Leseprobe
Gliederung
1.1 Einleitung
1.2 Literatur und Gesellschaft des Viktorianischen Zeitalters
2.1 Das Figurenuniversum der LOEG
2.2 Das Verhältnis der LOEG-Protagonisten zu ihrer literarischen Vorlage
2.2.1 Allan Quatermain
2.2.2 Dr. Jekyll / Mr. Hyde
3.1 Alan Moores’ LOEG als Reflektion auf die Entwicklung der Bildgeschichte und des Comics
3.1.1 Die Penny Dreadfuls
3.2 Nachahmung der Penny Dreadfuls in der LOEG
3.2.1 Weitere gestalterische Aspekte der Nachahmung viktorianischer Literatur in der LOEG
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
5.1 Primärquellen
5.2 Sekundärquellen
6. Abbildungverzeichnis
1.1 Einleitung
Die vorliegende Arbeit soll versuchen, einige der scheinbar unzähligen Bezüge in Alan Moore’s Comic The League of Extraordinary Gentlemen (im Folgenden mit LOEG abgekürzt) zur Viktorianischen Literatur des 19. Jahrhunderts herzustellen und zu erläutern. Die Vielschichtigkeit von Alan Moores’ Werk zeichnet sich nicht nur durch die sehr originelle Kombination verschiedenster Protagonisten aus literarischen Werken des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sondern auch durch die Bezugnahme auf die Publikationsformen der damaligen Zeit aus und arbeitet parallel zu der eigentlichen Geschichte der „Liga“ in höchst selbstreflektiver Weise auch die Entwicklung der Bildgeschichte und des Comics an sich auf. Die Protagonisten der LOEG sind allesamt aus Romanen des 19. Jahrhunderts entlehnt und bilden mit ihren starken Egos eine sehr heterogene Gruppe, deren Aufgabe der Schutz des Empires vor seinen Feinden ist (In Band I: Prof. Moriarty; in Band II: Marswesen).
Die Gestaltung der einzelnen Sammelbände (Band I und II bestehen ursprünglich aus jeweils 6 Einzelheften) wurde zudem dem Layout bekannter Literaturmagazine der Zeit – wie z.B. dem Strand Magazine – nachempfunden, was bedeutet, dass die LOEG nicht nur aus den Bildgeschichten der „Liga“ an sich bestehen, sondern zudem z.B. auch illustrierte Geschichten, die weitere Abenteuer von einzelnen Protagonisten der LOEG erzählen (wie z.B. Allan Quatermain), oder auch originale Werbeanzeigen der Zeit enthalten.
Jeder Aspekt der Gestaltung der LOEG – sei es die Auswahl der Protagonisten, die Etablierung eines bestimmten Weltbildes, das Setting, die Einbindung weiterer Geschichten oder die Illustration der Bände durch originale Werbeanzeigen – unterliegt somit dem Versuch, auf Ebene der Comicliteratur eine Art Gesamtkunstwerk zu schaffen, das in jedem seiner Bestandteile die Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts adaptiert, widerspiegelt aber auch weiterentwickelt. Die Art und Weise in der dies geschieht soll im Folgenden, auch mit Hilfe zahlreicher Illustrationen, herausgearbeitet werden. Als Gegenstand für diese Untersuchungen dienen die beiden Hardcover-Ausgaben The League of Extraordinary Gentlemen Volume I und The League of Extraordinary Gentlemen Volume II[1].
1.2 Literatur und Gesellschaft des Viktorianischen Zeitalters
Das historische Setting der LOEG ist kurz vor der Jahrhundertwende (1898) angesetzt und fällt somit in die letzten Jahre des Viktorianischen Zeitalters. Benannt wurde die Zeit von 1837 bis 1901 nach der damaligen regierenden englischen Königin Victoria. Die viktorianische Ära kann insgesamt als eine Zeit des Wachstums angesehen werden – Bevölkerung, Wirtschaftskraft und auch die Grenzen des englischen Empires wuchsen in dieser Zeit stark an[2], jedoch nicht ohne dementsprechende Nebenwirkungen nach sich zu ziehen. Die Volkszählung im Jahre 1851 zeigte, dass sich die Bevölkerung von England und Wales seit dem Beginn des Jahrhunderts verdoppelt hatte und von 8,9 Millionen auf 17,9 Millionen anwuchs und bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts sich praktisch noch einmal verdoppelte und auf 32,5 Millionen anwuchs[3]. Die gleiche Erhebung zeigte auch, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung im urbanen Raum lebte. Diese überschnelle Urbanisierung war Ergebnis der ebenfalls schnell voranschreitenden Industrialisierung des Britischen Königreichs.
Durch die neuentwickelte Dampfkraft wurden traditionelle Wirtschaftszweige von der neuen, effizienteren Technologie ersetzt und immer mehr Arbeiter aus den traditionellen Wirtschaftszweigen verloren ihre Arbeit[4]. Direkte Konsequenz dieser Entwicklungen war, dass die Armut gewisser städtischer Bevölkerungsschichten ein immer stärker sichtbar werdendes Phänomen darstellte und sich zu einem schwer zu bewältigenden Problem entwickelte[5]. Der Erfolg der modernen Technologie hatte auch direkten Einfluss auf die damalige Englische Literatur und seine Erscheinungsformen, da sich die Kosten des Druckens durch Erfindung der dampfbetriebenen Rotationspresse („rotary steam press“) und durch das maschinell hergestellte Papier dramatisch reduzierten[6] und somit die steigende Nachfrage nach Literatur bedient werden konnte. Verursacht wurde diese starke Nachfrage durch die schnell anwachsende, urbane Arbeiterklasse, die durch die vorangegangene Einführung der Schulpflicht zu großen Teilen des Lesens mächtig war[7]. Diese steigende Nachfrage hatte wiederum Einfluss auf die Bedingungen unter denen die Autoren der Zeit neuen Lesestoff produzierten, da „alle für Geld und im schnellstmöglichen Tempo“[8] geschrieben haben.
Die Viktorianische Literatur zeichnete sich aufgrund ihrer breiten potentiellen Leserschaft auch durch ein sehr breites Spektrum an literarischen Formen aus, jedoch wurde ab der Hälfte des 19. Jahrhunderts der Roman zum zentralen und dominante Medium der britischen Kultur, dessen Sonderstellung weder davor noch danach wieder erreicht wurde[9].
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung und der koloniale Imperialismus ein Hoch erreichten, das scheinbar nicht mehr zu steigern war, stellte sich eine neue gesellschaftliche Frage:
„The question arouse, if humankind generally, and Britain in particular, might be subject to momentous biological and cultural decline, which was increasingly summed up as degeneration”[10]
Diese neuen, negativen gesellschaftlichen Entwicklungen zeigten sich auch in der Literatur dieser letzten Jahre des 19. Jahrhunderts, wie zum Beispiel in Robert L. Stevensons’ The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde, das 1896 veröffentlich wurde und dessen Figuren auch einen zentralen Bestandteil der LOEG darstellen:
„These social trends resulted in a maelstrom of new sexual visibility, confusion, and danger [that] would profoundly shape the literature of the late 1880s and 1890s“[11].
Dieses spätviktorianische gesellschaftliche Bild zeichnet auch die LOEG, indem Charaktere wie der übergewichtige, selbstverliebte und Wohlstand darstellende Campion Bond (z.B. am Beginn von Vol. I) und Massenszenen mit verarmten und in die Kriminalität getriebenen Bevölkerungsteilen der Unter- und Halbwelt diese beiden Extreme der viktorianischen Gesellschaft (natürlich oft mit einem ironischen Unterton) darstellen.
2.1 Das Figurenuniversum der LOEG
Eines der wichtigsten und zentralen Merkmale der LOEG und ihres Verweischarakters auf die Literatur des 19. Jahrhunderts ist natürlich die Auswahl der Protagonisten, aus denen die konkrete „Liga“ besteht und welche hier kurz erläutert werden soll. Die von Alan Moore ausgesuchten Mitglieder der „Liga“ sind:
- Allan Quatermain aus H. Rider Haggards’ Abenteuerromanen (z.B. King Solomon’s Mines von 1885)
- Der Unsichtbare Griffin aus H.G. Wells’ Roman The Invisible Man von 1897
- Dr. Henry Jekyll und sein Alter Ego Edward Hyde aus Robert L. Stevensons’ The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde von 1896
- Wilhelmina Murray, eigentlich Mina Harker aus Bram Stokers’ Dracula von 1897
- Kapitän Nemo aus Jules Vernes’ Romanen Vingt mille lieus sous les mers von 1869 und L’Île mystérieuse von 1874/75, die somit die einzigen nicht englischsprachigen Bezugswerke im Kanon der Liga-Protagonisten darstellen
Interessant ist natürlich die Tatsache, dass die LOEG von Alan Moore und Kevin O’Neill erschaffen wurde und dennoch überwiegend aus bereits existierenden literarischen Figuren besteht. Abseits juristischer Fragen des Urheberrechts[12] stellt sich somit natürlich auch die kreative Frage, ob die LOEG als eigenständiges literarisches Werk angesehen werden kann, wenn es doch nur existierende Figuren aus literarischen Werken kombiniert. Eine Idee, die gerade in der Comicliteratur ein beliebtes Mittel der Auflagensteigerung war, indem mehrere Superhelden eine Art „All-Star-Auswahl“ bilden und mit vereinten Kräften das Böse bekämpfen, wie zum Beispiel in Justice League America[13], wo unter anderem Superman, Batman und Wonder Woman Seite an Seite kämpfen, oder auch in der Serie The Avengers[14], wo Ant-Man, Thor, Iron Man und der Hulk gemeinsam gegen ihre Widersacher antreten.
Um aufzuzeigen, dass die LOEG von Alan Moore und Kevin O’Neill als reflektierendes aber dennoch eigenständiges literarisches Werk angesehen werden kann, das durch die Gestaltung seiner Protagonisten auch als Blick der Autoren auf das 19. Jahrhundert verstanden werden kann, wird das Verhältnis der Darstellung der Figuren Allan Quatermain und Jekyll/Hyde mit ihrer literarischen Vorlage abgeglichen, um aufzuzeigen, dass Moore und O’Neill eine eigenständige und psychologisierte Version dieser Figuren erschaffen haben und den Figuren gerade durch ihre Kombination und Konfrontation miteinander eine neue Seite abgewinnen können und somit eigenständige und originäre (Comic-)Literatur erschaffen haben, die keineswegs nur eine Weiterverarbeitung literarischer Zitate darstellt.
2.2 Das Verhältnis der LOEG-Protagonisten zu ihrer literarischen Vorlage
2.2.1 Allan Quatermain
Allan Quatermain ist die Hauptfigur von zahlreichen Abenteuerromanen des Autors H. Rider Haggard. Erstmals wurde diese Figur in dem 1885 erschienenen Roman King Solomon’s Mines eingeführt. In der Fortsetzung Allan Quatermain von 1887 (viele andere Quatermain-Romane fungieren als Prequels) stirbt Allan an einer im Kampf zugezogenen Verletzung. Alan Moore scheint den Helden zahlreicher Abenteuer wiederzubeleben, da die Handlung der
LOEG 12 Jahre später, also 1898 einsetzt. Dieser Zeitspanne wird jedoch auch Rechung getragen, indem der im Comic dargestellte Quatermain als halbtoter, opiumabhängiger Greis (siehe Abb.1) in die Geschichte eingeführt wird.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1
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Abbildung 2
Zudem wird Quatermain, der männlich, virile Held zahlreicher Kämpfe und Abenteuer (siehe Abb.2) von einer Frau aus seinem selbsterwählten Kerker der Sucht befreit – eine zusätzliche Demütigung dieses männlichen Prototyps und ein typisches Merkmal für Alan Moores’ Vorliebe für gebrochene und allzu menschliche Helden. Die Vergänglichkeit des Lebens aber auch des eigenen Ruhmes wird im Allan Quatermain der LOEG sehr schön sichtbar und zeigt einen interessanten Wandel in der Comicliteratur ab 1980, in der mit Genuss die unfehlbaren Helden vergangener (Comic-)Zeiten demontiert werden, wie es zum Beispiel in Frank Millers’ The Dark Knight Returns (1986) oder natürlich in Alan Moores’ Watchmen (1986/87) geschieht, wo ebenfalls eine Gruppe von (Super-)Helden demontiert wird. Die Figur des Allan Quatermain wird jedoch nicht nur in eine später einsetzende Geschichte transportiert, sondern in ein neu erschaffenes alternatives Universum der Fiktion, in der die literarische Figur Quatermain als „reale“ Person existiert:
Dies zeigt sich in einer Unterhaltung zwischen Mina Murray und Kapitän Nemo über Quatermain, der gerade aufgrund seines Opium-Entzuges von Alpträumen heimgesucht wird:
Nemo: „…He was ravishing about diamond mines again during the night. He called for someone called Umslopogaas.”
Miss Murray: “To think I grew up reading of his exploits…just as I read yours. Quatermain however was always the Empire’s favourite son. You were its nightmare.”
Diese kurze Unterhaltung zeigt den hohen Grad an Selbstreflektivität in der LOEG, da die beiden Charaktere Quatermain und Nemo innerhalb des Comics als literarische Charaktere dargestellt werden und innerhalb der LOEG gleichzeitig als „reale“ Personen existieren. Die ursprünglichen Romane fungieren somit als Beleg für ihre Existenz und ihre Biographie. Das zeigt, dass Moore die Figuren nicht aus ihrem ursprünglichen Kontext entreißt und lediglich ihre Physiognomie und gewisse Attribute für den Comic verwendet, sondern die Charaktere in ein komplexes alternatives Universum übersiedelt und sie innerhalb dieses literarischen Meta-Universums von der originalen literarischen Vorlage aus weiterentwickelt und somit seine ganz eigene Interpretation (und natürlich die von O’Neill) der Figuren erschafft. Im Falle von Quatermain wird aus dem Helden des kolonialen Empires ein alter Mann, der (zum Beginn der LOEG) seiner eigenen Reputation nicht mehr gewachsen ist und dessen Handeln von seiner Opiumsucht bestimmt wird, wodurch er sogar andere Personen in Gefahr bringt:
[...]
[1] Volume I wurde 1999, Volume II 2003 erstmals veröffentlicht (bei America’s Best Comics).
[2] Vgl.: Adams, 2009, S. 3.
[3] Gilmour, 1986, S. 2.
[4] Vgl.: Ebd., S. 3.
[5] Vgl.: Ebd., S. 295.
[6] Vgl.: Ebd., S. 23.
[7] Smith, 2001, auf: www.bl.uk (05.10.10)
[8] Baily, 1969, S. v.
[9] Adams, 2009, S. 25.
[10] Adams, 2009, S. 295.
[11] Adams, 2009, S. 371.
[12] Das The LOEG - Black Dossier von 2007 darf z.B. wegen noch nicht abgelaufener Urheberrechte einiger Charaktere offiziell nicht außerhalb der USA verkauft werden. Dazu: http://www.welt.de/kultur/article1498655/Die_aussergewoehnliche_Faelschung_des_Alan_Moore.html (11.10.10)
[13] Erstmalig erschienen in The Brave and the Bold #28, DC Comics, 1960, von Gardner Fox.
[14] The Avengers #1, Marvel Comics, 1963, von Stan Lee und Jack Kirby.