Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Konvergenz
2.2 Divergenz
2.3 Dualismus - Konvergenz und Divergenz
2.4 Operationalisierung
2.5 Hypothesen
3 Produktionssysteme nach dem Varieties of Capitalism-Ansatz
3.1 Koordinierte Marktwirtschaft - Deutschland
3.2 Liberale Marktwirtschaft - Großbritannien
4 Atypische Beschäftigung
4.1 Definition und Formen
5 Analyse der Arbeitsmarktreformen
5.1 Deutschland
5.2 Großbritannien
5.3 Ergebnisse
6 Analyse der quantitativen Dimension
7 Zusammenfassung und Diskussion
A Anhang
Literatur
Abbildungsverzeichnis
2.1 Modell für Divergenz und Konvergenz der Arbeitsmarktreformen
4.1 Dreiecksverhältnis der Leiharbeit
6.1 Anteil der Teilzeitbeschäftigung an der Gesamtbeschäftigung zwischen 1992 und 2011
6.2 Anteil der befristeten Beschäftigung an der Gesamtbeschäftigung zwischen 1992 und 2011
6.3 Anteil der Leiharbeitnehmer an der Gesamtbeschäftigung zwischen 1992 und 2010
6.4 OECD-Indikator: Strictness of employment protection
Tabellenverzeichnis
3.1 Zentrale Ergebnisse des Varieties of Capitalism-Ansatz
A.1 Kategorisierung der deutschen Arbeitsmarktreformen
A.2 Kategorisierung der britischen Arbeitsmarktreformen
A.3 Beschäftigungsdaten des deutschen und britischen Arbeitsmarkts
1 Einleitung
Atypische Beschäftigungsverhältnisse gewinnen in den westlichen Marktwirtschaften seit den 1970er Jahren an Bedeutung (Kim & Kurz 2003: 167; Bosch 2004: Seifert 2011: 47). Unter dem Begriff der atypischen Beschäftigungsverhältnisse findet man befristete, geringfügige und Teilzeit-Beschäfti- gungsverhältnisse sowie Leiharbeit und Ein-Personen-Selbstständigkeit. In der wissenschaftlichen Literatur geht die Ausweitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse mit einer Konvergenz der Ar- beitsmarktpolitik einher (Funk 2007: 128; Kim & Kurz 2003: 169ff). Ursachen für die Ausweitung atypischer Beschäftigung sind vielfältig und liegen zum einen in der Veränderung des Bedarfs auf Seiten der Unternehmen und der Arbeitnehmer (vgl. Neubäumer & Tretter 2008: 257f), zum anderen in arbeitsmarktpolitischen Deregulierungsmaßnahmen und im sozio-ökonomischen Strukturwandel (vgl. Minssen 2012: 71).
Die vorliegende Arbeit untersucht, wie sich die atypische Beschäftigung in zwei unterschiedlichen Typen der Marktwirtschaft in den vergangenen 20 Jahren entwickelte. Hierzu wird der Varieties of Capitalism-Ansatz dieser Untersuchung zugrundegelegt. Es wird versucht aufzuzeigen, ob es zur Konvergenz oder Divergenz hinsichtlich der inhaltlichen sowie quantitativen Dimension der atpyi- schen Beschäftigung in liberalen Marktwirtschaften und koordinierten Marktwirtschaften kommt. Für die Analyse bieten sich Deutschland und Großbritannien an, da sie im Mittelpunkt des Varieties of Capitalism-Ansatz stehen und damit große Unterschiede aber auch viele Gemeinsamkeiten besitzen. International vergleichende Studien bezüglich atypischer Beschäftigung sind nicht weit verbreitet und finden meistens am Rande von Arbeitsmarktanalysen Berücksichtigung. Die internationale Verbrei- tung atypischer Beschäftigung wurde bereits von vielen Sozialwissenschaftlern untersucht (Bosch 2004; Leschke 2009; Seifert 2011; Schmid 2010). Auch die Konvergenztendenzen von Arbeitsmark- treformen und Arbeitsmarkt zwischen Deutschland und Großbritannien wurden analysiert (Funk 2007; Turner & Green 2007; Jäkel 2010; Schweiger, 2010). Gerade in Bezug auf Konvergenzten- denzen und den Varieties of Capitalism-Ansatz bildet die vorliegende Arbeit einen ersten Schritt in eine neue Richtung und versucht einzelne Komponenten des Produktionssystems eingängig auf Kon- vergenz bzw. Divergenz zu untersuchen. Diese Arbeit stellt eine intensive Analyse von Arbeitsmark- treformen im Bereich der atypischen Beschäftigung und derern Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt dar.
Es wird untersucht, ob sich Deutschland und Großbritannien hinsichtlich der atypischen Beschäftigungsformen annähern. Es besteht durchaus auch die Möglichkeit, dass sich die beiden Länder nicht einander annähern, sondern ihre Position beibehalten, wie es der Varieties of Capitalism-Ansatz teilweise besagt. Dies soll ebenfalls analysiert werden.
Zusätzlich zu der vorgenannten Forschungsfrage wird am Rande darauf eingangen, ob die in früheren Forschungsberichten (Funk 2007: 117; Schweiger 2010) vermutete deutsche Konvergenztendenz der Arbeitsmarktpolitik in Richtung des britischen Systems mit dem Machtwechsel 1998 begonnen hat.
Zunächst wird im theoretischen Teil dieser Arbeit auf Konvergenz- sowie Divergenztheorien und deren potentiellen Gründen eingegangen. Hierbei findet auch der Dualismus-Ansatz Berücksichtigung. Hiernach folgt die Darlegung der Operationalisierung. Im Anschluss werden die wesentlichen Kenn- zeichen des Varieties of Capitalism-Ansatz skizziert und die Beschaffenheit der koordinierten und li- beralen Marktwirtschaften erläutert. Zum besseren Verständnis werden die Formen atypischer Beschäf- tigung definiert, die für die Analyse von Bedeutung sind. In der Folge werden die Arbeitsmarktrefor- men der vergangenen 20 bis 30 Jahren untersucht und die quantitative Dimension anhand aktueller Statistiken analysiert. Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung und Diskussion, die die wich- tigsten Ergebnisse festhält.
2 Theoretischer Hintergrund
Im Bereich der Wirtschaftswissenschaften, wie der Wirtschaftssoziologie, existieren drei unterschied- liche Theorien bezüglich der Entwicklung nationaler Wirtschaftssysteme im internationalen Ver- gleich. Vertreter der Konvergenztheorie sind der Überzeugung, dass sich die nationalen Wirtschafts- systeme aus unterschiedlichen Gründen angleichen werden. Wissenschaftler, die die Divergenztheorie verfolgen, sind davon überzeugt, dass sich die Wirtschaftssysteme aufgrund der nationalen Beson- derheiten nicht aufeinander zu bewegen können. Zwischen beiden Theorien hat sich im Zuge der Forschung rund um den Varieties of Capitalism-Ansatz der Dualismus-Ansatz herausgebildet. Palier & Thelen, als Vertreter des Dualismus-Ansatzes, analysieren die Entwicklungen in Deutschland und Frankreich und kommen zum Schluss, dass es zu keiner gesamten Liberalisierung dieser koordinier- ten Marktwirtschaften kommt (Palier & Thelen 2010: 139). Auf dem Arbeitsmarkt werden die Insider geschützt, die Reformen und Flexibilisierung erfolgen am Rande und betreffen die Outsider, welche eher in atypischen Beschäftigungsverhältnissen vorzufinden sind.
2.1 Konvergenz
Konvergenztheoretiker befassten sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert nicht primär mit dem Bereich der Wirtschaft. Marx, Weber und Durkheim etwa beschrieben Konvergenzerscheinun- gen innerhalb der Gesellschaften bzw. zwischen Gesellschaften. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Konvergenzerscheinungen im Wirtschaftsbereich vermehrt untersucht. Konvergenz im Bereich der Wirtschaft bzw. in der Wirtschaftspolitik tritt auf, sobald bestehende Un- terschiede zwischen zwei oder mehreren Systemen geringer werden oder gänzlich verschwinden. In der Nachkriegszeit bis in die 1970er-Jahre existierten zahlreiche Unterschiede im Bereich des Ar- beitsmarkts und des Wohlfahrtsstaats zwischen den Marktwirtschaften (Funk 2007: 118). Danach begann die Angleichung der unterschiedlichen Marktwirtschaftssysteme. Zu den Konvergenztheorien gehört u.a. die Race-to-the-bottom-Theorie, die in verschiedenen Bereichen eines Wirtschaftssystems ”Abwärtstrends“vorhersagt(Singh2004:5ff).EshandeltsichhierbeiumeinenWettlaufumdie niedrigsten Standards, sowohl im Arbeitsmarkt- und im Wohlfahrtsstaatsbereich als auch im Steuersystem. Im Kontext der vorliegenden Arbeit wird auf den Abbau von Arbeitnehmerschutzrechten sowie den Anstieg von Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt Bezug genommen. Supiot (2011) macht für den Abwärtstrend neoliberale Reformbewegungen verantwortlich, die seit Ende der 1970er in immer mehr Nationalstaaten umgesetzt werden.
Auslöser für Konvergenz können unterschiedlich sein. Turner und Green (2007: 7ff) bennen sieben mögliche Gründe weshalb es in der inhaltlichen Dimension der Politik ( ”Policy“)zuKonvergenz kommen kann: (1) Politischer Druck vonseiten internationaler Institutionen durch Entzug finanzi- eller Unterstützung; (2) Verpflichtung durch internationale Gesetzgebung, wie z.B. durch den Eu- ropäischen Gerichtshof; (3) steigender Wettbewerbsdruck / Deregulierungswettbewerb aufgrund Glo- balisierung und steigender wirtschaftlichen Integration zwischen den Staaten; (4) länderspezifische Herausforderungen führen zur Übernahme von Policies oder transnationaler Problemlösung; (5) Le- gitimitätsdruck aufgrund schlechter wirtschaftlicher Entwicklung fordert Regierung zur Übernahme von Reformen; (6) die Globalsierung führt durch die Zunahme des internationalen Geldverkehrs und dem internationalen Handel zu Handlungsdruck bei nationalen Regierungen und Unternehmen; (7) der Prozess der Europäisierung beinhaltet die Übernahme von Policies, Gesetzen und Strukturen.
2.2 Divergenz
Die Gegenposition zu den Konvergenztheorien vertreten Divergenztheorien. Vor allem der Varieties of Capitalism-Ansatz (VoC-Ansatz) prägt innerhalb dieser Theorie den wissenschaftlichen Diskurs im Hinblick auf die Wirtschaftssoziologie. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes steht die Beharrlichkeit der Unterschiede im System der nationalen politischenÖkonomien. Gemäß dem VoC-Ansatz bestehen die Unterschiede fort, da die verschiedenen Komponenten (Finanzierung, Industrielle Beziehungen, Ausbildung, Unternehmensbeziehungen und Unternehmensführung) des Systems einen komparativen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Veränderungen im Bereich einer Komponente führt zu Abweichun- gen im gesamten System und kann somit den komparativen Wettbewerbsvorteil schädigen.
Anhand des Varieties of Capitalism-Ansatz wurden zwei Kapitalismusregime bzw. Produktionsregime identifiziert, die in Kapitel 3 ausführlich dargelegt werden.
Neben dem VoC-Ansatz exisitiert innerhalb der Divergenztheorien die Annahme, dass die Globali- sierung unterschiedliche Auswirkungen in den Systemen auslöst und es somit nicht zu Konvergenz sondern zu manifestierender Divergenz kommt (Turner & Green 2007: 15). Liberale Marktwirtschaf- ten sollen demnach mit mehr Deregulierung und Liberalisierung reagieren, koordinierte Marktwirtschaften hingegen sähen darin eine Gefahr (Hall & Soskice 2001: 56ff). Turner und Green (2007: 16) bescheinigen, dass neben dem Weg der Vermarktlichung auch ein Weg des Korporatismus exisitert, welcher eine ebenso plausible Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung sein kann. Das Konzept der Pfadabhängigkeit zählt ebenfalls zu den Divergenztheorien. Gemäß diesem Konzept wird die Entwicklung eines Systems durch die zuvor getroffenen Entscheidungen bedungen. Diese Entscheidungen führen zu bestimmten Ergebnissen, die wiederum selbstverstärkend auf die Entschei- dung wirken (ebd.: 17). Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik ist die Reduzierung des Kündigungs- schutzes ein klassisches Beispiel für dieses Konzept: Eine negative Veränderung des Kündigungs- schutzes würde die Abwahl der Regierung zur Folge haben. Aufgrund des Machterhaltungswillens wird demnach keine regierende Partei den Kündigungsschutz für Arbeitnehmer existenziell verändern.
2.3 Dualismus - Konvergenz und Divergenz
Neben den Konvergenz- und Divergenz-Theorien, hat sich in den vergangenen Jahren ein Ansatz des Dualismus entwickelt (u.a. Streck, Hall, Thelen, Palier, Rueda). Die Vertreter dieses Ansatzes sind der Ansicht, dass nicht alle Bereiche des Produktionsregimes einer Konvergenzbewegung unterliegen, die zu einem einheitlichen System führen. Der Ansatz des Dualismus geht davon aus, dass im Hinblick auf den Arbeitsmarkt eine Segmentierung stattfindet. Es entwickeln sich zwei Arbeitsmärkte. Auf dem ersten Arbeitsmarkt (“core labour market ”)befindensichdieInsider,diejenigen,diemandem Normalarbeitsverhältnis zuordnen kann. Auf dem zweiten Arbeitsmarkt müssen sich die Outsider be- haupten. Das sind zumeist Menschen, die einer atypischen Beschäftigungsform nachgehen müssen. Palier und Thelen (2010) stellen in ihrer Arbeit fest, dass sich vor allem in Deutschland und Frank- reich durch Einschnitte in der Arbeitsmarktpolitik ein solcher Dualismus institutionalisiert. Zwar wird der Arbeitsmarkt als solcher nicht in seiner Gesamtheit dereguliert, jedoch wächst die Anzahl der atypischen Beschäftigungsformen (Palier & Thelen,2010:119f). Konvergenztheorien würden dage- gen hinsichtlich des Arbeitsmarkts eine Reform der Flexibilisierung für alle Arbeitsmarktteilnehmer vorhersagen. Palier und Thelen (2010:126f) hingegen greifen die Entwicklungen in Deutschland und Frankreich auf und zeigen, dass nicht alle Beschäftigte von den Arbeitsmarktreformen erfasst werden, sodass die Insider des Arbeitsmarkts nach wie vor durch multiple Mechanismen geschützt werden. Hall und Thelen (2009:22) zeigen, dass es innerhalb der koordinierten Marktwirtschaften einige Bereiche gibt, die dereguliert werden. Allerdings betrifft dies zumeist nur einzelne Aspekte des gesamten Wirtschaftssystems.1
2.4 Operationalisierung
Bevor die inhaltliche und quantitative Dimension analysiert werden, muss festgehalten werden, anhand welcher Kriterien Konvergenz bzw. Divergenz im Bereich der atypischen Beschäftigung zwischen Deutschland und Großbritannien gemessen werden soll.
In der vorliegenden Arbeit werden zwei unterschiedliche Dimensionen nach Konvergenz bzw. Divergenz durchleuchtet. Auf der einen Seite wird in Kapitel 5 die inhaltliche Dimension der Arbeitsmarktreformen auf Konvergenz- bzw. Divergenzbewegung untersucht. Hierbei gilt festzuhalten, ob eine Reform des Arbeitsmarkts zu mehr Regulierung oder Deregulierung führt. In dieser Hinsicht exisitieren fünf unterschiedliche Möglichkeiten, nach denen die untersuchten Arbeitsmarktreformen zu gruppieren sind: (1) starke Deregulierung; (2) schwache Deregulierung; (3) weder Deregulierung noch Regulierung; (4) schwache Regulierung; (5) starke Regulierung.
Konvergenz in der inhaltlichen Dimension liegt vor, wenn eines der Länder sich auf das andere zu bewegt oder beide Länder sich einander annähern. Divergenz tritt auf, wenn sich die Länder nicht auf- einander zu bewegen oder sich voneinander entfernen. Abbildung 2.1 verdeutlicht die fünf möglichen Szenarien. Konvergenz bedeutet jedoch nicht automatisch eine Veränderung hin zu einem zuvor exis- tierenden Typ, wie der liberalen Marktschaft. Es kann auch zu einer Konvergenz zu einem zuvor unbekannten System geben.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2.1: Modell für Divergenz und Konvergenz der Arbeitsmarktreformen. Eigene Darstellung Anmerkungen: (1) starke Deregulierung; (2) schwache Deregulierung; (3) weder De- regulierung noch Regulierung; (4) schwache Regulierung; (5) starke Regulierung
Nachdem die Arbeitsmarktreformen auf Konvergenz bzw. Divergenz untersucht wurden wird in Kapitel 6 die quantitative Dimension der atypischen Beschäftigung analysiert. Hierzu wird die Entwicklung der atypischen Beschäftigungsformen auf dem britischen und deutschen Arbeitsmarkt der vergangenen zwanzig Jahre veranschaulicht.
Zudem wird der OECD-Indikator ”Strictnessofemploymentprotection-temporaryemployment“
der Jahre 1992 bis 2008 präsentiert, der als ÜberprüfungderinKapitel 5 gefundenenErgebnisse wahrgenommen werden soll.
2.5 Hypothesen
Gemäß den eingangs erwähnten Entwicklungen im Bereich der atypischen Beschäftigung und den theoretischen Überlegungen lassen sich zwei Hypothesen für diese Arbeit formulieren:
1. Die inhaltliche Dimension unterliegt einer Konvergenz.
Die Arbeitsmarktreformen unterliegen allesamt einer Deregulierung und nähern sich somit dem Typ der liberalen Marktwirtschaft an.
2. Die quantitative Dimension unterliegt ebenfalls einer Konvergenz.
3 Produktionssysteme nach dem Varieties of Capitalism-Ansatz
Für einen Vergleich im Bereich der atypischen Beschäftigung zwischen Deutschland und Großbritan- nien spricht vor allem die unterschiedliche Gestaltung beider Wirtschaftssysteme. In diesem Kapitel werden der Varieties-of-Capitalism-Ansatz (VoC-Ansatz) und die Befunde für beide Länder vorge- stellt.
Bevor auf die Klassifizierung des britischen und deutschen Wirtschaftssystems eingegangen wird, muss trotz der Unterschiede auf die Gemeinsamkeiten beider Länder eingegangen werden. Turner und Green (2007: 1f) zählen die nachfolgenden Punkte zu den wichtigsten Gemeinsamkeiten im Hinblick auf Konvergenz im Bereich der Arbeitsmarktpolitik:
- geografisch ungleiche Verteilung der wirtschaftlichen Aktivität;
- Schwierigkeiten des öffentlichen Haushalts seit den 1990er-Jahre;
- beide sind Handelsnationen2 (Globalisierung und steigendem Kapitalfluss ausgesetzt)
- nachteilige demographische Entwicklungen für Arbeitsmarkt und Wohlfahrtsstaat
- beide sind seit den 1970er Einwanderungsländer (v.a. Arbeitsmigration)
- Mitgliedsländer der EU3 und der OECD
- politischer Machtwechsel Ende der 1990er
Im Folgenden wird der VoC-Ansatz erläutert. Dieser untersucht institutionelle Differenzen und versucht herauszuarbeiten, welche Unterschiede in den politischeÖkonomien für die ökonomische Leistungsfähigkeit verantwortlich sind (Hall 2006: 183).
Hall (2006: 182) stellt klar heraus, dass es bei der Arbeit zum VoC-Ansatz im Grunde um die ÜberprüfungderBehauptung,einLandkönnenuraufeinemWegwirtschaftlicherfolgreichsein, geht. In diesem relationalen Ansatz kommt den Unternehmen die Schlüsselrolle zu, die die ökonomischen Herausforderungen in ihrem institutionellen Kontext lösen. Nach Hall (2006: 183-184) exisitieren zwei Möglichkeiten die Koordinationsprobleme zu bezwingen:
(1) Koordination durch Marktkonkurrenz (= Lohn- und Preisanpassung); oder
(2) strategische Interaktion zwischen den Akteuren.
Länder, in denen Unternehmen mehrheitlich von strategischer Koordination Gebrauch machen, bezeichnen Hall & Soskice (2001: 1-68) als koordinierte Marktwirtschaften und Länder, die von Marktkonkurrenz geprägt sind, als liberale Marktwirtschaften. Hall & Sokice (ebd.) haben die Unterscheidung anhand fünf Dimensionen festgemacht, die in Tabelle 3.1 dargestellt sind.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 3.1: Zentrale Ergebnisse des Varieties of Capitalism-Ansatz. Quelle: Hall & Soskice 2001: 1-68. Eigene Darstellung.
3.1 Koordinierte Marktwirtschaft - Deutschland
Deutschland wird im VoC-Ansatz den koordinierten Marktwirtschaften zugeordnet. Hall und Soskice (2003: 21-27) wählen Deutschland aus, um die koordinierte Marktwirtschaft zu beschreiben. Die deutsche soziale Marktwirtschaft zeichnet sich durch einen ausgeprägten Korporatismus aus. Der nachfolgende Absatz bezieht sich auf Hall & Soskice (2001: 21ff).
Deutsche Unternehmen verfolgen Produktionsstrategien, die von spezifischen Fähigkeiten und von einem hohen Maß an unternehmerischen Engagements seitens der Arbeitnehmer abhängig sind. Das Engagement für und die Bindung an ein Unternehmen erfolgen jedoch nur durch die Zusicherung von Beschäftigungssicherheit, branchenüblichen Löhnen und Mitwirkung von Betriebsräten. Diese Praktiken sind nur realisierbar, da ein Ordnungsrahmen (Corporate Governance) mit Gesetzen, Richt- linien, Kodizes, Leitbildern und Erklärungen, bestimmt durch den Gesetzgeber und die Unterneh- mensführung, eine einseitige Abweichung bzw. einen Vertragsbruch verhindert. Darüber hinaus ist der Ordnungsrahmen mit samt seinen Mechanismen der Garant für den Zugang zu langfristigem Ka- pital.
Das deutsche institutionelle Arrangement soll in der Vergangenheit im politischen wie im wissenschaftlichen Diskurs die Hauptursache der schlechten wirtschaftlichen Entwicklungen und der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit auf dem Arbeitsmarkt gewesen sein (Eichhorst & Marx 2009: 1f). Wie Eichhorst und Marx (2009: 2) feststellen, ging es in den zurückliegenden Arbeitsmarktreformen um die Erhaltung des institutionellen Rahmens des Normalarbeitsverhältnisses, das mit Ausweitung von atypischer Beschäftigung einhergeht.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass das deutsche Wirtschafts- bzw. Produktionssystem stark auf gegenseitiges Vertrauen zwischen Kapital und Arbeit aufbaut. Hieraus kann abgeleitet werden, dass bei anhaltendem Vertrauensbruch der komparative Wettbewerbsvorteil des deutschen Produktionssystems verloren geht. Ein solcher Vertrauensverlust kann in der Ausweitung von atypischen Beschäftigungsverhältnissen gesehen werden.
3.2 Liberale Marktwirtschaft - Großbritannien
Großbritannien wird den liberalen Marktwirtschaften zugeordnet. Der nachfolgende Absatz bezieht sich auf Hall & Soskice (2001: 27ff) und beschreibt den Regimetyp der liberalen Marktwirtschaft. Unternehmen in liberalen Marktwirtschaften verlassen sich bei der Behebung von Koordinationspro- blemen auf Marktbeziehungen. Sowohl spezifische Fähigkeiten als auch eine langfristige Bindung an Unternehmen sind nicht notwendig, da man zwischen Kapital und Arbeit aber auch zwischen Un- ternehmen zumeist kurzfristige Kooperationen eingeht. Die Instabilität der Absatzmärkte erfordert die Deregulierung des Arbeitsmarktes um auf Marktschwankungen flexibel reagieren zu können. Ein ähnlicher Ordnungsrahmen wie in koordinierten Marktwirtschaften erweist sich als nicht notwendig, da der Markt und die kurzfristigen Kooperationen zwischen den Teilnehmern die Lösung des Koor- dinationsproblems darstellen.
Großbritannien wurde in den 1970er-Jahren als der ”krankeMannEuropas“angesehen(Funk 2007:
Tabelle A.3). Diese Entwicklung wird der Tatsache zugeschrieben, dass die britischen Institutionen vorteilhafter an den strukturellen Wandel und die Globalisierung angepasst sind (ebd.).
4 Atypische Beschäftigung
Um in der späteren Analyse Klarheit über die atypischen Beschäftigungsformen und deren Eigenschaften zu erlangen, ist es notwendig die atypische Beschäftigung zu definieren und ihre für diese Arbeit relevanten Formen zu beschreiben.
4.1 Definition und Formen
Die Definition atypischer Beschäftigungsverhältnisse erfolgt nach dem Prinzip der negativen Ab- grenzung gegenüber dem Normalarbeitsverhältnis. Eine im rechtlichen Sinne gültige Definition des atypischen Beschäftigungsverhältnisses existiert weder in Großbritannien noch in Deutschland. In- nerhalb des wissenschaftlichen Diskurses hat sich ein gewisses Grundverständnis herausgebildet (Mückenberger 1985; Seifert 2011: 51). In der Literatur, wie auch in der vorliegenden Arbeit, gel- ten folgende vier Kriterien als ausschlaggebend für das abhängige Normalarbeitsverhältnis:
- Vollzeitbeschäftigung
- Unbefristeter Arbeitsvertrag
- Absicherung durch die sozialen Sicherungssysteme
- Identität zwischen Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis
Nach diesen Kriterien lassen sich Teilzeitbeschäftigung, befristete Beschäftigung und Leiharbeit als in dieser Arbeit ausgewählte Kernformen atypischer Beschäftigung ausmachen. Man spricht von atypischer Beschäftigung oder non-standard employment, wenn mindestens eines der genannten Kri- terien nicht erfüllt wird. Eine eindeutige und vor allem trennscharfe Kategorisierung ist nicht immer möglich, da die vorgenannten Kriterien mehrmals auf einen Beschäftigten nicht zutreffen können, d.h. ein Arbeitsvertrag kann zum Einen zeitlich befristet sein als auch eine Teilzeittätigkeit bedeuten. Das Normalarbeitsverhältnis befindet sich seit Jahren in einem Wandel, der durch unterschiedliche Ursa- chen angetrieben wird.
[...]
1 Als Beispiel wird Frankreich genannt, das die Teilzeitbeschäftigung gefördert hat, ohne den Mindestlohn zu kürzen oder den Kündigungsschutz zu verringern (Hall und Thelen 2009: 22).
2 In den 1980er- und 1990er-Jahren lag sowohl Deutschland als auch Großbritannien unter den ersten fünf Exportländer. 2010 lag Deutschland auf Platz 3 und Großbritannien auf Platz 10 (WTO, 2012). Ein großer Unterschied liegt in der Handelsbilanz: Erwirtschaftete Deutschland 2011 Position 2 unter den Überschussländern (nach Saudi-Arabien), liegt Großbritannien auf Platz 2 unter den Defizit-Ländern (hinter den USA) (ebd.).
3 Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union fördert die verhandelte und freiwillige Konvergenz (Turner & Green 2007: 1)