Revolution und Macht sind zwei Begriffe, die in dem Leben von Wladimir Iljitsch Uljanow
(Lenin) eine große Rolle gespielt haben. Die Revolution bestimmte sein Leben, noch bevor er
selber aktiv daran teilnahm. Sie verhalf ihm später zu der Macht, mit deren Hilfe er versuchte,
eine bessere politische Umgebung für sein Volk zu schaffen.
Wie die sowjetische Regierung ab 1917 unter Lenin das vorhandene Staatssystem umgeformt,
bzw. neu aufgebaut hat, und welche Konsequenzen das für die Wirtschaft und die Bürger
Rußlands hatte, wird im Hauptteil ausgeführt und untersucht. Dabei begrenze ich den ersten
Teil des Hauptteils auf das erste Jahr nach der Oktoberrevolution, auf die Anfänge der
Machtübernahme und die damit verbundenen Neuerungen. Im zweiten Teil wird dann auf die
Rote Armee, den Bürgerkrieg und die Planwirtschaft und daraus folgende Ökonomie
eingegangen. Die Vorgeschichte zur Oktoberrevolution wird lediglich in der Einleitung kurz
erläutert, um den Einstieg in die Thematik zu erleichtern. Das neue Regierungssystem wurde
sehr komplex, viele einzelne Details können in diesem Rahmen nur kurz angesprochen
werden, um einen Gesamtüberblick der Situation zu ermöglichen.
Ich habe dabei als Quellen vor allem Rudi Dutschkes „Versuch, Lenin auf die Füße zu
stellen“ zum Verständnis der Theorien Lenins, und Helmut Altrichters „Staat und Revolution
in Sowjetrussland 1917-1922/23“ verwendet, um ein Bild von der damaligen Situation in
Rußland zu bekommen. Eine weitere Hauptquelle waren die Originaltexte Lenins in den
„Ausgewählten Werke in drei Bänden“.
Im Jahr 1917 war das zaristische Russland ein ökonomisch rückständiges Land. Das
Volkseinkommen betrug nur ungefähr ein Zehntel dessen der USA. Ein Großteil des Landes
war durch die Landwirtschaft geprägt, die eigentlich eher typisch für das 17. Jahrhundert war.
Hunger und Armut bestimmten den Alltag der Bauern. Etwa 30.000 Großgrundbesitzer waren
im Besitz von ebensoviel Land wie ungefähr zehn Millionen Familien kleinerer Bauern.
Dennoch entstand zwischen dieser wirtschaftlichen und kulturellen Rückständigkeit auch eine
fortschrittliche Weiterentwicklung: Der zaristische Staat führte einen militärischen
Konkurrenzkampf mit den moderneren kapitalistischen Staaten des Westens. [...]
Gliederung
B. I. Der Aufbau des sowjetischen Regierungssystems unter Lenin
1.1. Übergangsgremien
1.2. Die Räteadministration
1.3. Die neue Wirtschaftsordnung
II. Wandel und Neuanfang durch den Bürgerkrieg
1.1. Die Rote Armee und die Milizidee
1.2. Der Beginn der Planwirtschaft
1.3. Neue Ökonomische Politik (NEP) und die Liberalisierung der Agrarrechte
C. Waren Lenins Theorien ausgereift genug, um vor den Herausforderungen der praktischen Realität zu bestehen?
An die Bürger Rußlands!
Die Provisorische Regierung ist gestürzt. Die Staatsmacht ist in die Hände des Organs des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, des Revolutionären Militärkomitees übergegangen, das an der Spitze des Petrograder Proletariats und der Petrograder Garnison steht.
Die Sache, für die das Volk gekämpft hat: das sofortige Angebot eines demokratischen Friedens, die Aufhebung des Eigentums der Gutsbesitzer an Grund und Boden, die Arbeiterkontrolle über die Produktion, die Bildung einer Sowjetregierung – sie ist gesichert.
Es lebe die Revolution der Arbeiter, Soldaten, Bauern!
Das Revolutionäre Militärkomitee
beim Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten
25.Oktober 1917, 10 Uhr morgens[1]
A.
Revolution und Macht sind zwei Begriffe, die in dem Leben von Wladimir Iljitsch Uljanow (Lenin) eine große Rolle gespielt haben. Die Revolution bestimmte sein Leben, noch bevor er selber aktiv daran teilnahm. Sie verhalf ihm später zu der Macht, mit deren Hilfe er versuchte, eine bessere politische Umgebung für sein Volk zu schaffen.
Wie die sowjetische Regierung ab 1917 unter Lenin das vorhandene Staatssystem umgeformt, bzw. neu aufgebaut hat, und welche Konsequenzen das für die Wirtschaft und die Bürger Rußlands hatte, wird im Hauptteil ausgeführt und untersucht. Dabei begrenze ich den ersten Teil des Hauptteils auf das erste Jahr nach der Oktoberrevolution, auf die Anfänge der Machtübernahme und die damit verbundenen Neuerungen. Im zweiten Teil wird dann auf die Rote Armee, den Bürgerkrieg und die Planwirtschaft und daraus folgende Ökonomie eingegangen. Die Vorgeschichte zur Oktoberrevolution wird lediglich in der Einleitung kurz erläutert, um den Einstieg in die Thematik zu erleichtern. Das neue Regierungssystem wurde sehr komplex, viele einzelne Details können in diesem Rahmen nur kurz angesprochen werden, um einen Gesamtüberblick der Situation zu ermöglichen.
Ich habe dabei als Quellen vor allem Rudi Dutschkes „Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen“ zum Verständnis der Theorien Lenins, und Helmut Altrichters „Staat und Revolution in Sowjetrussland 1917-1922/23“ verwendet, um ein Bild von der damaligen Situation in Rußland zu bekommen. Eine weitere Hauptquelle waren die Originaltexte Lenins in den „Ausgewählten Werke in drei Bänden“.
Im Jahr 1917 war das zaristische Russland ein ökonomisch rückständiges Land. Das Volkseinkommen betrug nur ungefähr ein Zehntel dessen der USA. Ein Großteil des Landes war durch die Landwirtschaft geprägt, die eigentlich eher typisch für das 17. Jahrhundert war. Hunger und Armut bestimmten den Alltag der Bauern. Etwa 30.000 Großgrundbesitzer waren im Besitz von ebensoviel Land wie ungefähr zehn Millionen Familien kleinerer Bauern.
Dennoch entstand zwischen dieser wirtschaftlichen und kulturellen Rückständigkeit auch eine fortschrittliche Weiterentwicklung: Der zaristische Staat führte einen militärischen Konkurrenzkampf mit den moderneren kapitalistischen Staaten des Westens. Daher musste er die Industrialisierung des Landes vorantreiben.
So wurde 1901 die 7000 km lange Transsibirische Eisenbahn fertiggestellt, die Schwerindustrie wuchs zwischen 1895 und 1900 um 9,5% und damit schneller als die der meisten entwickelten Ländern.
Außer den Bauern war eine etwa vier Millionen starke Arbeiterklasse entstanden, die vom Land in die Städte gezogen war, um dort Arbeit zu finden. Auch hier herrschte eine beeindruckende Ambivalenz: Die Fabriken Rußlands waren zu der Zeit die weltweit größten, bekannten Unternehmen. 41% der russischen Industriearbeiter arbeiteten in Fabriken mit mehr als 1000 Beschäftigten, in den USA waren es nur 18%. Mit Hilfe von Krediten und durch ausländische Kapitalinvestitionen hatte Rußland, als Teil der Weltwirtschaft, eine ganze Entwicklungsstufe übersprungen, die Manufaktur als Vorstufe der Fabrik blieb praktisch unbekannt.
Was fehlte war eine selbstbewußte, revolutionäre, bürgerliche Klasse. Die russische Bourgeoisie schreckte vor dem Kampf gegen die Autokratie zurück. Sie befürchteten, die Befreiung der Arbeiter aus dem Joch der Großgrundbesitzer könnte zur Folge haben, dass die Arbeiter das bürgerliche Eigentum in Frage stellen würden. Das wiederum hatte zur Folge, dass die zaristische Familie 1917 Herrscher einer Gesellschaft war, in der die Bauern immer unzufriedener mit ihrer Unterdrückung wurden und das Proletariat seine Ansprüche anzumelden begann. Der Zar versuchte durch politische Unterdrückung, das Verbot von Streiks und Gewerkschaften und ähnliche Erlasse den Aufruhr zu verhindern. Doch der Erste Weltkrieg verstärkte den Unmut der Unterdrückten nur noch mehr. Soziale Widersprüche führten zu einer bürgerlichen Wut, die nicht mehr aufzuhalten war.
Das besondere an dieser Revolution war, dass der Aufstand der Bauern gegen den Großgrundbesitz mit der Revolution der Arbeiter gegen den modernen Kapitalismus kombiniert wurde. Das war einer der Gründe, warum Lenin sich in der Richtigkeit seiner umgearbeiteten Theorien des Karl Marx bestätigt sah.
Im Februar 1917 streikten und demonstrierten die hungernden und frierenden Arbeiter Petrograds für höhere Löhne, gegen die Schließung von Fabriken durch die Kapitalisten und gegen den Brotmangel. Am 23. Februar, dem internationalen Frauentag, demonstrierten russische Frauen gegen die überall umgreifende Hungersnot. Einige trugen Transparente gegen die Zarenherrschaft mit sich. Die Streiks gingen weiter, der Befehl des Zaren auf Demonstranten zu schießen, wurde nicht ausgeführt. Schon jetzt war seine Autorität zerbrochen, viele seiner Soldaten demonstrierten mit den Revolutionären. Am 28. Februar wurden die Minister des Zaren verhaftet. Diese Ereignisse wurden von keiner Partei initiiert. Die Menschen begannen zu kämpfen, weil die Zustände unerträglich geworden waren.
Lenin befand sich aufgrund seiner vorherigen politischen Aktivitäten im Exil in der Schweiz.
Nach diesem ereignisreichen Februar bildete sich eine Form der Doppelherrschaft heraus. Das eine Machtzentrum bildete die provisorische Regierung. Zunächst eine rein bürgerliche Regierung stand ihr ab Juli ein Sozialrevolutionär, Kerenskij, vor. Wie auch die Menschewiki (die reformistischen Sozialdemokraten) betonte er, die Revolution habe sich auf die Vollendung der bürgerlichen Revolution zu beschränken. Immer wieder wurde die Einführung eines Parlamentes, einer Verfassunggebenden Versammlung, für Dezember versprochen. Bis dahin wurden die Arbeiter aufgefordert sich ruhig zu verhalten, um die liberale Bourgeoisie nicht zu verschrecken. Der Unmut der Arbeiter und Bauern wuchs, denn entgegen aller Erwartungen ging der Krieg weiter, der Großgrundbesitz war noch immer nicht zerschlagen, die Arbeiter hungerten. Als Kerenskij den Krieg mit einer Offensive fortsetzen wollte, desertierten Zehntausende, die Bauern gingen einfach zurück in ihre Dörfer. Da die Regierung den Bauern das Land wiederholt versprach, aber den Großgrundbesitz faktisch nicht antastete, handelten die Bauern. Im Herbst erstreckten sich Bauernaufstände über drei Viertel des Russischen Territoriums.
Die beeindruckendste Erscheinung der Revolution aber waren die nun entstehenden Fabrikkomitees und Arbeiterräte, mit denen die Arbeiter an die Tradition der Revolution von 1905 anknüpften. Sie wurden das Rückgrat der Revolution, sie gaben dem kollektiven Willen der Arbeiter Ausdruck.
So wie die Bauern das Land für sich beanspruchten, so forderten die Arbeiter die Kontrolle über die Fabriken. Sie forderten nicht nur den Achtstundentag, sondern auch die Kontrolle des Managements und die Wahl der Vorarbeiter durch die Arbeiter. In allen großen Fabriken, aus den Stadtbezirken, aus den Militäreinheiten wählten die Menschen Vertreter ihres Vertrauens in die Räte. Diese Praxis war sehr demokratisch, weil in den Betrieben jeder reden konnte und das Recht auf freie politische Organisation bestand. Gleichzeitig war das System zentralistisch, weil die Arbeiter Delegierte in die Räte schickten. Diese Vertreter konnten jederzeit weder abgewählt werden. Das Rätesystem bot die Voraussetzung für die Aufhebung der Trennung von wirtschaftlicher und politischer Macht. Die Menschen strebten nach Selbstbestimmung in allen Bereichen des Lebens. Die Arbeiter wurden von passiven Beobachtern Handelnde der Geschichte; von der duldenden Masse zu Menschen, die um Einsicht in ihre Situation kämpften und sie tatkräftig selber mittels ihrer eigenen Machtorgane zu verändern.
Das geistige Wachstum der Arbeiter hätte es nicht geben können, hätte die Revolution die Gesellschaft nicht bis ins Mark erfaßt
Lenins Bolschewiki standen dieser Selbstaktivität der Menschen absolut enthusiastisch gegenüber, ihr Hauptslogan war: „Alle Macht den Räten!“. Lenin sah in ihnen die Organe, mittels derer die Arbeiter ihre eigene Herrschaft befestigen sollten. Als sein Bruder Jahre zuvor versucht hatte, die Revolution der Bauern zu initiieren, waren diese noch nicht bereit gewesen. Jetzt war der rechte Augenblick für eine durchgreifende Revolution. Vehement kämpfte er gegen jede Form von Putschismus oder Stellvertretertum.
Die Erkämpfung des Sozialismus konnte nicht das Werk einer kleinen Minderheit oder einer Partei sein, die Befreiung der Arbeiter mußte ihr eigenes Werk sein. Als im Juli in Petrograd die Stimmung aufkochte, eine immer größere Zahl von Arbeitern das Vertrauen in die Provisorische Regierung verlor und den Umsturz verlangte, forderte Lenin zu Zurückhaltung auf, weil der Rest des Landes für den Aufstand noch nicht reif war.
Die bolschewistische Partei war kein Verschwörerzirkel, sondern setzte von Februar bis Oktober ihre Kraft dafür ein, in den Fabriken Unterstützung für ihre Forderungen nach sofortigem Frieden, nach Räteherrschaft und Landverteilung an die Bauern zu gewinnen. Ihr Einfluß wuchs gewaltig, revolutionäre Ideen wurden für immer mehr Menschen logisch und durchführbar. Immer mehr Arbeiter brachen mit den Menschewiki, die ihnen einreden wollten, die Macht an eine ihnen nicht verantwortliche Regierung abzugeben.
Von Juni bis Oktober erhöhten die Bolschewiki den Anteil ihrer Delegierten auf den Rätekongressen von 13% auf 51%. In den Fabrikkomitees, in den Zentren der Arbeiterbewegung war ihr Einfluß noch größer: Auf der Petrograder Konferenz der Fabrikkomitees stellten die Bolschewiki schon im Juni 2/3 der Delegierten.
Die Arbeiter hatten nicht nur faktisch die Macht, sie wurden sich dessen mehr und mehr bewußt. Die Bolschewiki forderten sie nun auf, die Macht vollständig zu ergreifen. Schließlich legte der Umsturz im Oktober die Macht ganz offiziell in die Hände der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte. Lenin glaubte fest an die Fähigkeit der Masse, eine neue Gesellschaftsordnung zu schaffen. So schreibt er bereits im April 1917:
„Die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten, Bauern- usw. Deputierten werden nicht bloß in der Hinsicht verkannt, daß der Mehrheit ihre Klassenbedeutung, ihre Rolle in der russischen Revolution unklar ist. Verkannt werden sie auch noch insoweit, als sie eine neue Form, richtiger gesagt, einen neuen Typus des Staates darstellen.“[2]
Betrachtet man den Verlauf des Jahres 1917 und die Machtergreifung der Bolschewiki unter ihrem Führer Lenin im Gesamten, bestätigt sich die Theorie Niccolo Macchiavellis:
Die „necessita“, die Notwendigkeit zum Wandel war erreicht. Lenin hatte in seinem jahrelangen Exil durch seine Studien die „virtu“, die vortreffliche Handlungskompetenz erreicht, um seine „occasione“, seine Gelegenheit zu nutzen. Im Verlauf der folgenden Jahre versuchte er nun, mit Hilfe seiner „virtu“ ein Staatskonzept aufzubauen, dass die „fortuna“ übertroffen wird und die „necessita“, die historische Gesetzmässigkeit des Wandels ausbleiben kann. Die Nutzung der „qualita die tempi“, die Analyse der Zeit durch das Studium der Geschichte schien ihm vorerst gelungen zu sein.
B. I. Der Aufbau des sowjetischen Regierungssystems unter Lenin
Mit der Machtübernahme der Bolschewiki und dem Ausrufen der Räterepublik begann die eigentliche Arbeit für die Revolutionäre. Das größte anzustrebende Ziel der Partei war stets die Revolution und Machtübernahme gewesen, es gab kein festgelegtes Programm für das weitere Vorgehen im Falle eines Erfolges. Ihr charismatischer Anführer Lenin hatte sich in den langen Jahren seines Exil ein umfassendes Wissen über die wirtschaftlichen Theorien Karl Marx angeeignet, und hatte in seinen Schriften bereits eine genaue Vorstellung davon niedergeschrieben, wie der Marxismus auf die politische Problematik Russlands umzusetzen sein sollte.
So entstand in den kommenden Jahren eine Mischung aus dem bereits vorhandenen System und neu strukturierten Teilen, die nicht immer unbedingt die bessere Lösung darstellte.
1.1. Übergangsgremien
Am Abend nach der Revolution trat der 2. Allrussische Sowjetkongreß zusammen und beschloß die Einrichtung einer „Arbeiter- und Bauernregierung“. Sämtliche vorgeschlagenen und von dem Rätekongreß bestätigten Mitglieder waren Bolschewiki. Zu diesem Zeitpunkt hatten die so genannten „gemässigten“ Sozialisten und die Menschewiki, Mitglieder der gestürzten Regierung Kerenskij, den Kongreß bereits unter Protest verlassen.
Die neue Regierung sollte „Rat der Volkskommissare“ heißen, und die Verwaltung des Landes provisorisch bis zur konstituierenden Versammlung übernehmen. Als erste Richtlinie für die neue Regierung wurden für jede Teilbereich des politischen Lebens Kommissionen gebildet, die das neue Regierungsprogramm realisieren mußten. Die Volkskommissare waren als Vorsitzende dieser Kommissionen dem Sowjetkongreß und seinem Exekutivkomitee unterstellt. Dort mußten sie ihre Amtsführung verantworten.[3]
Lenin fungierte als Vorsitzender des Rates der Volkskommissare. Doch vorerst war die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch diesen Rat reine Theorie. Das lag an dem „Militärischen Revolutionskomitee“(VRK), einem Gremium, welches ebenfalls unter Lenins Leitung für die Durchführung der Revolution entstanden war.
Mit Hilfe dieses Organs hatten die Bolschewiki seit Anfang Oktober die Revolution geplant und durchgeführt. Auf Befehl Lenins hatten Soldaten am Abend des 25.Oktobers die strategisch wichtigen Punkte Petrogrades besetzt, um am nächsten Morgen die neue Regierung durch das Volk auszurufen.
Hat ein Komitee diese Macht gemeinsam erreicht, ist es nicht möglich, sie durch ein anderes Organ zu ersetzen und so blieb das Militärische Komitee als Kommandozentrale unentbehrlich. Es organisierte den Übergang der Macht in die Hände der Sowjets: „Bereits wenige Tage nach dem Umsturz hatte das Militärische Revolutionskomitee Vertreter zu 113 militärischen Einheiten, in 18 Gouvernements des Reiches und in die 44 wichtigsten Städte entsandt; seine Kommissare saßen in allen wichtigen Zivilbehörden der Hauptstadt.“[4]
Der Erfolg des Komitees ergab sich auch aus seiner schlichten Organisationsstruktur. Ein kleiner Kreis von Mitarbeitern beriet sich täglich in der so genannten Vollversammlung über die anfallenden Probleme, hörte die Berichte der jeweiligen Delegierten an und traf die Entscheidungen über die notwendigen Konsequenzen.
Das Ziel des Präsidiums war nicht der Neuaufbau eines Behördensystems, sondern die sorgfältige Kontrolle des vorhandenen Apparates. Ein kleines „Büro“ wählte die Kommissare aus, Mitgliederanzahl und Wahlbedingungen sind nicht bekannt. An jenen staatlichen Stellen, an denen die Kommissare nicht genügten, wurde die „Rote Armee“ und die Truppen der Petrograder Kommission eingesetzt.
Eine genaue Kompetenzabgrenzung zwischen dem Rat der Volkskommissare und dem Militärischen Revolutionskomitee ergab sich also aus den Möglichkeiten der Organe. Es gab keine festgelegte Vorgabe diesbezüglich.
Über beiden Organen stand jedoch unbestritten der Allrussische Sowjetkongreß, der seine Autorität zwischen den Tagungen einem „Allrussischen Zentralen Exekutivkomitee“ (VCIK[5] ) übertrug.
Am 29.Oktober, als auch in anderen Städten Revolutionskomitees gemäß dem Vorbild der Hauptstadt entstanden waren, reagierte die VCIK auf das Machtzentrum Revolutionskomitee. Dreizehn Mitglieder des VCIK wurden dem Revolutionskomitee (VRK) angegliedert, und formal wurde die VRK ein Organ der VCIK. Damit war es ebenfalls der Weisungsbefugnis des Rates der Volkskommissare unterstellt. So wurde eine Auflösung des Revolutionskomitees vorerst noch umgangen, denn die Kontrolle der Behörden funktionierte zu gut, um es notwendig werden zu lassen.
Im Laufe des ersten halben Jahres wurde jedoch das zuerst geplante Grundkonzept komplett verändert, und jetzt wurde auch das Militärische Revolutionskomitee aufgelöst. Es hatte nach dem Machtgewinn die Aufgabe übernommen, diese zu sichern. Mitglieder von antibolschewistischen Organisationen wurden verhaftet und die Druckereien bürgerlicher Zeitungen wurden besetzt. Sie führten den Kampf gegen Sabotage und Wucher und halfen mit Beschaffung und Verteilung von Lebensmitteln gegen den Hunger.
Auch bei der Übernahme der alten Ministerien war das VRK eine große Hilfe: In den knappen zwei Monaten seines Bestehens half es bei der Suche nach geschultem Personal und bei der Beschaffung von Geld und Sachmitteln. Zudem verschaffte es den neuen Volkskommissaren Zutritt zu den Ämtern, auf seine Befehl besetzten bewaffnete Gruppen die Gebäude, konfiszierten die Schlüssel und drohten jedem mit Entlassung der die neue Regierung nicht anerkannte. Noch im November konnten die neuen Volkskommissare in die alten Fachbehörden ziehen.
Radikales Durchgreifen, Verhaftungen und Drohungen auf Verlust der Staatspensionen und Wohnungen bewogen den Großteil der Beamtenschaft ihre Arbeit wiederaufzunehmen. Schon am 25.November wurden die Volkskommissare durch Kabinettsbeschluß angehalten, das Militärische Revolutionskomitee zu entlasten und die in ihre Ressorts fallenden Aufgaben zu übernehmen. So langsam lichtete sich das Chaos im übernommenen Giganten Rußland.
Eine weitere Herausforderung stellte die Übernahme der bereits existierenden Ministerien durch die neue Regierung dar. Die Volkskommissare übernahmen die Ministerien und gingen in ihnen auf. Das alte Konzept bestand nur noch vom Namen nach. Der Wille, eine Räteadministration aufzubauen war nach wie vor vorhanden, doch es fehlten das Geld, das Personal und die Aufgaben.
Die neuen, bzw. alten Ministerien oder auch Volkskommissariate behielten ihre Fachbereich zu sehr bei sich, um Raum für eine Räteadministration zu lassen.
[...]
[1] Lenin, Wladimir Iljitsch. In: Ausgewählte Werke in drei Bänden. Band II. Dietz Verlag Berlin 1970. S.520
[2] Lenin, Wladimir Iljitsch. Die Aufgaben des Proletariats in unsere Revolution. In: Ausgewählte Werke in drei Bänden. Band II. Dietz Verlag Berlin 1970. S.61
[3] Vgl Browder/Kerensky. The Russian Provisional Government 1917: Documents. Band 2. Dezember 1961. Seite 276ff.
[4] Siehe Altrichter, Helmut. Staat und Revolution in Sowjetrussland 1917-1922/23. Darmstadt 1996. S.11
[5] Allrusisches Zentrales Exekutivkomitee: Vserossijskij central`nyi ispolnitel`nyi komitet, abgekürzt: VCIK. Siehe Altrichter, Helmut. Staat und Revolution in Sowjetrussland 1917-1922/23. Darmstadt 1996. S.12
- Arbeit zitieren
- Nina Bludau (Autor:in), 2002, Wladimir Iljitsch Uljanow (Lenin) - Macht und Revolution: Neuaufbau in Rußland 1917 bis 1923, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/19777
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