Leseprobe
Der Neoliberale Institutionalismus
Eine Symbiose aus Intergouvernementalismus und Neofunktionalismus?
Betrachtet man die einzelnen Argumentationsmuster der neoliberalen Integrationstheorie, so stellt man einige Parallelen zum Intergouvernementalismus einerseits und zum Neofunktionalismus andererseits fest. Möchte man Aufschluss über die spezifischen Vor- bzw. Nachteile des Neoinstitutionalismus erhalten, ist es unabdingbar, sowohl die Gemeinsamkeiten mit, als auch die Unterschiede zu den beiden anderen Theorien genauer zu beleuchten. Dabei sollen weniger die einzelnen Theorien detailliert vorgestellt, als vielmehr deren Überschneidungen im Neoinstitutionalismus untersucht werden, um mitunter eine Antwort auf die Frage zu finden, ob man den neoliberalen Institutionalismus als eine Symbiose aus Intergouvernementalismus und Neofunktionalismus auffassen kann.
Hierfür werden zunächst die Charakteristika (Akteure, Motive, Prozess und Milieu) des Neoinstitutionalismus anhand der anderen beiden Integrationstheorien hergeleitet, um eine kritische Betrachtung zu ermöglichen.
Richten wir unseren Blick zunächst auf diejenigen Akteure, welche in den einzelnen Theorien als die wichtigsten aufgefasst werden: Der Intergouvernementalismus betont die Bedeutung von Nationalstaaten – genauer gesagt, deren Regierungen. Diese vertreten den jeweiligen nationalen politischen Willen, der sich in innerstaatlichen Willensbildungsprozessen herauskristallisiert hat. In zwischenstaatlichen Verhandlungen versuchen sie, die Sicherheit des jeweiligen Staates in einer anarchischen Staatenwelt zu gewährleisten und dessen Macht zu erhalten. Sind die einzelnen Staaten von politischen und/oder ökonomischen Problemen betroffen, die sich nicht durch unilaterales Handeln lösen lassen, so kann (in zwischenstaatlichen Verhandlungen) die Bildung von Institutionen beschlossen werden. Diese Institutionen erleichtern die zwischenstaatliche Kooperation insofern, da sie einerseits Transaktionskosten reduzieren und dadurch Kooperationsgewinne versprechen, und andererseits die staatlichen Handlungsmöglichkeiten bezüglich eines gemeinsamen Problems erhöhen.
Gleichwohl muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass der Intergouvernementalismus den Institutionen selbst keine große Bedeutung beimisst. Sie sind lediglich zu verstehen als „outcome“ von Regierungskonferenzen, quasi als festes Verhandlungsergebnis, welches ausschließlich durch eine erneute Regierungskonferenz eine Veränderung erfahren könnte. Ebenso ist es aus intergouvernementaler Sicht möglich, dass die Institution selbst keine optimale Problemlösung darstellt, da sie von Staaten geschaffen wurde, die aufgrund unterschiedlicher Interessen und Zielen zu einer Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners neigen.
Im Gegensatz dazu stellen im Neofunktionalismus nicht die Nationalstaaten, sondern nationale und supranationale Eliten sowie supranationale Institutionen die wichtigsten Akteure dar. Ziele dieser Akteure sind zum einen die Überwindung nationalstaatlicher Macht und dadurch die Schaffung von Frieden (ergo Sicherheit), und zum anderen die Mehrung von Wohlstand. Angetrieben werden die Akteure dabei von funktionalen Sachzwängen, die sich ebenso wie im Intergouvernementalismus aus dem Unvermögen unilateraler Problemlösung ergeben, aber im Gegensatz zum Intergouvernementalismus auf die Interdependenenz moderner Industriestaaten abstellen.
Obgleich der Neofunktionalismus der einzige integrationstheoretische Ansatz ist, der alle drei Ebenen (subnational, national & supranational) des politischen Geschehens beleuchtet, so weist er doch einige Defizite auf: Die wohl größte Schwachstelle ist dabei, dass Nationalstaaten zu Akteuren unter vielen degradiert werden und ihnen weniger Handlungsspielraum eingeräumt wird als den o.g. Eliten und Institutionen. Auch ist es von Nachteil, dass sowohl die sub- als auch die supranationale Ebene auf die Betrachtung weniger Eliten beschränkt wird. Diese Eliten folgen ihren eigenen Interessen und versuchen, diese durchzusetzen, indem sie die Integration voranzutreiben suchen, sofern sie sich davon einen Gewinn versprechen. Dies hat zur Folge, dass sowohl innerstaatliche Faktoren (politische Kultur, politisches System, Parteienlandschaft und Regierung, Verfassung, ...) als auch eine spezifische Betrachtung supranationaler Institutionen von der Analyse ausgeschlossen werden. Der Neoinstitutionalismus ersetzt die verschiedenen Aufgaben und Handlungsspielräume der einzelnen Institutionen und damit deren unterschiedlichen Einfluss auf politische Prozesse schlichtweg durch die Logik des „spillover“-Automatismus, demzufolge eine erfolgreiche Kooperation im Bereich der „low-politics“ zwangsläufig auf den Bereich der „high-politics“ übergreifen wird.
Der Neoinstitutionalismus greift einige Elemente der vorangegangenen Theorien auf: Ebenso wie der Intergouvernementalismus betrachtet er die Staaten als wichtigste Akteure. Allerdings sieht er in ihnen nicht die einzigen Akteure. Aus dem Neofunktionalismus übernimmt er die Vorstellung, dass supranationale Institutionen (zwar nicht die wichtigste, aber eine) bedeutende Rolle spielen. Auf den ersten Blick scheinen sich diese Annahmen zu gleichen. Betrachtet man aber das Selbstverständnis der Staaten und die Differenziertheit der einzelnen Institutionen sowie die gegenseitigen Interdependenzen, so ergibt sich ein völlig neues Bild:
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