Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffliche Annäherung
2.1. Habitus und Lebensstile
2.2. Statussymbole und Konsumverhalten
2.3. Kollektive Identität
3. Sozialstrukturelle Veränderungen in der Türkei nach 1980
4. Statussymbole, Habitus und Konsumverhalten in der neuen Mittelschicht
4.1. Freizeitverhalten und Umgang mit dem Körper
4.2. Bildung
4.3. Gebrauchsgüter und Wohnen
5. Abgrenzung der neuen Mittelschicht durch Statussymbole
6. Fazit
7. Schlussbemerkung
8. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In Istanbul fällt recht schnell eine breite sozio-ökonomische Ungleichheit ins Auge: westlich gekleidete, junge Menschen strömen in Konzertsäle, um europäische Musikbands zu sehen, davor verkaufen Migranten aus Anatolien Bier und Wasser. Schuhputzer bieten ihre Dienste in den belebten Einkaufsstraßen der Stadt an, in denen sich eine europäische bzw. amerikanische Markenkette an die andere reiht. Das Straßenbild der Stadt ist geprägt von solchen Gegensätzen.
War das türkische Gesellschaftsgefüge bis in die 90er Jahre vor allem durch die säkulare Elite in den Großstädten und der frommen Landbevölkerung geprägt, so scheint mittlerweile durch Abwanderung in die Großstädte, Öffnung der Märkte, Privatisierungen und den erweiterten Zugang zu Medien eine neue Mittelschicht entstanden zu sein, die westlich orientiert ist, eine bestimmte Geisteshaltung gemein hat, frei von religiösem und nationalistischem Gedankengut ist, also fern der alten Oberschicht und Peripherie. Diese neue gehobene Mittelschicht ist –ganz nach amerikanischem und europäischem Vorbild- in der globalisierten Welt zuhause und hat das mit der neoliberalen Wirtschaftsordnung entstandene Konsumverhalten und auch die dazugehörigen Wertvorstellungen übernommen. Ein Mikrokosmos, der besonders im Istanbuler Stadtteil Cihangir oder den europäisch orientierten Studenten der zahlreichen Privatuniversitäten zu beobachten ist.
In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, wie sich diese neue Mittelschicht [1] herausgebildet hat, wie sich diese in Istanbul präsentiert, ihre Identität gestaltet und sich von den anderen Schichten abgrenzt. Der Fokus meiner Darstellung liegt auf dem Habitus, den Lebensstilen und Statussymbolen dieser Schicht und den Zusammenhängen zwischen diesen und der Identität der Akteure. Durch den begrenzten Umfang der Ausführung sollen die Konzepte des Habitus, Lebensstil und Identität lediglich umrissen und auf die soziale Schichtung in der Türkei im Allgemeinen nicht näher eingegangen werden.
Die Forschungslage zu vorliegendem Thema ist begrenzt, zur Mittelschicht in der Türkei überwiegen Studien, die sich der Problematik zwischen der breiten frommen Peripherie und der zentralen säkularen Elite widmen. In den letzten Jahren sind jedoch einige Arbeiten zur türkischen Gesellschaft im Zusammenhang mit den weltweiten Globalisierungstendenzen entstanden. Besonders hervorzuheben sind hier die Studien von Sencer Ayata, Rıfat N. Bali, Çaĝlar Keyder oder Henry J. Rutz und Erol M. Balkan. Die soziologische Forschung hinsichtlich der sozialen Schichtstruktur in der Türkei, unabhängig von Religion und Geisteshaltung beginnt sich allerdings erst zu entwickeln.
Im ersten Teil des Beitrags steht der Versuch einer Annäherung an die Begriffe „Habitus“, „Lebensstile“ und „Statussymbole“ in Anlehnung an den Soziologen Pierre Bourdieu. Im zweiten Teil wird ein kurzer Überblick über die Entwicklung der türkischen Gesellschaft seit den 90er Jahren gegeben. Anschließend sollen Statussymbole, Lebensstile und das Konsumverhalten der neuen Mittelschicht in der Türkei am Beispiel Istanbuls unter bestimmten Gesichtspunkten skizziert werden. Dabei soll Bourdieus empirische Studie „Die feinen Unterschiede“, die sich auch als eine Sozialgeschichte der Klassifizierung des Individuums durch seine konkreten Lebensverhältnisse lesen lässt (Abels, 2010, S. 208; Hervorh. im Orig.) auf die türkische Gesellschaft angewandt und untersucht werden. In einem Fazit soll geprüft werden, ob bzw. inwieweit Statussymbole und Konsumverhalten zur Identität der neuen Mittelschicht beitragen und als Identitätsverstärker dienen. In einer kurzen Schlussbemerkung werden die Ergebnisse der Arbeit nochmals zusammengefasst und der Frage nachgegangen, ob und wie sich Statussymbole und Habitus der neuen Mittelschicht auch auf andere Schichten auswirken.
2. Begriffliche Annäherungen
2.1. Habitus und Lebensstile
Gesellschaften beschreibt der französische Soziologe Pierre Bourdieu als sozialen Raum. Mit Hilfe der Theorie des Sozialen Raums stellt Bourdieu die soziale Welt als einen mehrdimensionalen Bereich dar, in dem sich die Akteure je nach ihrer Stellung in diesem System definieren[2]. Der soziale Raum ist demnach der Rahmen, in dem die gesellschaftlichen Positionen der Individuen, ihr Geschmack und auch ihre Lebensstile verortet werden. Die Position eines Individuums bzw. einer Gruppe ist durch ihr Verhältnis zu anderen, d.h. durch Relationen von Nähe bzw. Entfernung bestimmt, ein symbolischer Raum, in dem sich Gruppen durch unterschiedliche Lebensstile, Interessen, Praktiken und ideologischen Positionen voneinander abgrenzen (Bourdieu, 1998, S. 20).
Wie wird nun die soziale Position im sozialen Raum vermittelt? Nach Bourdieu übernimmt diese Vermittlung der Habitus. Unter Habitus versteht Bourdieu „...ein System von dauerhaften Dispositionen, welches alle historischen Erfahrungen integrierend, als Denk-, Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Handlungsmatrix im Alltagsleben fungiert“ (Bourdieu, 2009, S. 169).
Dabei dient der Habitus sowohl als ein System von Schemata zur Produktion von Praktiken, als auch als System zur Wahrnehmung und Anerkennung unterschiedlicher Praktiken, also zur Abgrenzung von anderen Individuen im sozialen Raum. Diese Doppelfunktion erklärt Bourdieu wie folgt: „[…] der Habitus ist Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und ein Klassifikationssystem […] dieser Formen“ (Bourdieu, 1987, S. 277, Hervorh. im Orig.).
Der Grundhabitus wird in der Familie erzeugt, der durch alle späteren Erziehungsmaßnahmen lediglich modifiziert wird, denn er enthält zugleich die „Regeln“ für mögliche Veränderungen. Demnach entwickelt sich der Habitus gemäß einer systematischen Biographie. In Form von Habitus wird die Position in der Sozialstruktur sichtbar, er dient dazu, die Akteure der Gesellschaft zusammenzuführen oder aber dazu, Distanz zu schaffen und zu wahren. So wird beispielsweise der Umgang mit Hausangestellten in der Türkei schon in der Familie gelernt und an die nächsten Generationen weitergegeben. Der Habitus schafft Motive und Bedürfnisse, Lebensstil und Geschmack.[3] Über diese „vergewissert sich das Individuum seiner selbst und distanziert sich von den Anderen, und über diesen kollektiv gerahmten individuellen Geschmack und Lebensstil wird es auch von den Anderen definiert“ (Abels, 2010, S. 212, Hervorh. im Orig.). Dadurch entsteht eine soziale Praxis, in der eine Gruppe ihre soziale Identität zum Ausdruck bringt und von anderen Gruppen erkannt wird.
Der Habitus ist dabei nach Bourdieu nicht gleichzusetzen mit Lebensstilen, er übersetzt lediglich die Merkmale einer Akteursposition im sozialen Raum, also Konsumgüter oder Praktiken, in einen Lebensstil, er erschafft den Raum der Lebensstile. Lebensstile sind so als eine Art Sprache zu verstehen, die durch Einteilung in Klassen eine soziale Kategorisierung erlauben.
Das Wesentliche aber ist, daß diese unterschiedlichen Praktiken, Besitztümer, Meinungsäußerungen, sobald sie mit Hilfe der entsprechenden sozialen Wahrnehmungskategorien, Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien wahrgenommen werden, zu symbolischen Unterschieden werden und eine regelrechte Sprache bilden“ (Bourdieu, 1998, S. 21-22, Hervorh. im Orig.).
Der Soziologe Markus Schroer erklärt die Einteilung in Klassen durch den Lebensstil wie folgt: „ Mit Hilfe des Lebensstils schließt man sich mit bestimmten Individuen zu einer Gruppe zusammen, während man sich gegenüber Anderen abgrenzt“ (Schroer, 2000, S.319, zit. n. Abels, 2010, S. 180).
Der Lebensstil vermittelt also die Verteilung der Kapitalsorten und entspricht somit einem bestimmten Stil der Lebensführung, der sich vor allem auch durch das Konsumverhalten und die konsumierten Güter ausdrückt (Bourdieu, 1987, S. 278-279). Die konsumierten Güter sollen einen bestimmten Status in der Gesellschaft kenntlich machen. Was ist unter Statussymbolen zu verstehen und wie werden sie zur Verstärkung der kollektiven Identität eingesetzt? Dieser Frage soll im folgenden Kapitel nachgegangen werden.
[...]
[1] Die Begriffe Schicht und Klasse werden in dieser Arbeit synonym verwendet, da eine Abgrenzung der Begriffe den Rahmen der Arbeit sprengen würde.
[2] Die Stellung der Akteure richtet sich nach ihrem Volumen der Kapitalsorten (kulturelles, ökonomisches oder soziales Kapital), der Kapitalstruktur, also wie die einzelnen Kapitalsorten gewichtet sind, und der zeitlichen Entwicklung dieser Strukturen und Sorten. "Die soziale Stellung eines Akteurs ist folglich zu definieren anhand seiner Stellung innerhalb der einzelnen Felder, das heißt innerhalb der Verteilungsstruktur der in ihnen wirksamen Machtmittel: primär ökonomisches Kapital […], dann kulturelles und soziales Kapital, schließlich noch symbolisches Kapital als wahrgenommene und als legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien (gemeinhin als Prestige, Renommee, usw. bezeichnet) (Bourdieu, 1985, S. 10-11).
[3] Bourdieu unterscheidet die Klassen vor allem durch den Geschmack, der das Gewicht des kulturellen Kapitals am besten zum Ausdruck bringe und ein Indiz für die Stellung in einer Herrschaftsstruktur sei (vgl. Abels, 2010). Auf den Geschmack soll aber in dieser Arbeit, des begrenzten Rahmens wegen, nicht näher eingegangen werden.