vgl. Frömming 2006, S. 9). Es scheint jedoch, als hätte die Kirche kein gro- ßes Interesse an Tierschutz. „Tierschützer und Christen haben geschichtlich be- trachtet kein gemeinsames Fundament“ (a.a.O., S. 10). Erste Tierschutzbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts gingen nicht von Christen, sondern eher von Atheisten und Antiklerikern aus. Tieren wurde fehlende Vernunft und dadurch keine Gottes- ebenbildlichkeit zugeschrieben und da sie demzufolge keine unsterblichen Seelen besäßen, könnten sie nach dem Tod auf kein Weiterleben hoffen. So wurden Tiere als „Sachen“ angesehen, „… mit denen man nach Belieben verfahren konnte“ (Münch 2001, S. 29). Das Christentum und die Kirche haben somit den Herrschafts- gedanken über Tiere geschürt und die in der Bibel vermittelte Verpflichtung und Verantwortung den Tieren gegenüber nicht beachtet (vgl. ebd.).
2.1.5 Franz von Assisi und Thomas von Aquin - 13. Jahrhundert
Im 13. Jahrhundert regte der heilige Franz von Assisi einen ersten Wandel des Mensch-Tier-Verhältnisses an. Er bezeichnete Tiere als „Brüder“ und schrieb ihnen eine Wahrnehmungsfähigkeit zu (vgl. Otterstedt 2003a, S. 22). Auch der einflussrei- che dominikanische Philosoph Thomas von Aquin ging davon aus, dass Tiere Eigen- schaften wie Ziel- und Zweckorientierung, Einsichts- und besitzen. Mit der Aussage: „Ein verändertes Verhalten des Menschen zu den Tieren wird auch Einfluß (!) auf das Verhalten der Menschen untereinander haben" (Aquin, zit. n. Otterstedt 2003a, S. 22) erstellte er die These, dass brutales und rücksichtsloses Verhalten der Menschen gegenüber Tieren zu ähnlichem Verhalten der Menschen untereinander führen könne (vgl. ebd.).
2.1.6 Zeitalter der Renaissance
In der Renaissance, dem Zeitalter des Humanismus, wurden die Gedanken von Assi- si und Aquin kaum weitergeführt. Der Mensch stand erneut im Mittelpunkt (vgl. Kaplan 2006, S. 8). Der Fokus wurde auf den Verstand und die Selbstkontrolle des Menschen gelegt und damit grenzte er sich von den „verstandeslose(n) Triebwesen“ (Mütherich 2000, S. 32), den Tieren, ab, die als „Objekte menschlicher Verfügungs- zwecke“ (ebd.) betrachtet wurden. Abweichend von dieser Einstellung entstand je- doch auch eine gegensätzliche Auffassung. Der Künstler und Naturphilosoph Leo- nardo Da Vinci bezeichnete das Töten von Tieren als gleichwertiges Verbrechen wie das Töten von Menschen und plädierte für die respektvolle Behandlung der Tiere (vgl. Kaplan 2006, S. 8). Der französische Philosoph Michel de Montaigne wi- dersprach ebenfalls der damaligen Einstellung Tieren gegenüber. Er wies Möglichkeiten der nonverbalen Kommunikation zwischen Mensch und Tier nach und zeigte somit, dass eine soziale Beziehung zwischen beiden Lebewesen möglich ist (vgl. Mütherich 2000, S. 32 f.). Seine Denkansätze sind noch heute für die nonverbale Begleitung von Menschen bedeutsam (vgl. Abschnitt 4.3.1.2).
2.1.7 René Descartes - 17. Jahrhundert
Ein bedeutender Wendepunkt wurde in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit der Philosophie von René Descartes erreicht. Der als „Vater der modernen Philoso- phie“ (Höffe 2008, S. 268) bezeichnete Naturforscher, Mathematiker und Philosoph sah das Tier als eine Maschine, die von den Händen Gottes erschaffen wurde (vgl. Descartes 1835, S. 50). Nach Descartes funktionierten diese Maschinen / Automaten nach einem komplexen mechanischen Prinzip, ohne durch ein Bewusstsein gesteu- ert zu sein (vgl. Kaplan 2006, S. 8; Otterstedt 2003a, S. 24; Frömming 2006, S. 6). Aus dem fehlenden Bewusstsein, der fehlenden menschlichen Sprache und den nicht vorhandenden Verstand der Tiere folgerte Descartes, dass diese auch keine Seele besäßen. „Dies hatte zur Folge, dass ihnen gleichzeitig psycho-physische Fundamen- talkategorien wie Schmerzerleben und Leiden abgesprochen wurden“ (Mütherich 2000, S. 35). Die Schreie von Tieren, die geschlagen wurden, setzte Descartes mit Geräuschen einer Saite gleich, die angeschlagen wurde. Der gesamte Körper sei je- doch ohne Gefühl - wie ein Uhrwerk, nur komplexer (vgl. Kaplan 2006, S. 9). Diese Denkweise beeinflusste die Einstellung vieler Menschen den Tieren gegenüber und das Verhältnis zu ihnen. So waren grausame Untersuchungen am lebenden Tier möglich, förderten sie schließlich den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn (vgl. Kaplan 2006, S. 9; Frömming 2006, S. 6; Otterstedt 2003a, S. 24). Noch im 20. Jahr- hundert legitimierte diese Trennung von Geist / Denken und Körper / Materie das Leid von Tieren in wissenschaftlichen Experimenten, z.B. in Vivisektionen1 (vgl. Otterstedt 2003a, S. 24).
2.1.8 Jean-Jacques Rousseau - 18. Jahrhundert
Erst im 18. Jahrhundert schafften es bedeutende Persönlichkeiten, wie z.B. der fran- zösische Philosoph Jean-Jacques Rousseau, eine neue Richtung für das Verhältnis zwischen Mensch und Tier einzuschlagen (vgl. Otterstedt 2003a, S. 24). Er sprach
sich für die Rechte von Tieren aus und lehnte den Verzehr von Fleisch ab. In seinen ethischen Reflexionen nahm er nicht mehr ausschließlich die geistigen Fähigkeiten der Tiere als Maßstab. Er stellte vielmehr Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und Tieren in den Bereichen der Sensibilität und des Fühlens fest (vgl. a.a.O., S. 25). Diese Erkenntnisse bewirkten menschliche Verpflichtungen und Verantwortung dem Tier gegenüber und lösten Tierrechtsgedanken aus, die zu ersten Tierschutzbewegungen führten (vgl. Kaplan 2006, S. 10).
2.1.9 Charles Darwin - 19. Jahrhundert
Mit seiner Evolutionstheorie erschütterte Charles Darwin im 19. Jahrhundert den christlichen Grundgedanken, der den Menschen in seinen Grundwerten von der Natur getrennt betrachtete. Den Menschen ordnete er der Spezies der Primaten zu und stellte damit das Tier als Vorfahre in den Mittelpunkt (vgl. Frömming 2006, S. 6). Mit dieser Theorie bewirkte Darwin, dass sich der Mensch wieder als Teil der Natur sehen und fühlen konnte. „Die Biologie als Wissenschaftsdisziplin erfährt ein rasch ansteigendes Interesse, der Natur- und Umweltschutz wird vorangetrieben und die Heimtierhaltung wird populär“ (a.a.O., S. 7). So entstand in England im Jahr 1822 das erste Tierschutzgesetz, nach dem Nutztiere nicht zu Unrecht gequält werden durften (vgl. Kaplan 2006, S. 10). Auch in anderen Industrieländern gewann der Tierschutz an Bedeutung. In Deutschland z.B. wurde 1837 der erste Tierschutzverein gegründet, der sich 1881 mit anderen Tierschutzvereinen zum „Deutschen Tierschutzbund“ zusammenschloss (vgl. Stober 2009).
2.1.10 Albert Schweitzer - 20. Jahrhundert
Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts erweiterte sich das Verständnis der Mensch- Tier-Beziehung durch verschiedene Denkansätze. Der Theologe, Philosoph und Arzt Albert Schweitzer (2009) entwickelte mit seinem Werk „Die Ehrfurcht vor dem Le- ben“ eine Ethik, die alles Lebendige äquivalent betrachtet. Mit der Aussage: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ (a.a.O., S. 21) vermittelt er, dass es kein weniger wertvolles Leben gibt. Für ihn waren Tiere gleichwertige und zu achtende Mitgeschöpfe:
Mögen wir von seinen Regungen auch noch so wenig verstehen, so wissen wir doch, daß (!) in ihm Wille nach Leben und Sehnsucht nach Glück ist wie in uns, und daß (!) ihm Leiden und Vernichtung beschieden sind wie uns. Mit allem, was lebt, sind wir durch Wesens-Verwandtschaft und Schicksalsgemeinschaft verbunden. Wahre Ethik verlangt, daß (!) wir nicht nur uns nahestehendes Leben, sondern alles Leben, das in unseren Bereich tritt zu erhalten und zu fördern suchen. Alles Leben ist Geheimnis; alles Leben ist Wert. … Erst wenn er seine Verbundenheit mit allem Lebendigen anerkennt und betätigt besitzt der Mensch wahres Menschentum. (Schweitzer 2001, S. 180 f.)
Mit dieser „universellen Ethik“ sprach sich Schweitzer gegen die Missachtung von anderen Lebewesen, z.B. in Stierkämpfen oder in Hetzjagden aus (vgl. ebd.). Für ihn bestand keine klare Trennung zwischen Mensch und Natur, sondern eine Verbundenheit, die das Menschsein ausmacht. Die Denkweise von Albert Schweitzer und weiteren Philosophen dieser Zeit prägte die Einstellung der Menschen und trug dazu bei, dass sich die in den vorherigen Jahrhunderten entwickelte Distanz zwischen Mensch und Tier wieder verringerte (vgl. Frömming 2006, S. 7).
2.1.11 Zeitalter der Industrialisierung
Im Zuge der Industrialisierung wurden viele Nutztiere durch Maschinen ersetzt (vgl. Otterstedt 2003a, S. 25). Große Mastbetriebe entstanden und „Tierhaltung wurde zu einer Tierproduktion“ (ebd.). Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts entstand ein ambivalentes Verhältnis zwischen Menschen und Tieren (vgl. Abschnitt 2.2). Einer- seits wurde das Tier in der Nahrungsproduktion und in Tierversuchen als Sache be- handelt: Ohne das individuelle Tier zu sehen, anzuerkennen und auf sein Wohl zu achten, wurden Tiere in Massen gezüchtet und kostenoptimiert gehalten (vgl. ebd; Frömming 2006, S. 7 f.). Andererseits gewann die Beziehung zwischen Menschen und Haustieren stark an Bedeutung: „In den von Vereinzelung und zwischen- menschlicher Entfremdung geprägten westlichen Industriegesellschaften des ausge- henden zwanzigsten Jahrhunderts rückt das Haustier als Bindungsfigur, als Partner- und Gefühlswesen unerwartet in den inneren Zirkel des Menschen vor“ (Rheinz 1994, S. 28). Als Partner und Freund wurden Haustiere in der modernen Gesell- schaft populär. Die heutige Beziehung zwischen Mensch und Tier wird im alltägli- chen Zusammenleben geprägt.
2.2 Zusammenleben mit Tieren in der heutigen Gesellschaft
Nach den Angaben des Industrieverbands Heimtierbedarf (2011) lebten 2010 allein in Deutschland 22,3 Millionen Haustiere. Bei dieser Rechnung sind Zierfische und Terrarientiere ausgeschlossen. In mehr als einem Drittel aller Haushalte werden Haustiere gehalten. In Haushalten mit Kindern ist die Quote sogar noch höher. Die Studie „Die erste Jugendgeneration des neuen Jahrhunderts“ (Zinnecker u. a. 2003) beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen dem Tier und dem Jugendlichen. Befra- gungen ergaben, dass Tiere häufig als bedeutende „Bezugspersonen“ genannt wur- den. Sie wurden dabei meist als gleichwertiges Wesen empfunden, mit denen Ge- heimnisse, Glück und Spaß geteilt wurden, die aber auch bei Trauer als Ansprech- partner Trost spendeten (vgl. Buchner-Fuhs / Rose 2012 / i. E., S. 17). Dabei be- zeichneten 90% der befragten Kinder und 79% der befragten Jugendlichen ihre Haustiere als „sehr wichtig“ oder „wichtig“. Für die Kinder und Jugendlichen gehör- ten die Tiere dabei in der Regel zu den „vollwertigen Mitgliedern ihrer Familie“ (Zinnecker u. a. 2003, S. 32). „In der Beziehung zum Tier, in der Beschäftigung mit ihm bringt sich Familie als kommunikative und eng verbundene Gemeinschaft per- formativ hervor“ (Buchner-Fuhs / Rose 2012 / i. E., S. 17). Nach dem sozialkonstruk- tivistischen Ansatz des „Doing Family“ (Schier / Jurczyk 2007) tragen Tiere somit dazu bei, „Familie“ herzustellen. Nicht nur für Kinder und Jugendliche sind Tiere alltägliche Begleiter in der heutigen Gesellschaft. Laut dem Industrieverband Heim- tierbedarf (2011) leben die meisten Tiere in Haushalten von über 60-jährigen Men- schen. Dies ist damit zu erklären, dass ältere Menschen aus physischen und psychi- schen Gründen oft daran gehindert sind, an sozialen Aktivitäten teilzunehmen: „Tiere sind ein hilfreicher Begleiter und liebevoller Partner …. Wenn der Bekann- tenkreis kleiner wird und Kontakte nicht mehr aufgebaut werden können …“ (Ot- terstedt 2001, S. 55), ist eine Beziehung zum Tier eine seelische Unterstützung und gibt dem Leben einen (weiteren) Sinn (vgl. ebd.).
Heimtierhaltung bedeutet jedoch nicht automatisch positive Reaktionen der Betei- ligten. So können Tiere auch zur Belastung werden: „Das niedliche Kaninchen wur- de größer und fing an zu beißen,… der Hamster stand erst nach 23 Uhr auf, … die Mutter war allergisch gegen den neuen Hund“ (Wilde o. J.). In Deutschland befin- den sich momentan etwa 500.000 abgegebene Tiere in Tierheimen (vgl. Rais 2006). Gescheiterte Beziehungen zum Tier und gesundheitliche Auswirkungen mangelhaf- ter Tierhaltung sind oft Gründe für die Abgabe des Haustieres (vgl. Buchner-Fuhs / Rose 2012 / i. E., S. 18).
Ein weiterer Aspekt des Zusammenlebens mit Tieren in der heutigen Gesellschaft ist die Nutzung der Tiere als Hilfsmittel. Obwohl Tiere in vielen Bereichen durch Ma- schinen ersetzt wurden, ist der Nutzungsgedanke noch immer aktuell. So gibt es Schutzhunde, Spürhunde, Rettungshunde, Behindertenbegleit- bzw. Blindenführ- hunde und Tiere, die als therapeutische Begleiter eingesetzt werden (vgl. Otterstedt 2007, S. 14 ff.). Die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Tier erfolgt in diesen Bereichen in der Regel auf partnerschaftlicher Basis des Vertrauens (vgl. ebd.).
Die in Abschnitt 2.1 bereits angesprochene Ambivalenz des Eingangs einer partner- schaftlichen Beziehung mit dem Tier einerseits und der passiven und / oder aktiven Unterstützung der Tierquälerei in der Nahrungsproduktion und in Tierversuchen andererseits sind charakteristisch für die heutige Gesellschaft (vgl. Otterstedt 2003a, S. 25). Das geliebte Haustier wird nicht mit dem Stück Fleisch auf dem Teller in Verbindung gebracht (vgl. Hirschfelder / Lahoda 2012 / i. E., S. 162 ff.). Eine Pro- duktion und Schlachtung der Tiere außerhalb der Sichtweite und dem Lebensraum der meisten Menschen bewirkt eine „… Entfremdung der Bevölkerung von den ag- rarischen Grundlagen“ (ebd.) und ermöglicht eine gewisse Distanz zu dem Wissen über die Aufzucht der Tiere. Die Gesellschaft des Konsums und Wettbewerbs fordert große Mengen zu günstigen Preisen - seien es viele verschiedene Kosmetika, die an Tieren getestet wurden oder Fleisch, das unter hochindustrialisierten Produktions- methoden hergestellt wurde. Laut dem Tierschutzbericht der Bundesregierung (Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft 2003) wurden im Jahr 2002 etwa 2,2 Mio. Tiere für Tierversuche verwendet. Knapp 500 Mio. Tiere wurden geschlachtet. Davon ca. 51 Mio. Säugetiere (Schweine, Rinder, Schafe, Ziegen und Pferde) und ca. 444 Mio. Geflügeltiere. Vergleicht man diese Zahlen mit der Anzahl der in Deutschland lebenden Haustiere, wird deutlich, dass Menschen in Deutschland sich mit etwa 95,6% Nutz- und Versuchstieren und nur etwa 4,4% Haustieren das Land teilen. Das enge Verhältnis der Menschen zu den „wenigen“ Haustieren beeinflusst jedoch die Einstellung der Menschen auch Nutz- tieren gegenüber. So sind Tierschutzinitiativen, wachsender Biofleischkonsum und zunehmender Vegetarismus ein Zeichen dafür, dass auch das Wohl der Nutztiere langsam an Bedeutung gewinnt (vgl. Kaplan 2006).
2.3 Fazit
Die Ausführungen dieses Kapitels machen deutlich, dass der Mensch seit Beginn seiner Existenz in direktem Kontakt mit Tieren steht. Im Laufe der Geschichte hat sich das Verhältnis zwischen Mensch und Tier geändert. Während der frühen Stein- zeit lebten Menschen noch koexistent mit Tieren und beide waren gleichwertige Ge- schöpfe. Gegen Ende der Steinzeit begann der Mensch als Jäger dem Tier überwie- gend überlegen zu sein. Im Laufe der nächsten Jahrtausende verfestigte sich diese Überlegenheit, sodass es in der heutigen Zeit absolut undenkbar scheint, dass sich diese Hierarchie zwischen Mensch und Tier noch ändern könnte.
Die Beziehung zwischen Mensch und Tier wurde auch durch die Einstellung dem Tier gegenüber geprägt. Die Frage, ob das Tier eine Seele habe, beschäftigte den Menschen im Laufe seiner Geschichte immer wieder. Während die Menschen in der Antike fest davon ausgingen, dass Tiere eine Seele hätten, evtl. sogar die von einem verstorbenen Mitmenschen, wurde seit dem Christentum vermutet, dass das Tier keine unsterbliche Seele besäße. Besonders mit der Philosophie von René Descartes wurden dem Tier die Seele, Verstand, Gefühle und Emotionen abgeschrieben. Im Laufe der Industrialisierung mit zunehmender Haustierhaltung änderte sich diese Einstellung jedoch erneut und so geht die heutige Gesellschaft davon aus, dass ein Tier Emotionen und Mitgefühl empfinden kann. Diese Fähigkeiten ermöglichen es, das Tier als Partner zu sehen und in der Pädagogik bzw. für Therapien einzusetzen (vgl. Kapitel 5 und 6).
Die Ambivalenz des Haustieres als Partner des Menschen einerseits und die wach- senden Entfremdung von dem wilden Tier oder Nutztier andererseits, könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Menschen seit der Industrialisierung das Zusammen- leben von Mensch und Tier noch stärker ihrer Kontrolle unterziehen wollen. Wäh- rend unangenehme Berührungspunkte mit Tieren (z.B. Tierversuche oder Massen- tierhaltung) möglichst außerhalb des menschlichen Lebensraums liegen sollen, fin- den Haustiere in selektierter, kontrollierter, gebändigter und funktionalisierter Wei- se Zugang zu den Menschen. Dies ermöglicht es, das Haustier als Familienmitglied und Beziehungspartner zu sehen, ohne dabei die Überlegenheit und Entschei- dungsmacht über das Tier zu verlieren. Erklärungsansätze, aus welchen Gründen Menschen solche Beziehungen mit Tieren eingehen, werden im folgenden Kapitel erläutert.
3 Theoretische Erklärungsansätze der Mensch-Tier-Beziehung
Das vorherige Kapitel über die geschichtliche und gesellschaftliche Entwicklung von Mensch-Tier-Beziehungen hat dargelegt, dass der Mensch sich seit seiner Existenz mit seinem Verhältnis zu Tieren auseinandersetzt. Besonders mit vermehrter Haus- tierhaltung wächst das Interesse an dem Tier als Partner. In diesem Kapitel wird da- her beleuchtet, welche Erklärungsansätze heutige Wissenschaften zu der Entstehung von Mensch-Tier-Beziehungen liefern. Hierfür werden Theorien aus der Soziobiolo- gie, Psychologie, Biologie, Philosophie und Sozialpädagogik erläutert. In dem Fazit werden Überschneidungen der Erklärungsansätze aufgezeigt und die Problematik der Verifizierbarkeit thematisiert.
3.1 Soziobiologischer Erklärungsansatz: Biophilie
Der Begriff „Biophilie“ umfasst die altgriechischen Wörter „bios“ ‚Leben‘ und „philia“ ‚Liebe‘ und kann mit ‚Liebe zum Leben‘ übersetzt werden. Mit dieser Bedeu- tung verwendet Erich Fromm den Begriff in der analytischen Sozialpsychologie. Demnach ist Biophilie das lebensfördernde Syndrom, das sich auf die Liebe zum Leben und alles was dem Leben dient bezieht und sich durch kreative Arbeit, Pflege und Hingabe auszeichnet (vgl. Landis 1978, S. 88). Als Gegensatz nennt Fromm die Nekrophilie, das lebenszerstörende Syndrom, „… das sich auf die lustbetonte Anzie- hungskraft von alldem bezieht, was destruktiv, mechanisch oder tot ist“ (ebd.). Es äußere sich in Gier, Sadismus, Machtkämpfen und Egozentrik. Fromm bezeichnet diese Orientierungen als Charaktertypen, wobei die Biophilie biologisch bedingt ist und die Nekrophilie eine „… sekundäre psychopathologische Alternative (ist), die nur dann auftritt, wenn der Mensch an der Entwicklung der Biophilie gehindert wird“ (ebd.). Eine weitere Verwendung des Begriffes findet sich in der Soziobiologie. Der US-amerikanische Biologe Edward O. Wilson (1984) weist in seinem Buch „Biophilia: The Human Bond With Other Species“ darauf hin, dass sich in der Evo- lution Menschen stets zusammen mit anderen Lebewesen entwickelt haben. Aus diesem Grund haben sie eine biologisch begründete Affinität zu dem Leben sowie zu der Natur entwickelt. Erfahrungen, die im Zusammenhang mit der Natur und ande- ren Lebewesen gesammelt wurden, beeinflussen und manifestieren sich in sozialen und psychischen Prozessen, z.B. in dem Prozess der Bindung. Wie Fromm geht Wil- son davon aus, dass Biophilie biologisch bedingt ist. Er beschreibt sie als angeborene Tendenz, den Fokus der Aufmerksamkeit auf das Leben sowie lebensähnliche Pro- zesse zu richten (vgl. Wilson 1984, S. 1). Nach Wilson hängt die Existenz der Men- schen von der Neigung ab, die Vielfalt von Lebewesen und lebenserhaltenden ökolo- gischen Settings zu erkunden und sich mit ihnen zu verbinden (vgl. ebd.). Demnach beeinflusst die Beziehung zu der Natur und zu anderen Lebewesen die menschliche Identität und die persönliche Erfüllung (vgl. Kellert 1993b, S. 42). Wilson ist der Meinung, dass Menschen, die andere Lebewesen verstehen, diesen und auch sich selbst mehr Bedeutung und Wertschätzung entgegenbringen (vgl. Wilson 1984, S. 2).
Die Biophilie-Tendenz kann von der frühesten Kindheit an beobachtet werden. Der Entwicklungspsychologe Erhard Olbrich (2003b) spricht von einer maximalen Ver- bundenheit von Kind und Umwelt ab der Geburt. Diese kommt dadurch zustande, dass ein Kind noch nicht in der Lage ist, bewusst Situationen zu reflektieren. Es kon- struiert seine Umwelt auch weniger nach gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, als es später im Erwachsenenalter der Fall ist. Diese anfängliche nicht vorhandene Trennung von Kind und Natur bezeichnet Olbrich als „Verbundensein mit allen für das Kind erfahrbaren Aspekten des Kosmos“ (1997, S. 5). Er geht davon aus, dass diese anfängliche Verbundenheit mit der Natur durch die Zivilisation und Sozialisa- tion mit fortschreitendem Alter überdeckt und gemindert werden kann. Laut Jung (1931) entwickelt ein Säugling nach und nach ein Bewusstsein, welches eine zuneh- mende Trennung von der allumfassenden Verbundenheit bewirkt. Die sich im Ju- gendalter entwickelnden bewussten Prozesse sollten sich mit den unbewussten er- gänzen und nicht als Gegensätze fungieren. Olbrich geht in diesem Zusammenhang auf die Relevanz der Affinität zur Natur und anderen Lebewesen ein:
… bleibt Bewusstsein zu ausschließlich ein ‚monistischer Herrscher‘ der allein [die] Welt erfasst und verarbeitet, dann besteht die Gefahr des Verlustes wesent- licher Qualitäten …. Das … ist eine Trennung, die sowohl den Kontakt zu den tieferen Prozessen der eigenen Person unterbindet (etwa das Leben mit den ei- genen Instinkten mit Symbolen, die sich einer bloß bewussten Deutung nicht er- schließen, mit persönlichen unbewussten Dynamiken, etc.) als auch wichtige Formen des Kontaktes mit anderen Lebewesen sowie mit Naturphänomenen unmöglich macht, wenn sie nicht auf Umwegen den Zugang zu Bereichen der menschlichen Bewusstheit finden. (Olbrich 1997, S. 8)
Demnach ist für Olbrich die Verbundenheit mit der Natur für tiefere, unbewusste Prozesse und für den Kontakt mit anderen Lebewesen, wie z.B. Tieren, förderlich, wenn nicht sogar notwendig.
Wilson (1984) macht deutlich, dass die Menschen dieses Bestreben zur Verbunden- heit mit nichtmenschlichen Lebewesen und Natur trotz vermeintlicher Unabhängig- keit in der Gestaltung ihres Lebensraumes zeigen (vgl. S. 109 ff.). In Städten werden Parkanlagen angelegt, Vögel werden auf Balkonen angefüttert und Haustiere werden gehalten. Wenn das Lebendige jedoch durch tote Gegenstände ersetzt würde (z.B. Plüschtierroboter statt Haustiere), entstünden trotz guter Nachahmung der Natur Defizite für den Menschen. Relevante Erfahrungsräume gingen verloren, derer das menschliche Gehirn in der Entwicklung jedoch bedürfe (vgl. ebd.).
Gemeinsam mit Stephen Kellert belegt Wilson anhand von Beobachtungen, Erfahrungen und Feldexperimenten das Bedürfnis der Menschen, mit anderen Formen des Lebens (sowohl mit der Vielfalt von Lebewesen, als auch mit lebenserhaltenden Ökosystemen) in Verbindung zu stehen (vgl. Kellert, Wilson 1993). Kellert bezeichnet Biophilie als eine „… emotionale, physische und kognitive Hinwendung zum Leben und zur Natur“ (1997, S. 2).
Kellert differenziert neun Perspektiven der Bezugnahme von Menschen zur Natur, die die mutmaßliche biologische Grundlage der Verbundenheit zur natürlichen Welt darstellen.
1. Die utilitaristische Perspektive betont die Nützlichkeit der Natur für den Menschen. Sie sichert sein Überleben (Ernährung, Kleidung, Forschung und Arbeitskraft) durch die Nutzung von Tieren, Pflanzen, Ökosystemen, etc. (vgl. Olbrich 2003b, S. 70).
2. Die naturalistische Perspektive beschreibt das Empfinden von Zufriedenheit und Ausgeglichenheit des Menschen im Kontakt mit der Natur. Durch die Verbundenheit kommt es zur Entspannung, aber auch zur Faszination, Neu- gierde und Bewunderung der Komplexität der Natur (vgl. a.a.O., S. 70 f.).
3. Die ökologisch-wissenschaftliche Perspektive umfasst die Beobachtung und systematische Erforschung lebendiger und nichtlebendiger Naturelemente (vgl. Hegedusch / Hegedusch 2007, S. 37). Der ökologische Schwerpunkt liegt dabei auf dem „Zusammenspiel zwischen allen lebenden und nichtlebenden Elementen der Natur“ (Olbrich 2003b, S. 71), der wissenschaftliche Schwer- punkt auf Analyse und Aufbau neuer Strukturen. Die ökologisch- wissenschaftliche Perspektive dient zum Aneignen von Wissen. Außerdem kann sie ein Verstehen, Erklären und Kontrollieren der Welt ermöglichen.
4. Laut der ästhetischen Perspektive fühlen sich die Menschen von der Schön- heit und physischen Harmonie der Natur angezogen. Sie wirkt inspirierend und ergreifend und gibt einem das Gefühl, etwas Vollkommenem begegnet zu sein (vgl. Olbrich 2003b, S. 71).
5. Die symbolische Perspektive geht davon aus, dass die Natur verschiedene Codes (Schemata, Kategorien) vorgibt. Diese Codes können dann von dem Menschen verstanden werden. Als Beispiel können Schemata des Befindens, wie z.B. Wut, Freude, Angst, etc. und des Verhaltens, wie z.B. Drohen oder Dominieren genannt werden. Selbst wenn das Tier dem Menschen unbe- kannt ist, kann er in der Regel trotzdem das Drohen oder „sich Freuen“ des Tiers erkennen, da es sich bei den meisten Tieren sehr ähnlich äußert und damit übertragbar ist. Natursymbole treten historisch betrachtet in Mythen, Sagen, Legenden und Märchen auf. Sie werden sowohl zur Spiegelung der ei- genen Identität genutzt, als auch als Kennzeichnung der Details von lebenden und nicht lebenden Elementen in der Welt (vgl. ebd.).
6. Die humanistische Perspektive betont die Liebe und Verbundenheit des Menschen zur Natur. Sie äußert sich durch Fürsorge, Uneigennützigkeit und Bindung (vgl. ebd.).
7. Die moralische Perspektive hebt die Bedeutung von Verantwortung hervor. Wenn ein Mensch z.B. einem verletzten Tier begegnet, fühlt er sich in der Regel verantwortlich, dem Tier zu helfen (vgl. ebd.).
8. Die dominierende Perspektive beschreibt den Drang der Menschen die Na- tur zu kontrollieren und zu dominieren. Dieses Verhalten bewirkt u.a. die Entwicklung mechanischer Techniken und Fertigkeiten (vgl. Vernooij / Schneider 2010, S. 7).
9. Die negativistische Perspektive ist durch Angst und Aversion des Menschen gegenüber belebten und unbelebten Elementen gekennzeichnet. Beispiele hierfür sind die Antipathie gegen einzelne Tierarten (z.B. Spinnen, Vögel, etc.) oder Angst vor einem Wald bei Nacht.
Diese neun Perspektiven liefern verschiedene Erklärungen für Auswirkungen von Natur auf den Menschen und sein Verhalten. Sie treten wiederholt in verschiedenen Bereichen, Situationen und Lebenslagen auf. Sie sind im Zusammenhang zu betrach- ten und können getrennt aber auch parallel auftreten. Nach Kellert (1997, S. 160 f.) dient jede Perspektive der Biophilie menschlichen Anpassungsvorteilen während der Evolution und Entwicklung und hat ihren „… spezifisch adaptiven Wert für den Erhalt der eigenen Existenz ebenso wie für den Erhalt des biologischen, besser: des ökologischen Systems“ (ebd.).
Im Zusammenhang mit der Biophilie-Hypothese wird von vielen Autoren die besondere Wirkung von Tieren beschrieben:
In Anwesenheit von Tieren werden Beziehungen zwischen SchülerInnen sowie zwischen SchülerInnen und LehrerInnen kooperativer, freundlicher. Aggressives und gewalttätiges Verhalten lassen nach, wenn Tiere anwesend sind. Die Anwe- senheit von Tieren strahlt auf die ganze Situation und auf Institutionen aus und lässt alle Beteiligten sozial attraktiver erscheinen. (Olbrich 2003b, S. 76)
Durch mangelnde Fachstudien und empirische Evaluationsforschung sind solche Aussagen jedoch kritisch zu betrachten. Es besteht die Gefahr einer Idealisierung der Tiere als Allheilmittel für die Soziale Arbeit (vgl. Abschnitt 7.5).
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1 Vivisektionen sind operative Eingriffe am lebenden Tier (Duden 2003, S. 122)
- Arbeit zitieren
- Anika Baur (Autor:in), 2012, Mensch-Tier-Beziehung - Möglichkeiten und Ansatzpunkte für die Soziale Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/196716
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