Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Vorgehen
2. Auf der Suche nach Wesensmerkmalen eines modernen Märchens
2.1 Was ist ein Märchen
2.2 Morphologische und inhaltliche Betrachtung des Märchens
2.3 Figuren des Märchens
2.4 Das Kunstmärchen
3. Grundlegende Feststellung - Volksmärchen oder Kunstmärchen
4. Ein Vergleich mit dem prototypischen Handlungsverlauf eines Märchens
4.1 Der Start
4.2 Die Reise
4.3 Der Schluss
5. Märchenhafte Figuren in Harry Potter und der Stein der Weisen
5.1Ist Harry Potter ein Märchenheld
5.2 Die Nebenfiguren
5.3 Wundersame Wesen
6. Themen und Motive des Märchens in Harry Potter und der Stein der Weisen
7. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Harry Potter-Romane erweisen sich über alle Ländergrenzen hinaus als Kassenschlager. Filme werden gedreht, illegale Raubkopien kursieren im Internet und Buchläden führen Sonderveranstaltungen zu den Erscheinungsterminen der Folgeromane durch. Kinder, Jugendliche und Erwachsene lesen die Bücher Joann K. Rowlings mit großer Begeisterung und es bilden sich Fan-Foren im Internet, in denen eifrig über die Auslegung der Harry Potter- Elemente debattiert wird.
Was also ist das Erfolgsrezept der Romanreihe? Aus welchen Zutaten setzen sich die Bücher zusammen? Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist die Gattung der Harry Potter-Romane irgendwo zwischen Phantastischer Literatur, Abenteuerroman, Internatsgeschichte, Kriminalgeschichte und Adoleszenzroman anzusiedeln (vgl. Bak 2004, S. 88; Karg & Mende 2010, S. 184). Selten und wenn, dann meist zuletzt, konstatiert man auch märchenhafte Einflüsse (vgl. Mattenklott 2001, S. 34). Ziel dieser Arbeit ist es diese märchenhaften Elemente zu finden und kritisch zu hinterfragen. Dabei soll nicht die Behauptung bewiesen werden, dass die Harry Potter Romane zur Gattung „Märchen“ gehören würden. Dies soll auf Grundlage des ersten Bandes Harry Potter und der Stein der Weisen geschehen, da eine Analyse anhand mehrerer Bände der Reihe den Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde.
1.1 Vorgehen
Nach der Einleitung werden im zweiten Kapitel grundlegende Merkmale des Märchens geklärt und das Kunstmärchen vom Volksmärchen abgegrenzt. Im folgenden Teil wird geklärt ob die Kategorien des Kunst- oder des Volksmärchens auf den Primärtext anzuwenden sind. Im vierten Kapitel wird der exemplarische Handlungsablauf eines Märchens mit dem Primärtext verglichen. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit den märchenhaften Elementen der Figuren im Primärtext. Der sechste Teil beschäftigt sich mit der Suche nach märchentypischen Themen und Motiven im Primärtext, diese werden kritisch analysiert. Das siebte Kapitel fasst die gewonnen Ergebnisse zusammen, stellt sie in Beziehung zu einander und gibt einen Ausblick über ihre Aussagekraft.
2. Auf der Suche nach Wesensmerkmalen eines modernen Märchens
2.1 Was ist ein Märchen?
„Märchen sind zum Teil mündlich tradierte, meist formelhafte Prosaerzählungen, in denen >selbstverständliche< Wunder begegnen“ schreibt Rölleke (2009, S. 508) im Handbuch der literarischen Gattungen. Wortgeschichtlich betrachtet liegt der Ursprung im mittelhochdeutschen „maere“ bzw. althochdeutschen „mari“ was „Kunde“ oder „Nachricht“ bedeutet (vgl. Lüthi 1979, S. 1). Die Entwicklung zum Diminutiv „Mär-chen“ deutet nicht etwa auf die Länge bzw. Kürze hin, sondern auf den unglaublichen Gehalt der Botschaft. Während der Romantik in Deutschland wandelte sich die Bedeutung abermals in positiver Hinsicht vom „unglaublichen“ zum „phantastischen“ Gehalt des Märchens (vgl. Lange 2004, S. 8). In einer weiten Begriffsauslegung fällt unter die Kategorie „Märchen“ eine große Menge an Geschichten aus dem Volksgut, dazu gehören auch Mythen, Sagen und Legenden (vgl. Zitzlsperger 2007, S. 12). Erst durch das von Antti Amatus Aerne und Stith Thompson geschaffene Verzeichnis aller vorhandenen Märchentypen im europäischen Raum, konnte man von Märchen im engeren Sinne sprechen.1
Folgende sekundäre Gattungsmerkmale sind festzustellen: Ort- und Zeitlosigkeit, eine Vorliebe für bestimmte Requisiten, Farben und Zahlen samt einem zur bewussten Wiederholung neigendem Erzählstil (vgl. Rölleke 2009, S. 509). Hinzu kommt eine Typenhaftigkeit und Namenlosigkeit der Figuren (ebd.), wobei oft Ausnahmen wie Allerweltnamen und sprechende Namen anzutreffen sind (vgl. Klotz 2002 S. 10). Lange und Ziesenis (2011, S. 231) berufen sich auf den Märchenforscher Max Lüthi und arbeiten dagegen folgende Kennzeichen für das europäische Märchen heraus: Eindimensionalität, Flächenhaftigkeit, abstrakter Stil, Isolation und Allverbundenheit, Sublimation und Welthaltigkeit. Mit „Eindimensionalität“ ist die Verschmelzung von realistischer und phantastischer Welt gemeint. „Flächenhaftigkeit“ beschreibt die modelartige Darstellung der Charaktere im psychologischen Sinn. Der „abstrakte“ Stil bringt ein übertrieben kontrastreiches und polarisierendes Verhältnis der Figuren im Märchen zum Ausdruck.2 „Isolation“ steht für die abgetrennten Handlungen und Lehren eines Märchens, die Figuren entwickeln sich nur innerhalb dieser einen Erzählung und beginnen im nächsten Märchen wieder bei null. „Allverbundenheit“ verleiht den Protagonisten die Fähigkeit mit allen Dingen und Figuren der Märchenwelt zu kommunizieren. Die „Sublimation“ bringt eine unrealistische Darstellung der Dinge und Geschehnisse mit sich. „Welthaltigkeit“ meint, dass die Themen und Motive das ganze Spektrum an menschlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen wiedergeben (Lange 2004, S. 14). Dabei spielen vor allem menschliche Wünsche und Motive des Wunderbaren eine große Rolle (Lange & Ziesenis 2011, S. 232).
2.2 Morphologische und inhaltliche Betrachtung des Märchens
Morphologisch betrachtet weisen Märchen eine Drei- oder Fünfteiligkeit auf (ebd.): Anfangs steht eine „Mangel- oder Konfliktsituation“ (ebd., S. 232f.). Die Weltordnung des Märchens ist gestört und will wieder hergestellt werden. Der Märchenheld muss aus der Heimat in die Fremde ziehen, um dort den Mangel zu beheben bzw. den Konflikt zu lösen. Gefahren und Aufgaben müssen in fremden Reichen überwunden und gelöst werden, dabei ist der Ort der Bewährung häufig der Wald (vgl. Lange 2004, S. 21). Dieser Akt wird von Lüthi als „Suchwanderung“ (1973, S. 108) bezeichnet und steht im metaphorischen Sinne für die Suche nach sich selbst. Auf seinem Weg trifft der Märchenheld auf übersinnliche Kräfte, die ihn entweder fördern oder von seinem Märchenglück abhalten. Dies kann „auch als Nachzeichnung eines Reifungsprozesses“ (Rölleke 2009, S. 509) gedeutet werden. In diesem Zusammenhang muss auch festgehalten werden, dass Märchen ursprünglich von „Erwachsenen, für Erwachsene erdacht wurden“ (Wienker-Piepho 2007, S. 74). Des Weiteren wird in der Handlung eine „naive Ästhetik“ (vgl. Klotz 2002 S. 17) entworfen. „Die Guten werden belohnt, die Bösen werden bestraft“ (ebd.). Schlussendlich löst sich die Geschichte in einem Happy End auf und der Erzähler zieht sich mit einer formelhaften Redewendung zurück (vgl. Lange & Ziesenis 2011, S. 233).
2.3 Figuren des Märchens
Der Märchenheld hat „keine differenzierten Charaktereigenschaften. Er ist in der Regel nichts weiter als arglos, unbekümmert und tatkräftig“ (Klotz 2002, S. 18). Oft fällt der Märchenheld durch Schwächen auf und wirkt seiner Umwelt schlecht angepasst (ebd., S. 13).3 Weiter heißt es, dass der Märchenheld im Fokus des Geschehens steht und die anderen Protagonisten nur Funktionsträger, im Sinne von Gegenspielern und Förderern des Helden, sind. Diese gehören oft „einer außermenschlichen Welt an“ (Zitzlsperger 2007, S. 20) und haben „keine konkrete soziale Zugehörigkeit“ (ebd., S. 21), eher sind sie figurengewordene Kräfte, die dem Märchenhelden in einer bestimmten Art und Weise gegenüberstehen. Darüber hinaus werden im Verhalten der Figuren viele „grundethische Werte“ (ebd., S. 15) dargestellt. „Dazu zählen tragende Handlungsformen wie Freundschaftsfähigkeit, Vertrauen, Treue und Verlässlichkeit“ (ebd.) und ein behutsamer Umgang mit der Natur, Pflanzen und besonders Tieren (ebd.).
2.4 Das Kunstmärchen
„Unter Kunstmärchen versteht man märchenhafte Geschichten mit fantastischen Elementen“ (ebd., S. 87). Als Blütezeit des Kunstmärchens gilt die Romantik. In dieser Epoche werden viele Elemente des Volksmärchens aufgegriffen, allerdings in unterschiedlicher Stärke und Ausprägung (vgl. Klotz 2002, S. 8). So weist es nun einen namentlich bekannten Autor auf und das konstitutiv Wundersame entwickelt sich erst „in der Auseinandersetzung mit dem rationalistischen Weltbild“4 (vgl. Apel 1978, S. 25), hinzu kommen konkrete Ort- und Zeitangaben. In den wundersamen Elementen soll neben Unterhaltung nun auch Belehrendes vermittelt werden (vgl. Mayer & Tismar 2003, S. 3). Außerdem „verfügen Kunstmärchen nicht über den hohen Grad an Abstraktion und Flächenhaftigkeit [...] wie Volksmärchen“ (Zitzelsperger 2007, S. 87). Allgemein ist es jedoch umstritten ob, das Kunstmärchen eine eigenständige Gattung darstellt, da einerseits die Parallelen zum Volksmärchen stark ausgeprägt sind und andererseits eine Fülle von sehr unterschiedlichen Texten beansprucht, zu dieser Gattung zu gehören. Um nur einen der vielen Kritiker zu Wort kommen zu lassen: „[das Märchen] passt sich seiner Zeit an wie ein Chamäleon seiner Umgebung, es verwandelt sich beständig“ (Richter 2005, S. 24). Das Märchen eine Gattung zu nennen sei falsch, es sei „eher ein Vehikel der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit in vielen Formen und Gattungen, ist Mobilisierung phantastischer Kräfte gegen das Sosein der Welt“ (ebd.).
3. Grundlegende Feststellung - Volksmärchen oder Kunstmärchen?
Offensichtlichstes Merkmal eines Kunstmärchens ist ein vorhandener Autor und somit auch ein feststehender literarischer Text. Bei Harry Potter und der Stein der Weisen ist die Autorin, Joanne K. Rowling, bekannt. Auch der Text liegt in einer einzigen Form vor und ist nicht mündlich überliefert worden. Die Zauberwelt, in der die Schule Hogwarts steht, ist eindeutig durch einen Geheimgang und eine Zugfahrt (vgl. Rowling 1998, S. 104-123)5 getrennt von der realistischen Welt der Muggel6. Lüthis Merkmal der Eindimensionalität für das Volksmärchen ist hier widerlegt. Auch wirkt die Zauberwelt Rowlings wie ein Gegenentwurf zur realistischen Welt (vgl. Karg & Mende 2010, S. 209f.), was ein weiterer Beweis für das Merkmal der Mehrdimensionalität des Kunstmärchens ist. Die Figuren werden, selbst wenn man Harry Potter und der Stein der Weisen als abgeschlossenes Werk und nicht als ersten Teil einer siebenteiligen Romanreihe betrachtet, facettenreich und mit einem psychologischenInnenleben dargestellt. Sie sind also nicht reine Funktionsträger und widersprechen damitdem Merkmal der Flächenhaftigkeit von Volksmärchen. Ort und Zeit, nämlich London bzw.England und genaue Datierungen7 sind genauso wie eine stilistische Abhebung von EingangsundSchlussformeln, wie „es war einmal...“, gegeben. Zusammenfassend kann man festhalten,dass es sinnvoll erscheint nach Elementen des Kunstmärchens zu suchen, da mehrerePrimärmerkmale des Volksmärchens schon bei einer oberflächlichen Betrachtung von HarryPotter und der Stein der Weisen auszuschließen sind.
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1 Selbst die Grimm`sche Märchendefinition trifft nur auf ca. jedes dritte Märchen aus dem Fundus der 200 Kinder- und Hausmärchen zu.
2 Sie sind nur „gut“ oder „böse“, „reich“ oder „arm“ (vgl. Klotz 2002, S. 18).
3 Oft ist er der Jüngste, der Dümmste, der Kleinste
4 Damit ist Lüthis Kategorie der „Eindimensionalität“ für das Kunstmärchen entkräftet.
5 Im weiteren Verlauf wird für den Primärtext die Sigle „Row“ ohne die Nennung des Veröffentlichungsjahres verwendet.
6 Muggle sind in den Harry Potter-Romanen Menschen, die kein Talent zum Zaubern haben und auch nichts von der Zauberwelt wissen. Sie leben nur in der realistischen Welt.
7 zum Beispiel Harrys Geburtstag (vgl. Row, S. 53) oder der Überfall am 31. Juli auf die Zauberbank Gringotts(ebd., S. 158).