Sozioemotionale Dimension der Onlinebefragung

Eine methodenanalytische Betrachtung der Onlinebefragung in Abgrenzung zur Face-to-Face-Befragung


Diplomarbeit, 2011

85 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Aufbau der Arbeit

THEORIE

2. Alltägliche Kommunikation
2.1. Verbale und nonverbale Kommunikation

3. Das persönliche Interview
3.1. Die Künstlichkeit des persönlichen Interviews
3.2. Formen des persönlichen Interviews
3.3. Sozio-emotionale Dimension des persönlichen Interviews
3.4. Effekte der sozialen Situation im Forschungskontext
3.5. Zusammenfassung

4. Grundlagen der Online-Befragung
4.1. Kommunikationsform der Online-Befragung
4.2. Die Entkörperlichung der cvK
4.3. Modelle der computervermittelten Kommunikation
4.3.1. Kanalreduktionsmodelle
4.3.2. Deindividuation
4.3.3. Reproduktionshypothesen
4.3.4. Modelle der Auswahl
4.4. Zusammenfassung

5. Die Kommunikationssituation der Onlinebefragung
5.1. Nutzungsbedingungen der Online-Befragung
5.2. Soziale Situation der Online-Befragung
5.2.1. Die Asymmetrie der Online-Befragung
5.2.2. Soziale Verarmung der Online-Befragung
5.2.3. Nutzungsmotive der Online-Befragung

6. Methodeneffekte der Online-Befragung
6.1. Soziale Erwünschtheit in der Online-Befragung
6.2. Abbruch der Befragung
6.3. Ziel der Untersuchung
6.3.1. Forschungsfragen und Hypothesen

METHODE

7. Untersuchungsdesign
7.1. Stichprobe
7.2. Stimulus
7.3. Operationalisierung
7.4. Ablauf

ERGEBNISSE

8. Auswertung
8.1. Eckdaten
8.2. Antwortverzerrung
8.2.1. Allgemeine Analyse
8.2.2. Commitment
8.2.3. Engagement
8.2.4. Zufriedenheit mit MSXI als Arbeitgeber
8.2.5. Führungskraft
8.2.6. Arbeitsbedingungen
8.2.7. Information und Kommunikation
8.2.8. Feedback zum Fragebogen
8.3. Abbruchquote
8.4. Antwortaufwand
8.5. Hypothesenprüfung

SCHLUSSBETRACHTUNG

9. Diskussion
9.1. Zusammenfassung
9.2. Hypothetische Erklärung
9.3. Methodische Erklärung / Methodenkritik
9.3.1. Parametrisierung
9.3.2. Operationalisierung
9.3.3. Stichprobe
9.4. Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang A – Ankündigung der Mitarbeiterbefragung

Anhang B - Screenshot mit persönlichem Bild

Anhang C – persönlich formulierter Begrüßungstext

Anhang D - Screenshot ohne persönliches Bild

Anhang E – neutral formulierter Einleitungstext

Anhang F – Fragebogen

Anhang G – Screenshot mit offene Frage

Anhang H – persönliche Danksagung

Anhang I – neutrale Danksagung

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Interviewsituation als Reaktionssystem

Abb. 2: verbale und schriftliche Befragungsarten

Abb. 3: Header mit dem persönlichen Bild

Abb. 4: Header ohne das persönliche Bild

Abb. 5: Diagramm mit prozentualen Abbrecherquoten

Abb. 6: Diagramm mit prozentualen Abbrecherquoten

Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Mischformen der Befragungsmethode

Tab. 2: Rangfolge von Kommunikationsmedien bezüglich verfügbarer Kommunikationskanäle

Tab. 3: Untersuchungsbedingungen

Tab. 4: Daten der Gesamtbeteiligung

Tab. 5: Beteiligung nach Untersuchungsbedingungen

1. Einleitung

Online-Befragungen erfreuen sich einer zunehmenden Beliebtheit. Das liegt zum Einen an der Fortentwicklung und Verbreitung der Computer- und Internettechnologie, zum Anderen an der kosten- und zeit-ökonomischen Durchführbarkeit der Web-Befragungen. Innerhalb weniger Minuten können tausende von Teilnehmer zentral von einem Rechner aus adressiert werden. Dadurch entfallen die hohen Druck-, Versand-, und Portokosten, die vergleichsweise bei der Papier-Bleistift-Befragung anfallen. Hinzu kommen die Vorteile der Asynchronität, Alokalität, Automatisierbarkeit, Dokumentierbarkeit und Objektivität der Durchführung von Online-Befragungen (vgl. Batinic, 2004, S. 254).

Doch trotz dieser Vorteile fallen die Reaktionen auf die Methode der Web-Befragung eher ambivalent aus. Während im kommerziellen Kontext aufgrund der kosten- und zeit-ökonomischen Durchführbarkeit immer öfter auf die Online-Befragung zurückgegriffen wird, reagiert die wissenschaftliche Sozialforschung eher verhalten. Als einer der wichtigsten Nachteile der Online-Befragung dürfte die Rekrutierung gelten, bei der die unzulängliche Kenntnis der Stichprobe dem Repräsentativitätsanspruch der Forschung nicht gerecht wird (vgl. Taddicken, 2008, S. 24). Die große Skepsis der Forscher gegenüber online erworbenen Daten resultiert darüber hinaus aus dem Grund des Fehlens von systematisch angelegten Untersuchungen zu methodenbedingten Effekten der Online-Befragung (vgl. Taddicken, 2008, S. 28). Nicht die Vielfältigkeit, sondern die Realisierbarkeit von Gütekriterien des wissenschaftlichen Forschens entscheidet über die Qualität eines Messinstruments. Seitens der Forscher bestehen noch Unsicherheiten darüber, inwiefern die Qualität der im Web erhobenen Daten mit denen der traditionellen Befragungsmethoden vergleichbar sind. Hinzu kommt, dass onlinebebasierte Untersuchungen eine Reihe an Verwirrungen und Unklarheiten mit sich bringen: Je nach Forschungsdesign fungiert das Internet gleichzeitig als Forschungsinstrument, als Forschungsgegenstand und als Kommunikationskanal(vgl. Welker, Andreas, & Joachim, 2005, S. 4-5). So konzentrieren sich die Inhalte wissenschaftlicher Forschungsarbeiten, die ihre Daten online erheben, meistens noch auf internetspezifische Fragestellungen. Forschungsarbeiten, in denen das Internet nicht im Mittelpunkt liegt, aber die Daten online erhoben werden, gehören eher zur Seltenheit (vgl. Batinic, 2004, S. 252).

Die Vorliegende Arbeit leistet im Allgemeinen einen Beitrag zur Klärung methodenbedingter Effekte der Online-Befragung, die im Vergleich zum persönlichen Interview einem Mangel an systematisch angelegten Untersuchungen unterworfen ist. Im Speziellen geht es jedoch um die sozio-emotional bedingte Methodeneffekte der Online-Befragung, die auf die verwendete Kommunikationsform zurückzuführen sind.

Aufgrund der aufgabenbezogenen und instrumentellen Bestimmung bekommen die sozio-emotionalen Aspekte der Online-Befragung wenig Aufmerksamkeit. Ein Großteil der Methodenliteratur, die ihre Aufmerksamkeit auf die soziale Situation der Befragungsmethode legt, beschränkt sich oft auf die Analyse des persönlichen Interviews. Aufgrund des fehlenden Interviewers und aufgrund der computerbasierten Durchführung konzentriert sich die Literatur meist auf die technischen Aspekte der Online-Befragung. Dabei wird die Tatsache vernachlässigt, dass bei der Online-Befragung eine spezifische Art der sozialen Interaktion stattfindet, die sich ähnlich wie beim persönlichen Interview auf die Güte der erhobenen Daten auswirken kann. Diese Interaktion findet zwischen dem Befragten und dem Untersucher statt und weist aufgrund der verwendeten Kommunikationsform strukturelle Unterschiede zu der des persönlichen Interviews auf.

Der Vergleich der Online-Befragung mit dem persönlichen Interview bietet an, weil beide Methoden auf unterschiedliche Kommunikationsformen zurückgreifen. Durch einen abgrenzenden Vergleich dieser unterschiedlichen Methoden soll der enge Zusammenhang zwischen der verwendeten Kommunikationsformen und den entsprechenden Methodeneffekten hervorgehoben werden. Der vorherrschende Mangel an Theorien zur sozialen Situation der Online-Befragung wird dabei einerseits durch den Bezug auf den Forschungsstand zum persönlichen Interview und andererseits durch die Implementierung von Theorien zur computervermittelten Kommunikation kompensiert. Da die beziehungsrelevante Interaktion der Befragungsmethode eng an die Bedingungen der verwendeten Kommunikationsform gekoppelt ist, wird der Vergleich unter einer gesonderten Betrachtung der zugrundeliegenden Kommunikationsformen der Online-Befragung (computervermittelte Kommunikation; cvK) und des persönlichen Interviews (Face-to-Face-Kommunikation) bewerkstelligt.

1.1. Aufbau der Arbeit

Im zweiten Kapitel wird zunächst die alltägliche Face-to-Face-Kommunikation beschrieben und dabei auf die Bedeutung der verbalen und nonverbalen Kommunikation hingewiesen. Im dritten Kapitel wird das persönliche Interview behandelt. Dabei wird die Bedeutung der verbalen und nonverbalen Kommunikation innerhalb der sozialen Situation des persönlichen Interviews dargelegt und im Kontext unterschiedlicher Forschungsparadigmen besprochen. Im vierten Kapitel wird die Online-Befragung vorgestellt und anhand prominenter Theorien zur cvK die zugrundeliegende Kommunikation beschrieben. Im anschließenden fünften Kapitel wird unter der Implementierung der Theorien zur cvK auf die soziale Situation der Online-Befragung eingegangen und damit verbunden auf die Vor- und Nachteile gegenüber dem persönlichen Interview hingewiesen. Im sechsten Kapitel werden schließlich in einer gesonderten Auseinandersetzung mit dem Problem der sozialen Erwünschtheit und dem Problem der Abbruchquoten zwei wichtige Aspekte der Befragungsmethode vorgestellt und auf die sozio-emotionale Dimension der verglichenen Befragungsmethoden bezogen. Dabei wird ein theoretisches Modell zur Verringerung von Abbruchquoten vorgestellt. Dieses Modell wird im anschließenden methodischen Teil anhand einer durchgeführten Mitarbeiterbefragung überprüft und in dem drauf folgenden Diskussionsteil ausdiskutiert und resümiert.

2. Alltägliche Kommunikation

Kommunikation ist ein Phänomen, dem wir in zwischenmenschlichen Situationen ausgesetzt sind. Damit ist sowohl die unvermittelte Kommunikation unter Kopräsenz der Beteiligten Personen, als auch die medial vermittelte Form der Kommunikation gemeint. Gerade weil die Kommunikation eine Begleiterscheinung des zwischenmenschlichen Daseins ist, ist sie ein elementarer Teilbereich unterschiedlicher Fachdisziplinen wie Psychologie, Soziologie, Linguistik, Medien- und Kommunikationswissenschaft.

Misoch (2006) definiert Kommunikation als einen „Vorgang der Informationsübermittlung vom Sender zum Empfänger mittels Zeichen/Codes“ (S. 7). Wenn wir im Alltag von Kommunikation sprechen, beziehen wir uns oft auf die verbale Informationsübermittlung. Doch die Face-to-Face-Kommunikation wird auch von nonverbalen Zeichen getragen. Nach diesem Verständnis weist Watzlawick (vgl. 2007, S. 51) darauf hin, dass das Material der menschlichen Kommunikation aus verbalen und nonverbalen Zeichen besteht, die sich auf das gesamte menschliche Verhalten beziehen. Demnach findet in jeder zwischenmenschlichen Situation Kommunikation statt, da man sich praktisch nicht nicht verhalten kann. Anders ausgedrückt: man kann nicht nicht kommunizieren. Selbst das Schweigen oder das Nichtbeachten hat in diesem Sinne einen Mitteilungscharakter beispielsweise in Form von persönlicher Distanz oder Abneigung. Dementsprechend sind Verhalten, Kommunikation und Interaktion miteinander verbunden. Menschen kommunizieren in jeder sozialen Situation, in dem sie sich (nicht-)verhalten.

Des Weiteren unterscheidet Watzlawick (vgl. 2007, S. 53-56) zwischen der Inhalts- und der Beziehungsebene der Kommunikation. Die Inhaltsebene bezieht sich auf die mitgeteilte Information und die Beziehungsebene auf den sozio-emotionalen Austausch zwischen den Interaktionspartnern. Der Inhaltsaspekt vermittelt sachliche Informationen und der Beziehungsaspekt vermittelt Anweisungen, wie diese Informationen zu verstehen sind. Wünscht man beispielsweise jemandem „viel Spaß“, so wird diese Mitteilung in Abhängigkeit von der persönlichen Beziehung einer konnotativen Interpretation unterworfen und entweder als eine wohlwollende oder als eine sarkastisch-spöttisch gemeinte Mitteilung interpretiert. Insofern übt die Beziehungsebene der Kommunikation einen großen Einfluss darauf aus, wie die inhaltliche Information verarbeitet und zu einer Reaktion überführt wird. Aus dem Zusammenspiel beider Ebenen ergibt sich schließlich die Ebene der Metakommunikation, auf der ein konnotativer Informationsaustausch stattfindet.

2.1. Verbale und nonverbale Kommunikation

Das Material der verbalen Kommunikation besteht aus erlernten semantischen Zeichen, die durch kulturelle Regeln und Konventionen geregelt werden, aber eine arbiträre Beziehung zur bezeichneten Sache haben (vgl. Hepp, 2010, S. 28). Das bedeutet, dass das Zeichen und die bezeichnete Sache keine natürliche, motivierte Beziehung haben, die sich aus der Eigenart der bezeichneten Sache ableiten lässt. So lässt sich z.B. die Lautfolge des Wortes ‚Blume’ nicht aus der Eigenschaft der bezeichneten Pflanze ableiten. Es ist vielmehr so, dass die Bedeutungen im Sozialisationsprozess erlernt, verändert und überliefert werden. Die Relevanz dieser semiotischen Überlegung für die Befragungsmethode resultiert aus der logischen Konsequenz, dass die verbalen Äußerungen einer befragten Person nicht immer die objektive Realität wiedergeben, sondern lediglich Berichte des Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsapparats sind, die durch erlernte ‚unnatürliche’ Zeichen veräußert werden. Dem ‚wahren’ zu messenden Wert und der verbalen Äußerung sind psychologische und soziologische Faktoren zwischengeschaltet, die die Qualität der erhobenen Daten beeinträchtigen können. Dagegen sind die Komponenten der nonverbalen Kommunikation eng an das emotionale Befinden gekoppelt. Sie können zwar ähnlich wie bei semantischen Zeichnen auf Konventionen basieren, bewusst erlernt und ausgeführt werden, doch grundlegende Formen des emotionalen Ausdrucks basieren auf angeborene natürliche Fähigkeiten und können sich der bewussten Kontrolle entziehen. Beispielsweise geht das Darstellen und Ablesen von Gesichtsausdrücken auf angeborene Fähigkeiten zurück und lässt direkte Rückschlüsse auf das emotionale Erleben zu (vgl. Herkner, 2004, S. 278). Deshalb kommt den nonverbalen Zeichen bei der Entstehung von Sozio-Emotionalität eine bedeutende Rolle zu. Sie enthalten emotionale Informationen über die persönliche Beziehung zum Kommunikationspartner. Misoch subsumiert unter nonverbaler Kommunikation folgende Elemente des Sozialverhaltens(2006, S. 22-31):

- Taktilität: bezieht sich auf die Kommunikation, die mittels Berührung bzw. Körperkontakt (z.B. Händeschütteln, Streicheln oder Schulterklopfen) zustande kommt.
- Proximetik: bezieht sich auf die Nähe und Distanz der Kommunikationspartner, die über die räumliche Positionierung der Kommunikationspartner geregelt wird. Die geringe räumliche Distanz ist die Voraussetzung für das Zustandekommen von Taktilität.
- Körperhaltung: spiegelt den relativen Status einer Person wider und gibt individuelle Gefühlszustände wie Anspannung oder Entspannung wieder (z.B. Stehen, Knien, Ducken).
- Pantognomik: bezieht sich auf die Elemente der Gestik (Körperausdruck) und Mimik (Gesichtsausdruck) und dient der Illustrierung von Kommunikationsinhalten.
- Blick: bezieht sich auf die Art und die Richtung des Blickes, die mit der Beziehung zum Kommunikationspartner verbunden ist.
- Tonfall: basiert auf verbalen Zeichen; bezieht sich aber nicht auf das Gesagte sondern auf Tonhöhe, Klangfarbe und Lautstärke.
- Attribute: beziehen sich auf Zeichen, die außerhalb des menschlichen Körpers und der Lautäußerungen liegen (z.B. Kleidung, Accessoires, Schmuck, Auto, Möbel)

Auch wenn die nonverbalen Zeichen einen großen Teil der sozio-emotionalen Informationen ausmachen, lässt sich der sozio-emotionale Austausch nicht nur auf nonverbale Zeichen beschränken. Verbale und nonverbal Zeichen fließen ineinander über und lassen in unterschiedlichen Kombinationen auf eine breite Palette von Bedeutungen schließen. Im Folgenden wird das persönliche Interview vorgestellt und unter Berücksichtigung der verbalen und nonverbalen Kommunikation die soziale Situation des persönlichen Interviews behandelt.

3. Das persönliche Interview

Die Kommunikationsform des persönlichen Interviews knüpft an die alltägliche Face-to-Face-Situation an, in der zwei oder mehr Menschen unter Kopräsenz durch die Technik des Fragestellens und Antwortens Informationen austauschen. Die im vorigen Kapitel behandelten Aspekte der verbalen und nonverbalen Kommunikation betreffen insofern auch die Kommunikation des persönlichen Interviews. Doch die Kommunikation des persönlichen Interviews hat einen künstlichen Charakter. Das persönliche Interview unterscheidet sich in Abhängigkeit seines Strukturierungsgrades mehr oder weniger von der alltäglichen, natürlichen Kommunikation.

3.1. Die Künstlichkeit des persönlichen Interviews

Persönliche Interviews finden - ähnlich wie die alltägliche Kommunikation - unter Kopräsenz der beteiligten Personen auf verbaler und nonverbaler Ebene statt. Ihre Besonderheit besteht jedoch darin, dass das Interview ein Instrument der empirischen Sozialforschung ist. Scheuch (1967) beschreibt die Interviewsituation als ein „planmäßiges Vorgehen mit wissenschaftlicher Zielsetzung, bei dem die Versuchsperson durch eine Reihe gezielter Fragen oder mitgeteilter Stimuli zu verbalen Informationen veranlasst werden soll“ (S. 138). Dieses Verständnis gibt den künstlichen Charakter des Interviews wider. Die vom Interviewer gestellten Fragen und das damit verbundene nonverbale Verhalten dienen nicht wie im Alltag zum bloßen, beiläufigen sozialen Austausch, sondern dem Generierung von sozialwissenschaftlich relevanten Daten. Im Kontext der empirischen Sozialforschung ist der Interviewer ein Teil des Stimulus und richtet sein Verhalten nach den Gütekriterien der empirischen Sozialforschung. Er wird vorher geschult und ist sich seiner Rolle als Teil des Befragungsinstruments bewusst. Auch der Befragte ist sich über der Künstlichkeit der Kommunikationssituation im Klaren und verhält sich im Idealfall in Angemessenheit zu den vorher festgelegten und mitgeteilten Instruktionen des Untersuchers. Die Künstlichkeit der Interviewsituation kann in Anlehnung an Kromrey (vgl. 2006, S. 361-362) unter drei Aspekten zusammengefasst werden:

Erstens stehen sich bei einer Befragungssituation zwei Fremde gegenüber (Interviewer und Befragter), wobei sich nach Kromrey nur der Interviewer nach Rollenvorschriften verhält. Wenn man jedoch bedenkt, dass auch der Befragte seine Rolle als Befragungsteilnehmer wahrnimmt, kann man auch von selbst auferlegten Rollenvorschriften des Befragten sprechen, nach denen er sein Verhalten richtet. Darüber hinaus erhält er Instruktionen, die ihm bestimmte Verhaltensregeln auferlegen. Dabei ist unstrittig, dass dem Befragten in seinem Verhalten ein größerer Freiraum gewährt wird als dem Interviewer: Es gehört zu seinen ‚Rollenvorschriften’, sich möglichst natürlich zu Verhalten und seine Meinung offen zu legen.

Zweitens ist die soziale Beziehung bei einem Interview durch Asymmetrie gekennzeichnet. Der Interviewer ist in der aktiven Rolle des Fragestellers und der Befragte verhält sich weitgehend passiv und beantwortet die Fragen. Die Asymmetrie ist bei stark strukturierten Befragungen mehr gegeben als bei wenig strukturierten Befragungen. In beiden Fällen wird jedoch die Kommunikation vom Interviewer strukturiert und der Befragte ist im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung das Untersuchungsobjekt. Er fungiert nicht als Gesprächspartner, sondern als ein Datenträger. Kromreys Verständnis von Asymmetrie kann durch den Umstand ergänzt werden, dass der geschulte Interviewer im Gegensatz zum Befragten nicht an personalisierten Informationen interessiert ist (vgl. auch Kap. 5.2.1). Denn die erhobenen Daten haben im Rahmen der Untersuchung eine gegenständliche und keine soziale Bedeutung.

Drittens ist die Situation des Interviews sozial folgenlos. Die beiden vorher genannten Aspekte können auch in anderen alltäglichen sozialen Situationen wie Richter-Zeuge oder Arzt-Patient zutreffen. Der entscheidende Unterschied bei einem Interview ist, dass die Kommunikation für den Befragten keine Konsequenzen hat wie beispielsweise beim Arzt oder beim Richter. Durch die Zusicherung der Anonymität, soll dem Befragten die Angst vor Sanktionierungen jeglicher Art genommen werden(vgl. Scheuch, 1967, S. 136-137). Je strukturierter ein Interview ist, desto deutlicher wird die Künstlichkeit der Kommunikationsform.

3.2. Formen des persönlichen Interviews

Persönliche Interviews können nach der Anzahl der befragten Personen und dem Maß der Strukturierung unterschieden werden (vgl. Bortz & Döring, 2006, S. 238). Bei Einzelinterviews wird nur eine Person befragt. Darüber hinaus werden bei Gruppeninterviews mehrere Personen von einem oder mehreren Interviewern befragt. Die Standardisierung des persönlichen Interviews erfolgt nach dem Maß der Strukturierung des Erhebungsinstruments (vgl. Atteslander, 2006, S. 124-125).

Beim wenig strukturierten Interview erfolgt das Interview ohne einen vorgefassten Fragebogen. Der Interviewer hat große Freiheiten in der Auswahl und Strukturierung der Fragen (vgl. Atteslander, 2006, S. 124; Kromrey, 2006, S. 389-390; Möhring & Schlütz, 2010, S. 17). Die Formulierung der Fragen geht jeweils aus der vorangehenden Aussage des Befragten hervor. Der Interviewer passt das Interview auf den Befragten und auf den Verlauf des Interviews an. Da der Interviewer großen Einfluss auf die Qualität der erhobenen Daten hat, bedarf das wenig strukturierte Interview einer sorgfältigen Schulung des Interviewers. Aufgrund der offenen Gestaltung wird das wenig strukturierte Interview auch als narratives oder unstrukturiertes Interview bezeichnet.

Bei einem stark strukturierten Interview liegt der Schwerpunkt auf dem Fragbogen, der nach einer sorgfältigen Vorbereitung erstellt wird (vgl. Atteslander, 2006, S. 124; Schnell, Hill, & Esser, 2008, S. 321-325; Kromrey, 2006, S. 389; Möhring & Schlütz, 2010, S. 16). Der Verlauf der Befragung wird durch die festgelegte Formulierung und Anordnung der Fragen exakt vorgegeben. Dadurch wird der Spielraum des Interviewers stark eingeschränkt. Seine Aufgabe besteht darin, sich möglichst an dem Fragebogen zu orientieren und keinen weiteren Einfluss auf die Befragung auszuüben. Spontane Reaktionen sowie Ad-Hoc-Fragen werden als Störeinflüsse betrachtet, die weitgehend vermieden werden sollten.

Zwischen den beiden Polen des stark strukturierten und des wenig strukturierten Interviews gibt es die teilstrukturierten Interviews, die anhand von vorformulierten Fragen vorbereitet werden (vgl. Atteslander, 2006, S. 124,129-131). Die Besonderheit dieser Befragungsform liegt in der freien Handhabung der Fragen. Der Interviewer kann die Abfolge der Fragen dem Interviewverlauf anpassen. Darüber hinaus kann er nach eigenem Ermessen Ad-Hoc-Fragen stellen, um im Verlauf des Interviewgesprächs aufkommende Themen aufzugreifen, die für den Untersuchungsgegenstand von Bedeutung sind.

Bei der vorangegangenen Beschreibung wurden unterschiedliche Arten des persönlichen Interviews dargelegt, die ausschließlich mündlich durchgeführt werden. In der Praxis gibt es jedoch Mischformen der Befragung, die unter teilweisem oder gänzlichem Rückgriff auf schriftliche und telefonische Methoden realisiert werden (vgl. Tab. 1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 1: Mischformen der Befragungsmethode

Typologisierung von Befragungsarten nach den Kriterien der Reaktivität der verwendeten Kommunikationsart (Quelle: Atteslander, 2006, S. 123)

3.3. Sozio-emotionale Dimension des persönlichen Interviews

Entsprechend der Kommunikationstheorie von Wazlawick (vgl. Kap. 3.1) kann auch bei persönlichen Interviews zwischen der Beziehungsebene und Sachebene unterschieden werden. Das Erheben von sozialwissenschaftlich relevanten empirischen Daten ist demnach der Sachebene der Befragung zuzuordnen. Hierbei geht es um den instrumentellen Charakter des Interviews, der für die Forschungsfrage und folglich für den Untersucher von großem Interesse ist. Auf der anderen Seite findet jedoch eine soziale Interaktion zwischen dem Befragten und dem Interviewer statt, die der Beziehungsebene zuzuordnen ist. Ab der ersten Kontaktaufnahme machen sich die beteiligten Personen ein gegenseitiges Bild voneinander, indem sie das Aussehen und das Verhalten des Kommunikationspartners Persönlichkeitsmerkmalen zuordnen. Um das Antwortverhalten des Befragten nicht zu beeinflussen, versucht der Interviewer sich möglichst neutral zu verhalten. Der Befragte passt sein eigenes Verhalten jedoch dem Verhalten des Interviewers an. Er lässt sich auf die asynchrone Gesprächssituation ein; lässt das Gespräch vom Interviewer leiten und versucht seinen Vorstellungen und Erwartungen gerecht zu werden.

Die Sachebene und die Beziehungsebene der Befragung sind gemäß Waztlawicks Kommunikationsmodel nicht als isolierte Phänomene zu begreifen. Die aufgebaute Beziehung zum Interviewer beeinflusst den Befragten bei der Beantwortung der Fragen. So kann die persönliche Beziehung zum Interviewer für die Kooperationsbereitschaft der Befragten maßgebend sein. Eine empfundene Antipathie für den Interviewer kann zu einer geringen Kooperation des Befragten führen, die sogar Antwortverweigerungen verursachen kann. Für die Befragungssituation bedeutet das, dass der Stimulus der Befragung sich aus der vom Interviewer gestellten inhaltlichen Frage und aus der persönlichen Beziehung zum Interviewer zusammensetzt, die auf einer höher gestellten Ebene zu einem „Meta-Stimulus“ verarbeitet werden. An dieser Stelle wird die Reaktivität der Befragungsmethode deutlich: Die gegebenen Antworten können nie vollständig als Reaktionen auf die gestellten Fragen verstanden werden. Sie können durch die Interviewermerkmale beeinflusst werden(vgl. Kromrey, 2006, S. 363; Diekmann, 2007, S. 439-446).

3.4. Effekte der sozialen Situation im Forschungskontext

Der Umgang mit der sozialen Situation der Befragung gestaltet sich in Abhängigkeit von dem vertretenen Forschungsparadigma unterschiedlich. Atteslander (vgl. 2006, S. 121) unterscheidet zwischen den Instrumentalisten und den Interaktionisten:

Die Instrumentalisten sehen die soziale Situation des Interviews als ein Störfaktor an, der im höchsten Maße auszublenden ist. Nach dem watzlawickschen Verständnis wird die Hervorhebung der Inhaltsebene der Befragungskommunikation angestrebt. Daher legen die Instrumentalisten den Fokus auf die Perfektionierung des Fragebogens, der den Verlauf des Interviews möglichst genau festlegen soll. Dieser Vorgehensweise liegt das Stimulus-Response-Modell (S-R-Modell) zugrunde, bei dem die gegebenen Antworten (Reaktionen) auf die vorformulierten Fragen (Stimuli) zurückgeführt werden(vgl. Atteslander, 2006, S. 105). Dabei steht vor allem die Vergleichbarkeit der Messungen im Vordergrund, die durch den Rückgriff auf das stark strukturierte Interview erstrebt wird. Durch die Neutralität des Interviewers, der ja ein Teil des Stimulus ist, soll der Einfluss der sozialen Situation des Interviews minimiert werden.

Bei einer genaueren Betrachtung wird jedoch deutlich, dass es sich bei der Neutralität um ein nicht vollständig realisierbares Ideal des wissenschaftlichen Forschens handelt: Zum Einen entziehen sich die Komponenten des nonverbalen Verhaltens des Interviewers der bewussten Kontrolle und enthalten zwangsweise sozio-emotionale Informationen. Zum Anderen wird das angestrebte neutrale Verhalten des Interviewers - selbst bei einer noch so großen bewussten Regulierung - vom Befragten in irgendeiner Art als sozialer Hinweisreiz wahrgenommen und konnotativ verarbeitet. Verbale und nonverbale Reaktionen des Interviewers variieren in der Befragungssituation und werden in Abhängigkeit vom Befragtenmerkmalen zu einem ‚Metastimulus‘ weiterverarbeitet. Bei der Beantwortung der Fragen stehen dem Befragten mehrere Antwortmöglichkeiten zur Verfügung, von denen er sich schließlich für eine entscheidet, um die gestellte Frage nach eigenem Ermessen adäquat zu beantworten. Dabei wird der Stimulus in die persönlichen Erinnerungen, Vorstellungen, Erwartungen, Ängste und Urteile eingebunden und zu einer Antwortreaktion geführt:

Not surprisingly, respondents first task consists in interpreting the question to understand its meaning. If the question is an opinion question, they may either retrieve a previously formed opinion from memory or may “compute” an opinion on the spot. To do so they need to retrieve the relevant Information from memory to form a mental representation of the target they are to evaluate. In most cases they also need to retrieve or construct some standard against which they can evaluate the target. After they form a “private” judgement they have to communicate it to the researcher. To do this, they may need to format the judgement to fit the response alternatives provided as a part of the question. In addition, they may wish to edit their response before they communicate it because of social desirability and situational factors. (Sudman, Bradburn, & Schwarz, 1996, S. 56-57)

Die Antworten des Befragten entsprechen also nicht immer der Realität. Sie werden im sozialen Kontext der Befragungssituation durch die Merkmale des Interviewers und des Befragten verzerrt. So können spontane Reaktionen des Interviewers vom Befragten als Hinweise der Zustimmung oder Missbilligung gedeutet werden(vgl. Diekmann, 2007, S. 440). Die Strukturierung des Interviews kann insofern nur auf den Fragebogen und nicht auf die soziale Situation der Befragung bezogen werden. Aus diesem Grund plädiert Atteslander dafür, grundsätzlich von teil-standardisierten Interviews zu sprechen, die sich lediglich im Grad der Strukturierung unterscheiden (vgl. Atteslander, S. 121).

Ein weiterer Schwachpunkt der starken Strukturierung ist die hohe Künstlichkeit der Kommunikationsform. Je neutraler der Interviewer sich verhält, umso mechanischer und künstlicher wird sein Verhalten. Dadurch kann es zu Kommunikationsstörungen kommen, die nicht bereinigt werden können(vgl. Möhring & Schlütz, 2010, S. 47): Sollten während der Befragung Missverständnisse auftauchen oder sozial heikle Themen angesprochen werden (z.B. extreme politische Positionen oder sexuelle Praktiken), so werden dem Interviewer kaum Freiheiten gewährt, um auf eine adäquate Art zu intervenieren. Aus diesem Grund muss der Fragebogen resistent gegenüber eventuellen Kommunikationsstörungen sein. Er sollte in höchstem Maß selbsterklärend sein und in einer Ausdrucksform verfasst sein, die für die Mitglieder des Befragtenpools gleichermaßen verständlich ist. Unter Umständen eignen sich stark strukturierte Interviews nicht für heikle Themen, die das Eingreifen des Interviewers erfordern.

Die Interaktionisten legen großen Wert auf die Erhebung der Daten im sozialen Kontext der Befragungssituation. Sie gehen davon aus, dass die Reaktionen der befragten Person nur im Zusammenhang der sozialen Situation zu verstehen seien (vgl. Atteslander, 2006, S. 121). Die soziale Situation wird nicht als Störfaktor, sondern als Bedingung der Reaktionsmessung angesehen. Bei diesem Ansatz werden auch Wirkfaktoren berücksichtigt, die über die Beziehung zwischen dem Interviewer und dem Befragten hinausgehen. Nach diesem Verständnis setzt sich der Stimulus der Befragung aus dem Fragebogen, dem Interviewer und aus den gegebenen Raum-Zeit-Faktoren wie der Umgebung und der Atmosphäre der Befragung zusammen. Diese Faktoren werden innerhalb des Stimulus-Response-Person-Modells (S-P-R-Modell) als Faktor ‚Person’ (P) berücksichtigt (vgl. Abb. 1). Die komplexe Situation der Befragung wird von Atteslander als ein Reaktionssystem beschrieben(2006, S. 104-106).

„Die im Fragebogen fixierte Sprache ist nicht nur soziale Realität, sondern sie schafft auch soziale Realität beim Befragten, indem sie das verbale Verhalten des Befragten steuert“ (Atteslander, 2006, S. 106, Hervorhebungen im Original). Die soziale Realität des Interviews kann nur unter den Bedingungen des wenig strukturierten Interviews annähernd erfasst und kontrolliert werden. Der Interviewer kann die Kommunikation mit dem Befragten in Gang bringen und darüber hinaus mögliche Verständnisprobleme klären. In einem vertrauen persönlichen Verhältnis kann er bei heiklen Fragen und sozial unerwünschten Themen einfühlsame Unterstützung anbieten, bei Äußerungsbarrieren und Hemmnissen unterstützend eingreifen. Der Nachteil dabei ist, dass trotz der aufwendigen Schulung des Interviewers, seine Persönlichkeitsmerkmale sein Verhalten mitbestimmen (vgl. Bortz & Döring, 2006, S. 238-239). Vor allem gestische und mimische Reaktionen des Interviewers können so in die soziale Situation des Interviews einfließen und Antwortverzerrungen bedingen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Interviewsituation als Reaktionssystem.

Gezeigt wird die Stimulusverarbeitung unter Berücksichtigung der kognitiven Informationsverarbeitung auf Seiten des Befragten. Quelle: Atteslander (2006, S. 106)

Ein weiterer Faktor, der in der vorliegenden Arbeit bislang nicht ausreichend Erwähnung gefunden hat, ist die Umgebung, in der die Befragung durchgeführt wird. Je nachdem, wo das Interview stattfindet, (z.B. Zuhause, im Café, am Arbeitsplatz) umfasst die soziale Situation auch die Anwesenheit dritter Personen (vgl. Atteslander, 2006, S. 104; Möhring & Schlütz, 2010, S. 47; Diekmann, 2007, S. 468-469). So kann beispielsweise die Anwesenheit des Ehepartners bei der Beantwortung der Fragen zur Ehe-Zufriedenheit eine gewisse Zurückhaltung hervorrufen, wenn der Befragte bei bestimmten Antworten soziale Sanktionen fürchtet. Nimmt man dies alles zusammen, so wird deutlich, dass die Befragungsmethode kein neutrales Datenerhebungsverfahren sein kann und dass die soziale Situation der Befragung selbst unter Laborbedingungen in ihrer Komplexität nie vollständig erfasst und kontrolliert werden kann (vgl. Atteslander, 2006, S. 104). Die gegebenen Antworten entsprechen insofern nicht immer der wahren Ausprägung des interessierenden Merkmals. Sie sind vielmehr als Indikatoren des zu messenden Merkmals zu begreifen, die durch die soziale Situation verzerrt werden können. Als Antwortverzerrung bezeichnet Cronbach „any tendency causing a person consistently to give different responses to test items than he would when the same content is presented in a different form“ (1946, S. 24) definiert. Sie werden von Reinecke (vgl. 1991, S. 24-25) als Response-Set unter folgenden Arten zusammengefasst:

- Tendenz zu raten
- Tendenz zu lügen
- Tendenz zur Vollständigkeit
- Bevorzugung von mittleren und neutralen Antwortkategorien
- Bevorzugung von Extremkategorien
- Bevorzugung von Geschwindigkeit vor Genauigkeit
- Beurteilungsunterschiede bezüglich Kategorien
- Die inhaltsunabhängige Zustimmungstendenz
- Die Tendenz, sozial erwünscht zu antworten

Die Zustimmungstendenz und die Tendenz zur sozial erwünschten Antworten treten in der Befragungssituation systematisch auf, während die restlichen Arten von ‚ Response-Sets ’ unsystematisch auftreten (vgl. Reinecke, 1991, S. 24-25).

3.5. Zusammenfassung

Im Kapitel drei wurde die Reaktivität in Abhängigkeit vom Strukturierungsgrad die Künstlichkeit der Kommunikation vom persönlichen Interview dargelegt. Dabei wurden Vor- und Nachteile des persönlichen Interviews in Bezug zu interaktionistischen und instrumentalistischen Forschungsparadigmen behandelt. Als Besonderheit des persönlichen Interviews gilt - wie es auch schon die Bezeichnung ‚persönlich’ andeutet - die interpersonale Beziehung zwischen dem Interviewer und dem Befragten. Diese ist vom instrumentellen Charakter des Interviews abzugrenzen. In Anlehnung an Watzlawicks Kommunikationstheorie wurden die sozio-emotionale Dimension des Interviews zur Beziehungsebene und die instrumentelle Dimension zu der Inhaltsebene der Befragung zugeordnet. Auf der Inhaltsebene geht es darum, Antworten auf sozialwissenschaftlich relevante empirische Fragen zu generieren. Auf der Beziehungsebene werden die Bedeutungen der inhaltlichen Kommunikation ausgehandelt.

Die beiden Ebenen stehen in einem engen Verhältnis zueinander und ergeben im Zusammenspiel die Metakommunikation des persönlichen Interviews. Die Kommunikation auf der Metaebene ist von der verbalen Kommunikation abzugrenzen, die nur einen Teil der Interaktion zwischen dem Interviewer und dem Befragten abbildet. Auf der Metaebene fließen die nonverbalen Zeichen in die Kommunikation ein und werden zusammen mit der gestellten verbalen Frage zu einem „Metastimulus“ weiterverarbeitet. Bei diesem Prozess spielen die Merkmale des Befragten eine große Rolle und entscheiden maßgeblich über seine Kooperation mit dem Interviewer. Die Befragungssituation kann als ein multifaktorielles Reaktionssystem beschrieben werden, das aufgrund seiner Komplexität nie vollständig kontrolliert werden kann.

4. Grundlagen der Online-Befragung

Die Online Befragung ist eine internetbasierte Form der Befragungsmethode, die neben der Beobachtungsmethode und der Inhaltsanalyse zu den drei wichtigsten Instrumenten der empirischen Sozialforschung zählt (vgl. Schnell, Hill, & Esser, 2008, S. 319; Taddicken, 2008, S. 37). Weitere Formen der webbasierten Datenerhebung lassen sich in reaktive und nicht-reaktive Verfahren unterscheiden. So differenziert Batinic (vgl. 2004, S. 252) auf Seiten der reaktiven Verfahren zwischen Online-Befragungen, Web-Experimenten, Online-Interviews und Gruppendiskussionen im Web-Chat und auf Seiten der nicht-reaktiven Verfahren zwischen der Server-Log-Analyse und der Beobachtung in virtuellen Welten. Die Datenerhebung bei reaktiven Verfahren wird bedingt durch die Interaktion mit dem Untersucher und beeinflusst das (Antwort-) Verhalten. So tritt der Fragebogenteilnehmer in eine bewusste Interaktion mit dem Untersucher. Die erhobenen Daten müssen deshalb immer auf die Eigenschaften der sozialen Situation bezogen werden.

Bei der Server-Log-Analyse werden hingegen die webbasierten Protokolldateien ausgelesen, die das Nutzungsverhalten der Untersuchungsteilnehmer im Web aufzeichnen. So werden Daten wie Zugriffe Downloads und Verweildauer auf den Webseiten gemessen und analysiert. In dieser Form der Datenerhebung tritt der Untersucher nicht in eine direkte Interaktion mit dem Untersuchungsteilnehmer. Deshalb handelt es sich bei der Server-Log-Analyse um ein nicht-reaktives Datenerhebungsverfahren. Taddicken (vgl. 2008, S. 37) beschreibt die Online-Befragung als eine Unterart der schriftlichen Befragung (vgl. Abb. 2). Bei beiden Befragungsmethoden kommt kein Interviewer zum Einsatz, weshalb diese auch als ‚selbstadministrierte Befragung‘ bezeichnet werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: verbale und schriftliche Befragungsarten

Die Online-Befragung wird als eine Unterart der schriftlichen Befragung dargestellt. Quelle: Taddicken (2008, S. 38)

4.1. Kommunikationsform der Online-Befragung

Taddicken (2008) beschreibt die Befragung als „eine systematische, zielgerichtete und kontrollierte Kommunikation, die in klar definierten Frager- und Antwortrollen stattfindet [...]. Wie und über welches Kommunikationsmedium Interviewer und Proband kommunizieren, repräsentiert damit ein wesentliches Merkmal einer Befragung“ (S. 29). Sie hebt damit die Bedeutung des verwendeten Kommunikationsmediums hervor, das für die Kommunikation der Befragung maßgeblich ist. Die Online-Befragung wird computervermittelt durchgeführt. Für das Zustandekommen von cvK sind mindestens zwei Computergeräte samt Ein- und Ausgabegräte (z.B. Monitor, Tastatur und Maus) erforderlich, die an getrennten Orten miteinander verbunden sind. Darüber hinaus ist auch der Einsatz von mobilen Endgeräten (z.B. Laptops, Smartphones, Tablet PCs) möglich. Wie es bereits der Begriff ‚computervermittelt’ verrät, besteht der Unterschied zu der Face-to-Face-Situation darin, dass die Kommunikation computerbasiert stattfindet. Im weitesten Sinne spielt es keine Rolle, ob die Verbindung beider Computer über das Internet oder über ein lokales Netzwerk realisiert wird. Die Online-Befragung wird jedoch aufgrund der größeren Reichweite üblicherweise über eine Internetverbindung durchgeführt. Darüber hinaus können Befragungen über lokale Netzwerke (z.B. Mitarbeiterbefragungen in firmeneigenen Netzwerken) durchgeführt werden.

Internetdienste werden hinsichtlich zeitlicher Merkmale und Adressierungsmöglichkeiten unterschieden (vgl. Döring, 2004, S. 772; Misoch, 2006, S. 53; Hartmann, 2004, S. 675-676). Die zeitlichen Merkmale betreffen die Synchronizität der Kommunikation, bei der ein zeitgleicher Austausch zwischen den Beteiligten stattfindet. Als Paradebeispiel für die synchrone cvK dürfte der WWW-Chat gelten, bei dem die Beteiligten zur gleichen Zeit Informationen austauschen können. Bei der Email-Kommunikation und bei Foren oder Newsgroups werden die verfassten Texte dagegen zu unterschiedlichen Zeitpunkten abgerufen und erwidert. In diesem Fall spricht man von asynchroner Kommunikation.

Die Unterscheidung der Internetdienste nach der Adressierungsmöglichkeit betrifft die Reichweite der Botschaften, die in drei Kategorien unterschieden wird:

- One-to-one: Gemeint ist die dyadische Kommunikationsstruktur, bei der zwei Personen miteinander kommunizieren.
- One-to-many: Wie es am Beispiel von Webseiten der Fall ist, adressiert der Kommunikator (Webseitengestalter) die Besucher seiner Homepage. Es gibt keinen Rückkanal, über den Mitteilungen empfangen werden können.
- Many-to-many: Bei dieser Art der Adressierung werden kollektive Botschaften ins Netz gestellt, die von allen Besuchern des Forums gelesen und beantwortet werden können (wie z.B. bei Internet-Foren).

4.2. Die Entkörperlichung der cvK

Die Alokalität und die Asynchronität der cvK ermöglichen die zeitliche und räumliche Flexibilität der Kommunikation. Die Kommunikation ist nicht mehr an Kopräsenz gebunden. Sie wird auf einen Web-Server verlagert und durch Computer vermittelt. Die Vermittlung durch den Computer hat dabei weitreichende Folgen für die Kommunikation. Die nonverbalen Kommunikationskanäle, die bei der Face-to-Face-Kommunikation greifen (vgl. Kap. 2.1), sind bei der cvK nicht in ihrer vollen Bandbreite verfügbar. Je nach Ausstattung des Computergeräts und der Auswahl des Internetdienstes (z.B. Chat) können zwar visuelle und auditive Kanäle angesprochen werden. Doch taktile, olfaktorische oder gustatorische Austauschformen sind nicht möglich. Sofern die notwendige Hardware (Webcam, Monitor, Mikrofon, Lautsprecher) verfügbar ist, können durch die Audiovisualität para-, und nonverbale Informationen wie Mimik oder Stimmeigenschaften beteiligter Personen vermittelt werden. Die Audiovisualität ist jedoch nach Qualität und Positionierung der Hardware in großem Maße eingeschränkt(vgl. Taddicken, 2008, S. 85). Die Körperlichkeit des Kommunikationspartners wird technologisiert. Die unmittelbare, lokale Interaktion findet mit dem Computer statt, wodurch bei der cvK die Aspekte der Mensch-Computer-Interaktion (MCI) und relevant werden(vgl. Krämer, 2004; Wandke, 2004).

4.3. Modelle der computervermittelten Kommunikation

Die Beschaffenheit und die Wirkungsaspekte der cvK sind wichtige Gegenstandsbereiche der Sozialpsychologie, die aus unterschiedlichen Ansätzen kontrovers diskutiert werden. Im Folgenden werden einige dieser Ansätze vorgestellt, die für die soziale Situation der Online-Befragung relevant sind.

4.3.1. Kanalreduktionsmodelle

Die Kanalreduktionsmodelle lassen sich im Kern durch den Bezug auf textbasierte cvK erklären, bei der die Kommunikationsinhalte in Form von getippten Texten visualisiert werden. Aus heutiger Sicht sind diese Annahmen zu relativieren, da die cvK durch die zunehmende Multimedialität sich immer weiter von der Textlichkeit entfernt. Bei den Kanalreduktionsmodellen wird die Face-to-Face-Kommunikation als die idealtypische Form der menschlichen Kommunikation angesehen, die durch Emotionalität, Ambiguität, Unkalkulierbarkeit und durch Stimmungen geprägt ist (vgl. Döring, 2003, S. 149-150). Die Entkörperlichung der cvK führt nach Kanalreduktionsmodellen zum Verlust des sozialen Kontexts und zur Entmenschlichung der Kommunikation. In Folge dessen wird die Kommunikation entsinnlicht. Aus dieser Perspektive wird die cvK im Vergleich zur Face-to-Face-Kommunikation als defizitär angesehen. Diesen Ansätzen liegt das S-R-Modell zugrunde, wonach alleinig die Eigenschaften des Kommunikationsmediums die Beziehung zwischen den Kommunikatoren bestimmen (vgl. Hartmann, 2004, S. 678). In Adaption zu Watzlawicks Kommunikationstheorie wird hier von Ausblendung der Beziehungsebene bei der cvK ausgegangen. Differenziertere Ansätze der Kanalreduktionsmodelle bilden die Filtertheorien „Social Presence Theory“ (Short, Williams, & Christie, 1976), „Social Cues Filtered out Approach“ (Kiesler, Siegel, & McGuire, 1984; Kiesler, 1986). Bei diesen Ansätzen wird nicht pauschal von einem Informationsverlust bei der cvK ausgegangen. Viel mehr nimmt man die Reduktion von sozialen Hinweisreizen in der cvK an, die mit der Herausfilterung von nonverbalen Informationen begründet wird.

In Bezug auf die sozio-emotionale Dimension der cvK bildet die Social Presence Theory (Short, Williams, & Christie, 1976) einen wichtigen Ansatz, der sich mit der sozialen Präsenz der Kommunikationspartner beschäftigt. Die Autoren entwickelten ihren Ansatz im Kontext von medienvermittelten Konferenzen, bei denen Telefon- und Video-Kommunikation eine große Rolle spielen. Short et al. (1976) definieren die soziale Präsenz als „the degree of salience of the other person in the interaction and the consequent salience of the interpersonal relationships„ (S. 64). Die soziale Präsenz wird demnach als das Ausmaß verstanden, in dem die gefühlte Gegenwart einer Person wahrgenommen wird. Bei dieser Theorie handelt es sich, ähnlich wie bei der Social-Cues-Filtered-Out-Approach um einen technikzentrierten Ansatz. Die soziale Präsenz wird nicht als ein Konstrukt der Wahrnehmung, also als eine psychologische Größe, sondern als eine stabile Eigenschaft des Kommunikationsmediums verstanden:

We regard social presence as being a quality of the communications medium. Although we would expect it to affect the way individuals perceive their discussions, and their relationships to the persons with whom they are communicating, it is important to emphazise that we are defining social presence as a quality of the medium itself. We hypothesize that communications media vary in their degree of social presence, and that these variations are important in determining the way individuals act. (Short, Williams, & Christie, 1976, S. 65)

Soziale Präsenz ist demzufolge eng an die Anzahl der Kommunikationskanäle geknüpft, die das Kommunikationsmedium zur Verfügung stellt. Dementsprechend kann bei der cvK kaum Intimität aufgebaut werden. Als Idealform der menschlichen Kommunikation wird die Face-to-Face-Kommunikation betrachtet, bei der alle Kommunikationskanäle zur Verfügung stehen. Die Kommunikationsmedien können nach den zur Verfügung stehenden Kommunikationskanälen in eine Rangfolge gebracht werden (vgl. Tab. 2) Diese Sicht von Short et al. wird allerdings im Kontext unterschiedlicher Nutzugsszenarien abgemildert. So kommen die Autoren zu dem Schluss, dass Medien mit geringer sozialer Präsenz sich durchaus für Prozesse der Informationsvermittlung sowie für simple Aufgaben eignen (vgl. Short, Williams, & Christie, 1976, S. 158).

[...]

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
Sozioemotionale Dimension der Onlinebefragung
Untertitel
Eine methodenanalytische Betrachtung der Onlinebefragung in Abgrenzung zur Face-to-Face-Befragung
Hochschule
Universität zu Köln  (Humanwissenschaftliche Fakultät )
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
85
Katalognummer
V197218
ISBN (eBook)
9783656350408
ISBN (Buch)
9783656350781
Dateigröße
2945 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
sozio-emotionale, dimension, onlinebefragung, eine, betrachtung, abgrenzung, face-to-face-befragung
Arbeit zitieren
Tayyar Cengiz (Autor:in), 2011, Sozioemotionale Dimension der Onlinebefragung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/197218

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