Heinrich Manns Novelle "Pippo Spano" - Eine Untersuchung der Künstlerproblematik eines "steckengebliebenen Komödianten"


Essay, 2002

19 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung – Die Künstlerproblematik im sozialgeschichtlichen Kontext

2 Hauptteil – Interpretation der Novelle „Pippo Spano“ von Heinrich Mann
2.1 Die Schlüsselnovelle
2.2 Die Künstlerproblematik und ihre erzähltechnische Realisierung
2.3 Der künstlerische Vampirismus
2.4 Annäherungen an die Figur Gemma
2.5 Gemmas Tod
2.6 Das satirische Moment
2.7 Von Kunst zu Künstlichkeit
2.8 „Pippo Spano“ im sozialgeschichtlichen Kontext

3 Schluss – Mario Malvoltos Schicksal als Beispiel einer „unerhörten Begebenheit“

Literaturverzeichnis

1 Einleitung - Die Künstlerproblematik im sozialgeschichtlichen Kontext

„Nimm meinen brüderlichen Rat, und gib den Vorsatz ja auf, vom Schreiben zu leben [...] Freilich hättest du [...] Dich einer ernsthafteren bürgerlichen Beschäftigung widmen sollen. Auch die glücklichste Autorschaft ist das armseligste Handwerk“1. Diese wohlgemeinten Zeilen schrieb Lessing 1768 und 1770 seinem Bruder in einem Brief. Selbst mit den Sorgen und Nöten eines neuen Berufsstands bekannt, der als „freier Schriftsteller“ um die Existenz kämpfte, wusste Lessing nur zu gut, wovon er sprach. Das Zitat beleuchtet nicht nur ein Einzelschicksal, sondern es gibt Aufschluss über Entwicklungen im späten 18. Jahrhundert, die das Künstlertum und die Kunst dieser Epoche generell betreffen. Es ist auffallend, dass in dieser Zeit viele Novellen geschrieben wurden, welche die Thematik „Künstlerproblematik“ aufgreifen. Diese Tatsache hat verschiedene Gründe, deren Wurzeln in den sozialgeschichtlichen Ereignissen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts liegen. Das Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft ist zu nennen, mit welcher die Entstehung des literarischen Marktes einhergeht. Hatten die Schriftsteller früher noch einen Fürsten oder sonstigen Mäzenen, der für ihre materielle Sicherheit garantieren konnte, so fiel diese wichtige Stütze mit dem Aufkommen des freien Schriftstellers weg. Hieraus ergab sich das erste Problem: Für wen schrieben die Dichter von nun an? Welche Funktion hatte die Kunst, jetzt, wo sie nicht mehr dem Lob des Fürsten oder der religiösen Erbauung einer Gemeinde diente? Eine andere Schwierigkeit entstand durch entgegengesetzte Wertvorstellungen des Künstlers im Vergleich zum gemeinen Bürger. Ersterer brachte nur ein geistiges Produkt hervor, dessen Legitimation inspiriertes Orginalgenie angesichts der Vorwürfe, er betreibe eine brotlose Kunst und lebe in einer Scheinwelt, schwer fiel. Hierbei konnte sich der Dichter nach den Säkularisationsprozessen auch nicht mehr auf ein gottgewolltes Schicksal berufen. Genauso wenig, wie die Gesellschaftsordnung von Gottes Gnaden war, konnte nach Ansicht der Bürger Gott als Instanz für die Rechtfertigung der Schriftstellerei angerufen werden. Was zählte, war Leistung, und diese musste materiell, sichtbar sein und Gefallen finden. Eben diese Kriterien übertrug die Gesellschaft auf den sich um 1770 herausbildenden Buchmarkt. Dank dem ständigen Zugewinn an Bildung und damit an Lesefähigkeit entwickelte sich ein wachsendes Leserpublikum mit bestimmten Vorlieben und Abneigungen, die dem Dichter zum Diktator seiner Themen und seines Stils wurden. Das Buch kam unter kapitalistische Marktgesetze; Nachfrage und Angebot bestimmten von nun an die materielle Situation des Schriftstellers. Die Zensur leistete ihren Beitrag dazu, dass nicht alles ohne Einschränkung veröffentlicht wurde. Zum Schluss sei noch erwähnt, dass auch die territoriale Zersplitterung Deutschlands ein Grund für die Misere der Schriftsteller war. Da eine die literarischen Werke bündelnde Hauptstadt fehlte, wirkten die Schriftsteller in kleineren Kreisen, womit ihre Werke nur schwer eine großflächige, überregionale Wirkung entfalten konnten2.

Die genannten Gründe gaben in ihrer Summe Anlass dazu, die Problematik um den Künstler und seine in Frage gestellte Kunst in zahlreichen Prosatexten festzuhalten. Heinrich Manns 1903 entstandene Novelle „Pippo Spano“ ist ein Beispiel für eine solche Selbst-Reflexion der Kunst. Im Folgenden soll nun dieses Werk unter der Fragestellung untersucht werden, wie Kunst und Leben zueinander stehen bzw. welcher Art die Problematik des Künstlers und seines Produkts ist.

2 Hauptteil – Interpretation der Novelle „Pippo Spano“ von Heinrich Mann

2.1 Eine Schlüsselnovelle

Heinrich Manns Novelle „Pippo Spano“ wird in der Sekundärliteratur als mehrfache Schlüsselnovelle angesehen. Zum einen wendet sie sich von der Literatur der Décadence ab, indem sie mit dem Bild des Pippo Spano auf eine Karikatur des italienischen Paradedécadents Gabriele D’Annunzio (1863-1938) abzielt3. Dieser Dichter und Politiker verherrlichte in seinen Werken ein dionysisch-rauschhaftes Leben voller trunkener Hingabe an neue Ideale, die Nietzsche etwa mit den Schlagworten „Übermensch“ oder „Wille zur Macht“ benannte. Auch Mario Malvolto will sich in dieser Welt erproben, „wo Gewalt geübt wird und trunkene Hingabe [...] wo man ganz lebt und auf einmal stirbt.“4 Dass er daran scheitert, beweist die Wertlosigkeit der dekadenten Ideale, die dem Künstler höchstens eine idealisierte, krankhaft überzogene Vorstellung vom wahren Leben sind, letztendlich aber als wertlos enttarnt werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Ästhetizismus, dem zweiten Dreh- und Angelpunkt der Schlüsselnovelle. Dieser Oberbegriff für die Décadence und andere europäische Ausprägungen proklamiert ein hochstilisiertes Leben. Tatsächlich lassen sich ästhetizistische Elemente in „Pippo Spano“ finden. So etwa die jugendstilhafte Beschreibung von Gemmas Arm als Blütenstempel mit herabfallenden Blättern5 oder die kulturell-künstlerischen Anspielungen (Gemma als Santa Venere etc...)6. Auch wenn ästhetizistischen Elemente durchaus vorhanden sind, heißt das nicht, dass der Text im Ganzen notwendigerweise ästhetizistisch ist. Schließlich geht Mario Malvolto in seiner stilisierten Beziehung zu Gemma nicht auf. Er ist ein „steckengebliebener Komödiant“7, der das Stilisierte nicht durchhält und damit sogar einen schlechten Schauspieler abgibt, denn er kann seine Rolle nicht zu Ende spielen. Schließlich kann „Pippo Spano“ noch als Schlüsselnovelle für den Autor selbst angesehen werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts orientierte er sich neu, wandte sich ab vom Ästhetizismus und hin zur einer sozialkritischen Kunst8. Diese beleuchtet auch die Schattenseite der übersteigerten Inszenierung des Lebens, im Falle Mario Malvoltos die Schuld am Leben beziehungsweise die Schuld am Tod Gemmas.

Der dekadente, ästhetizistische Lebensbegriff dient als Folie für das Verhalten Mario Malvoltos. Dieser Künstler strebt danach, das Leben zu finden und von der Kunst abzugrenzen. Man könnte auch die Vermutung anstellen, dass Heinrich Mann über die Literatur hinter der Maske Malvoltos einen Rollenentwurf für sich selbst erprobt9 und schließlich zu der Einsicht kommt, dass die Lebensauffassung des Ästhetizismus jedoch noch zu sehr in den Fängen der Kunst hängt. Letzteres soll im Folgenden gezeigt werden.

2.2 Die Künstlerproblematik und ihre erzähltechnische Realisierung

Vorweg muss die Art und Weise des Erzählens untersucht werden, da diese den Inhalt ganz entscheidend beeinflusst. Ausgangspunkt für die Frage nach der Beschaffenheit des Erzählers ist die Aussage, Mario Malvolto sei ein „steckengebliebener Komödiant“.

Geht man davon aus, dass dies die Worte eines personalen Erzählers sind, so macht der Künstler einen Erkenntnisprozess durch. Dieser lässt ihn erkennen, dass seine Liebe zu Gemma, hinter der das Leben steht, nichts als „Komödie“10 war. Noch immer ist er unfähig, die Gedanken an die Kunst zu verbannen und dem Leben naiv und offen zu begegnen. Selbst als die Geliebte Todesqualen leidet, kann er nicht davon ablassen, in künstlerischen Kategorien zu denken: „Er sah wieder die weite Welt daliegen. [...] Welche namenlose Reize schillerten ringsumher auf Frauen, Kämpfen, Worten. [...] Wozu starb sie denn, wenn er nichts mehr aus ihr machen sollte.“11 Wahrscheinlich wird auch Gemma bald zu Literatur verarbeitet. Somit ist das Leben immer nur Plattform für die Kunst. Darin besteht die Künstlerproblematik Mario Malvoltos, in die er Einsicht hätte, wäre die genannte Aussage die eines personalen Erzählers. Für diese These spricht, dass nur das Gedankengut des Künstlers an den Leser weitergegeben wird, dass also durch die persona, die Maske Marios, gesprochen wird. Wertungen oder Kommentare von außen fehlen. Für die personale Erzählweise typische Merkmale sind hingegen vorhanden: erlebte Rede und innerer Monolog. Ein Beispiel für letzteren: „man [...] darf nichts ahnen von meinen schwarzen Ängsten, von der Demütigung, die mir jede Frau, jedes große Kunstwerk, jeder gesunde Mann zufügt.“12 Erlebte Rede, innere Monologe, Scheindialoge mit sich selbst, seinem Widersacher oder dem Pippo-Spano-Gemälde sowie der nur in Gedanken geschrieben Brief sind Mittel, durch welche die Einsamkeit und die Persönlichkeitsspaltung Mario Malvoltos auch erzähltechnisch deutlich gemacht wird13. Ein Vorteil der personalen Erzählweise wäre, dass der Leser über die Beschaffenheit Gemmas im Unklaren gelassen werden kann. Einzig Marios Aussagen und Gedanken dienen als Quelle für ihre Untersuchung. Somit ist nicht sicher, dass es sich bei Gemma um eine reale Figur handelt. Sie könnte ebenso als Symbol für das Leben gesehen werden und als etwas im Inneren von Mario Malvolto, das ihn zum Leben drängt. So könnte es sich bei der letzten Aussage der Novelle um eine innere Reflexion seines Umgangs mit dem Leben handeln. Er würde sich am Ende also eingestehen, dass die das Leben tötende Kunstproduktion sein wohl größtes Problem ist. Immer schlüpft er von einer Rolle in die andere. Von der des bewunderten Dramendichters in die des Genussmenschen und dann wieder in die des Schriftstellers, der die Blätter des Lebens sammelt, um sein Kunstherbarium damit zu schmücken. Er betreibt ein Rollenspiel um eine leere Mitte, in welchem die Kostümierung eine Folge der Substanzlosigkeit ist. In seinem Inneren ist nichts. Mario Malvolto besteht nur aus verschiedenen ästhetizistischen Schichten, von denen eine der Kraft- und Tatmensch Pippo Spano ist. Ist Gemma jedoch real, so würde er in der äußeren Wirklichkeit schuldig werden, und zwar indem er die Frau für seine Kunst so weit instrumentalisiert, dass sie dadurch zu Tode kommt. Dass sich dies so verhält, ist aber unwahrscheinlicher, eben weil die Mordszene auffallend – vielleicht zu auffallend – brutal gestaltet ist: „Aber ein Stückchen weißes Fleisch rollte ihm gegen den Magen. Was war das? Das Glied eines Fingers. Er hatte ihr einen Finger abgeschnitten.“14

Eine andere Möglichkeit ist, dass es sich um einen auktorialen Erzähler handelt. In diesem Fall wäre die Schlussaussage als Verurteilung vonseiten einer Erzählinstanz zu deuten, die sich außerhalb befindet. Damit würde Mario Malvolto der Erkenntnisprozess genannter Art fehlen. Er würde einen Erkenntnisprozess anderer Art durchmachen, und zwar einen künstlerischen. Er würde feststellen, dass der eigene Tod nicht gespielt werden kann und deswegen ausbleiben muss. Dies brächte ihn in seinen Bemühungen um das Leben nicht weiter. Es wäre nur eine Feststellung, eine Randbemerkung ohne weiteren Effekt. Belege für die Möglichkeit eines auktorialen Erzählers lassen sich ebenfalls finden: „Sie küßte ihn und verstand nicht, was er noch dachte.“15 Diese Äußerung wird eindeutig nicht durch die persona Mario Malvoltos gemacht.

Die Mehrdeutigkeit führt dazu, dass sich die Unfähigkeit, zwischen Wirklichkeit und Kunst zu unterscheiden, von der Hauptfigur auf den Leser überträgt: Dieser weiß nicht, ob Gemma real oder nur Kunstprodukt ist. Diese Frage kann auch nicht beantwortet werden, wie die genannten Belege für beide Möglichkeiten zeigen. Letztendlich geht es hier um das Phänomen der Intertextualität: Texte beziehen sich aufeinander und auf die Wirklichkeit, die sie in irgend einer Form wiedergeben. Man kann also kaum zwischen Realität und literarischen Texten unterscheiden. Durch die Übertragung der Problematik unterstützt die Form der Novelle den Inhalt. Dieser soll im folgenden Kapitel vor dem Hintergrund der Mehrdeutigkeit eingehender untersucht werden.

[...]


1 Helmuth Kiesel und Paul Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jh., S. 78 f.

2 Helmuth Kiesel und Paul Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jh., S. 103.

3 Helmut Scheuer in: Interpretationen. Erzählungen des 20. Jahrhunderts, S. 76.

4 Heinrich Mann: Künstlernovellen. Pippo Spano, Schauspielerin, Die Branzilla, S. 15.

5 Heinrich Mann: Künstlernovellen. Pippo Spano, Schauspielerin, Die Branzilla, S. 16.

6 Ebd., S. 32.

7 Ebd., S. 48.

8 Helmut Scheuer in: Interpretationen. Erzählungen des 20. Jahrhunderts, S. 76.

9 Ebd., S. 83.

10 Heinrich Mann: Künstlernovellen. Pippo Spano, Schauspielerin, Die Branzilla, S. 48.

11 Ebd., S. 47.

12 Ebd., S. 9.

13 Helmut Scheuer in: Interpretationen. Erzählungen des 20. Jahrhunderts, S. 87 f.

14 Heinrich Mann: Künstlernovellen. Pippo Spano, Schauspielerin, Die Branzilla, S. 46.

15 Ebd., S. 39.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Heinrich Manns Novelle "Pippo Spano" - Eine Untersuchung der Künstlerproblematik eines "steckengebliebenen Komödianten"
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Deutsches Seminar)
Veranstaltung
PS II Die deutsche Künstlernovelle von Wackenroder bis Kafka
Note
1,3
Autor
Jahr
2002
Seiten
19
Katalognummer
V19917
ISBN (eBook)
9783638239448
Dateigröße
445 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Heinrich, Manns, Novelle, Pippo, Spano, Eine, Untersuchung, Künstlerproblematik, Komödianten, Künstlernovelle, Wackenroder, Kafka
Arbeit zitieren
Anne Thoma (Autor:in), 2002, Heinrich Manns Novelle "Pippo Spano" - Eine Untersuchung der Künstlerproblematik eines "steckengebliebenen Komödianten", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/19917

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