David Riesman: Pluralistische veto-groups und amorphe Macht


Seminararbeit, 2002

16 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Die einsame Masse: Grundannahmen
2.1. Die sozialen Charaktere
2.2. Die Verbraucherhaltung

3. Riesmans Beitrag zur Elitetheorie: das 10. Kapitel („Vorstellungen der Macht“)
3.1. Textanalyse
3.2. Bewertung

4. Literatur

1. Einführung

Wie ist die Macht beschaffen, und vor allem: Wer besitzt sie? Und warum?

Dies sind gesellschaftliche Fragen, denen jeder vielfach begegnet - ob im eigenen Denken, in der Diskussion mit Freunden oder im zufällig mitgehörten Gespräch Fremder. Die angebotenen Antworten sind zahlreich und häufig nicht miteinander vereinbar. Konstant allerdings schimmert fast immer eine schillernde Vorstellung von „den Mächtigen“ durch, die sich in unerreichbaren, abgehobenen Sphären zu bewegen scheinen.

Wissenschaftlich werden die Fragen nach der Macht und speziell nach ihren Trägern vom Bereich der Elitetheorien bearbeitet, dem vielleicht beachtetsten Feld der politischen Soziologie. Hierbei ergeben sich allerdings auch keine klaren Antworten, sondern im Gegenteil kontroverse Diskussionen. Jedoch hilft die wissenschaftliche Debatte, Struktur in die Auseinandersetzungen um die nebligen Sphären der Macht zu bringen.

Im Groben lässt sich der Streit der Elitetheoretiker nämlich z.B. auf die Kontroverse zwischen Elitisten und Pluralisten eingrenzen, also denjenigen, die die Existenz einer kleinen exklusiven Führungsgruppe annehmen und denjenigen, die von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ausgehen, die sich die Macht in irgendeiner Form teilen.

Hier komme ich nun zum eigentlichen Gegenstand dieser Arbeit, denn David Riesman gilt als einer der Begründer der pluralistischen Tradition in der Elitetheorie und das 10. Kapitel aus Die einsame Masse ist der Text, auf dem diese Zuschreibung beruht.

Riesman war zunächst Professor für Recht an verschiedenen amerikanischen Universitäten, bevor er Ende der vierziger Jahre eine Professur der Soziologie an der Harvard University antrat, wo er über zwanzig Jahre lang tätig war.

Das Werk, das Riesman bekannt machte, erschien schon zu Beginn seiner Zeit in Boston: 1950 brachte er zusammen mit zwei Assistenten - Reuel Denney und Nathan Glazer - The Lonely Crowd / Die einsame Masse heraus (Riesman 1956). Das Buch, das „in Form und Stil keine rein wissenschaftliche Abhandlung darstellt“ (Rausch 1956: 503), wurde in den USA zum nicht nur wissenschaftlich vielbeachteten Bestseller und Riesman erschien sogar als Titelbild der „Time“ (vgl. Schelsky 1956: 9).

Thema von Die einsame Masse sind das „Weshalb“ und „Wie“ sowie die Auswirkungen einer konstatierten „allmählichen Ablösung“ eines „sozialen Charaktertyps“ durch einen anderen (Riesman 1956: 29/30). Riesman stellt die These auf, es habe in den USA des 19. Jahrhunderts einen dominierenden sozialen Charaktertyp gegeben, der bis hinein in die Zeit des Erscheinens von Die einsame Masse langsam „durch einen sozialen Charakter vollkommen anderer Art“ (Riesman 1956: 29) verdrängt worden sei (vgl. Abschnitt 2.1.).

Hier wird die zeitliche und räumliche Beschränkung des Untersuchungsgegenstandes sichtbar. Denn obwohl Riesman seinen Gegenstand zunächst als „der soziale Charakter und die unterscheidenden Merkmale im sozialen Charakter von Menschen verschiedener Länder, Zeiten und Gruppen“ (Riesman 1956: 29) definiert, bleibt die Betrachtung in ihrem Fokus doch auf die Gesellschaft der Vereinigten Staaten in ihrer Entwicklung vom 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts beschränkt.

Dieser Umstand darf beim später folgenden Hauptteil der vorliegenden Arbeit, der Textanalyse des 10. Kapitels aus Die einsame Masse, nicht vergessen werden (vgl. Abschnitt 3.1.). Dieser Text darf nur unter der Prämisse als Beitrag zur Elitetheorie verstanden werden, als dass er eine Analyse der Machtverhältnisse in den USA um das Jahr 1950 darstellt, also keinen Anspruch auf zeit- und raumlose Richtigkeit beansprucht. Das heißt natürlich nicht, dass Riesmans Überlegungen für andere Länder und andere Zeiten vollkommen unerheblich wären, sie sind lediglich nicht auf zeit- und raumlose Abstraktion angelegt. Die Anwendung von Riesmans macht- und elitetheoretischen Kerngedanken auf andere Gesellschaften kann trotzdem fruchtbar sein.

So sieht der bekannte deutsche Soziologe Helmut Schelsky Die einsame Masse als „gedankenvolle und aufschlussreiche sozialwissenschaftliche Deutung unserer modernen industrialisierten Welt überhaupt“ (Schelsky 1956: 10). Diese Aussage ist nun zwar schon fast fünfzig Jahre alt, doch haben sich die Grundbedingungen von Gesellschaft und Politik in der „westlichen Welt“ seitdem wohl in keinen solchen Brüchen gewandelt, dass ein Rückgriff auf soziologische Arbeiten aus dieser Zeit irrelevant wären.

In der zeitgenössischen Situation von 1950 indes ließen sich im Rückblick auf die letzten fünfzig Jahre auch in den USA sehr wohl einige gesellschaftliche Entwicklungsbrüche feststellen, zumindest nach 1929 durch die great depression sowie zuvor durch die fortschreitende Industrialisierung und Verbreitung revolutionärer Produktionsmethoden (Stichwort „Fordismus“) und Kommunikationsmittel (Radio und in zunehmenden Maße TV). Letzteres erscheint für den politischen Bereich der Soziologie von besonderer Bedeutung.

Die US-amerikanische Gesellschaft hatte sich nach der Weltwirtschaftskrise, begleitet von Roosevelts Politik des New Deal, zum Teil neu konstituiert und die USA waren aus dem für die europäischen Staaten und Gesellschaften verheerenden 2. Weltkrieg als westliche Führungsmacht hervorgegangen. Die amerikanische Gesellschaft galt in der Folge als fortgeschrittener Orientierungsbezug, wurde zur Zukunftsvision (in positiver wie negativer Interpretation) der anderen westlichen industrialisierten Gesellschaften. Diese kontemporären Umstände verleihen Riesmans Untersuchung der US-Gesellschaft weitere Bedeutung über die Grenzen der USA hinaus.

In elitetheoretischer Hinsicht sind in der gesellschaftlichen Entwicklung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwei Faktoren von besonderer Bedeutung: die fortschreitende funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft sowie die Durchsetzung der „demokratischen Methode“ (Schumpeter) zur Bestimmung der politischen Machthaber. So wurden die „klassischen“ elitetheoretischen Vorstellungen nach Mosca oder Pareto, die von einer strengen Dichotomie der herrschenden Elite(n) und beherrschten „Masse“ ausgingen, obsolet. Um den zeitgenössischen Verhältnissen gerecht zu werden, waren neue Konzepte nötig.

Noch vor Riesman war es Joseph A. Schumpeter, der in seinem Buch Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie die alten dualistischen Elitevorstellungen überwand. Schumpeter verstand Demokratie als pluralistischen Konkurrenzkampf der politischen Elite(n) „um die Stimmen des Volkes“ (Schumpeter 1993: 428), dessen Rolle „darin besteht, eine Regierung hervorzubringen“ (ebd.: 427). Damit wurde der statische Begriff der passiven „Masse“ aufgeweicht und aufgrund der gleichen Bedeutung jeder einzelnen Wählerstimme individualisiert.

Riesman nun setzt das Phänomen der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in die Elitetheorie um, indem er auch eine sektorale Auffächerung der Macht konstatiert. So zerfasert der sich bei den „Klassikern“ der Elitetheorie noch monolithisch darstellende Block der Führungselite zu einem nicht mehr lokalisierbaren, sich ständig wandelnden Phantom der situationsbedingten „amorphen Machtstruktur“, die keine festen Träger hat: die Machtstruktur hat sich „weitgehend aufgelöst“ (vgl. Riesman 1958: 220, 238). Eine Art Machtpyramide besteht allerdings auch bei Riesman weiterhin, allerdings mit einer funktionalen Aufspaltung an ihrer Spitze: Dort befinden sich die „veto-groups“, einflussreiche Interessengruppen, die zwar keine gestalterische Macht besitzen, aber wichtige Entscheidungen, die ihr Interessengebiet tangieren, verhindern können. Die veto-groups vertreten zahlreiche, verschiedenste gesellschaftliche Interessen, stellen somit die pluralistische Widerspiegelung der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft im Bereich der Macht dar. Dabei bleiben sie ins gesellschaftliche System integriert, sodass sie - wie bei Schumpeter die „demokratische Methode“ - für ein neues Macht- bzw. Herrschaftssystem stehen, das von komplexen Rückkopplungen zwischen „Elite“ und „Masse“, „Herrschern“ und „Beherrschten“ geprägt ist.

[...]

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
David Riesman: Pluralistische veto-groups und amorphe Macht
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
16
Katalognummer
V19801
ISBN (eBook)
9783638238441
ISBN (Buch)
9783640300846
Dateigröße
526 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Der amerikanische Soziologe David Riesman kann als Stammvater der Pluralisten in der Elitetheorie gelten, welche von einer Aufspaltung und Sektoralisierung der Macht ausgehen. Das elitetheoretische 10. Kapitel seines Hauptwerkes 'Die einsame Masse' (1950) wird hier im Kontext des Buches analysiert.
Schlagworte
David Riesman, Pluralismus, Macht, Eliten, veto-groups, amorphe Macht, politische Soziologie, Die einsame Masse (Buch), sozialer Charakter, Verbraucherhaltung, Elitetheorie, sektorale Machtteilung, Interessengruppen
Arbeit zitieren
Frank Stadelmaier (Autor:in), 2002, David Riesman: Pluralistische veto-groups und amorphe Macht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/19801

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