Zufall oder Schicksal – Freiheit oder Determination?

David Mitchells "Ghostwritten" aus der Sicht der Philosophie und Psychologie


Hausarbeit, 2012

16 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I.Problematisierung der Thematik Schicksal und Zufall – Freiheit und Determination

II.Freiheit und Determination in David Mitchells Ghostwritten
1.Philosophische Perspektive
1.1 Setzung von Schranken durch den Glauben (Okinawa)
1.2 Begrenzung der Freiheit durch die Gesellschaft (ClearIsland)
2.Psychologische Perspektive
2.1 Sigmund Freuds Instanzenmodell und die determinierte menschliche Psyche (HongKong)
2.2 Fremdbestimmtheit, Fernsteuerung des Menschen durch übernatürliche Kräfte (Mongolia)
3.Schicksal oder Zufall? Fehlende Beweise des freien oder determinierten Handelns
3.1 Die Vielfalt des menschlichen Blickwinkels (London)
3.2 Verschiebung des Blickwinkels und Abhängigkeit der Perspektive (gesamterRoman)

III.Zusammenfassung

IV.Bibliographie

I. Problematisierung der ThematikSchicksal und Zufall –Freiheitund Determination

Es ist eine Frage mit der sich Menschen seit sie ihr Geist dazu befähigt auseinandersetzen und somit ein Grundproblem des menschlichen Daseins: Ist das Leben und dessen Verlauf vorherbestimmt oder geschieht alles durch Zufall? Allerdings ist die Frage nach dem „Entweder-oder“ in der Philosophie aus der Mode gekommen[1]. Die Philosophie der Gegenwart beschäftigt sich mit dem „Vereinbarkeitsproblem, welches das traditionelle Problem aus der fachphilosophischen Diskussion weitgehend verdrängt hat“[2]. Da weder die vollkommene Freiheit noch der absolute Determinismus bewiesen oder widerlegtwerden können, wird untersucht, ob sie einander ausschließen oder nicht. Jedoch ist die Freiheitsdebatte nicht auf den Bereich der Philosophie beschränkt. Auch die Psychologie und die Neurobiologie beschäftigen sich ausgehend von dem Menschen und dessen Funktionsweise mit möglichen Aussagen über Freiheit und Determination. Zudem sind die Soziologie und die Rechtsphilosophie von dieser Debatte betroffen. Sie lässt sich auf nahezu alle Lebensbereiche ausdehnen. Die bildende Kunst und Literatur machen sich ebenfalls ihre Gedanken dazu. David Mitchells Roman Ghostwritten lässt sichim Hinblick auf dieses Thema fruchtbar machen. Anhand der Ansichten der Philosophie und Psychologie soll untersucht werden, wie Ghostwritten mit Freiheit und Determination umgeht und ob David Mitchell eine Sichtweise durchscheinen lässt. Das angesprochene Vereinbarkeitsproblem zeigt, dass sich keine Seite mit Sicherheit ausschließen lässt. Aus diesem Grund wäre zu prüfen, ob es eine Mischung aus beidem ist und somit Zufall und Schicksal nebeneinander existieren. Man könnte behaupten, dass immer eine Vermischung der Komponenten Freiheit und Determinationbesteht, die sich oft in sehr unterschiedlichem Verhältnis vermengen.

II. Freiheit und Determination in David Mitchells Ghostwritten

1. Philosophische Perspektive

In der Philosophie existieren drei Positionen im Hinblick auf die Willensfreiheit und den Determinismus: der Kompatibilismus, die Lehre von der Vereinbarkeit, der universale Determinismus und dessen Gegenposition, der Libertarismus[3]. Die harten Deterministen sprechen sich für eine vollkommene Determination des Weltlaufes aus, denn „durch einen beliebigen Anfangszustand und die Naturgesetze sind alle weiteren Weltzustände festgelegt, sodass es zu jedem Zeitpunkt genau eine mögliche Zukunft gibt“[4]. Sie leugnen die Willensfreiheit, somit ist die Annahme einer freien Entscheidung Selbsttäuschung. Der Libertarismus dreht das um:der Determinismus ist falsch und die Willensfreiheit vollkommen gegeben.DieLibertarier sind der Meinung, „dass das Merkmal des So-oder-anders-Könnens schon in den Handlungsbegriff eingebaut ist“[5] und sehen aus diesem Grund die Handlungsfreiheit als unübersehbar an.

Die Kapitel „Okinawa“ und „Clear Island“ geben Einblicke in determinierte Charaktere. Es wird gezeigt, dass sich der Mensch selbst Grenzen in seiner Freiheit setzt, beispielsweise durch Glauben oder Ideologien, aber auch durchdie Gesellschaft. Diese Beschränkungen der Freiheit sind jedoch zumeist menschengemacht. Der Mensch entscheidet sich frei dafür, so auch die Protagonisten in den folgenden Kapiteln.

1.1 Setzung von Schranken durch den Glauben(Okinawa)

„Okinawa“, das erste Kapitel des Romans, versetzt den Leser in die Welt eines Sektenmitgliedes Namens Quasar. Dieser hat sein gesamtes Vermögen und seinen Besitz „His Serendipity“ und dessen Gemeinschaft überlassen. Neben der Abkehrvom Materialismus gibt er auch seine Familie und damit sein bisheriges Leben auf. In der Hingabe zu „His Serendipity“ keimt die Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Mitglieder bereiten sich auf die baldige Apokalypse vor, die die Welt von den „unclean“, also den Menschen, die nicht zur Sekte gehören, befreien wird.Die Sekte gibt vor, ihren Anhängern Freiheit zu schenken, aber im Grunde determiniert sie diese. Bei der Aufnahme Quasars wird von Schicksal gesprochen, denn „His Serendipity“ erklärt ihm: „[…] we both know that it was not luck which brought you here. Love brought you to us“[6].Quasar gibt seine Willensfreiheit auf, indem er annimmt, dass er ein Schicksal hat und dieses von einer höheren Macht vorherbestimmt ist.Er befolgt die Aufträge, überzeugt von den Glaubenssätzen, die „His Serendipity“ verkündet. Neben der Willensfreiheit verliert er auch seine Handlungsfreiheit. Da er sein Geld und seinen Besitz abgegeben hat, lebt er in Abhängigkeit von der Sekte. Quasar ist darauf angewiesen, dass die Gemeinschaft ihm Geld schickt, wenn er es braucht.

Da die Sekte in der Öffentlichkeit in Verruf geraten ist und von der Polizei gesucht wird, flüchtet sich Quasar auf die Insel Okinawa. Dort diskutieren ein paar Insulaner über die aktuellen Vorfälle. Ein Fischer fragt sich: „Why did his followers want to give him their will?“[7].Er lässt dadurch die Gedanken des Lesers zu Wort kommen. Auf Grund der autodiegetischen Erzählung dringt dieser in die Gedanken Quasars ein, allerdings fehlt der Moment der Identifikation. Selbst wenn der Leser sich mit dem Protagonisten identifizieren möchte, verwehrtMitchell ihm dies durch die detailreiche Schilderung irrwitziger Gedanken des Protagonisten. Beispielsweise spitzt der Anblick von Touristen Quasars Hass zu:

I took one look at them, with their cameras and potato-chip packets and their stupid Kansai expressions and their limbless minds with less alpha capacity than a housefly, and I wished that I had one more phial of the cleansing fluid left, so that I could lob it down the stairs after them and lock them in. […] But I had no phials left, and so I had to endure those unclean, chattering, defecating, spawning, defiling, cretins. Literally, they made me gasp for air[8].

Für den Leser sind diese Gedanken abstoßend und erschreckend.Neben diesen hasserfüllten Gedanken, steht die verdrehte RealitätQuasarszu Gunsten der Gemeinschaft, denn er behauptet “The Fellowship standsforlife, not fordoom. The Fellowship is not a ‘cult’. Cults enslave. The Fellowship liberates”[9].Die Gehirnwäsche der Sekte hat ihn blind gemacht, Quasar verschließt die Augen vor der Wahrheit, obwohl sie vor ihm steht. Der Leser fragt sich, warum solch eine Gehirnwäsche bei manchen Menschen fruchtet. Interessant ist die Antwort einer Dame auf die Frage des Fischers, nach der Motivation dieser Menschen:

Maybe there are many answers. Some get a kick out of self-abasement and servitude. Some are afraid or lonely. Some crave the camaraderie of the persecuted. Some want to be big fish in a small pond. Some want magic. Some want revenge on teachers and parents who promised success would deliver all. […] The handing over of one’s will is a small price to pay, for the believers. They aren’t going to need a will in their New Earth[10].

Damit beschreibt sie Menschen, die Bestätigung oder Halt in ihrem Leben suchen. Eine Hand die durch das Leben führt, auf die Schulter klopftund somit Anerkennung und Orientierung schenkt. Das Motiv der Rache kann auch eine Rolle spielen, beispielsweise bei Menschen die sich ungerecht behandelt oder sogar übergangen fühlen. Quasar wurde in der Schule gemobbt und sucht Schutz und Halt in der Sekte, denn „Before His Serendipity lit my life I was defenceless“[11]. Obwohl sich der Leser bereits auf Grund der Gedanken Quasars ein Bild von der Sekte machen kann, werden ihm die Ausmaße der Abartigkeit erst durch die Aufnahme anderer Stimmen und der Nachrichten klar:

The police have raided them. About time, too. The Fellowship’s assets have been frozen. Their so-called Minister of Defence is being charged with murder of ex-cult members, and five people have been arrested in connection with the gas. Two of those five hanged themselves in their detention cells. Their suicide notes provided enough evidence for a new round of arrests[12].

An der Überzeugung Quasars ändert das alles nichts, für ihn bauen diese Annahmen auf Ahnungslosigkeit auf. Diese Verärgerung lässt ihn denken: „If only I could make these vermin understand“[13].

Wenn man in der Philosophiegeschichte nach Ursprüngen der Determination sucht, findet man drei Arten, eine davon ist Gott[14]. Die Lehre, dass Gott den Weltlauf durch seine Allmacht bestimmt, nennt man Prädestinationslehre[15].Übertragen auf das Kapitel „Okinawa“ stellt sich die Frage nach dem Grund für den Glauben an Religionen, Ideologien und andere Weltanschauungen. Glauben dient den Menschen zur Erklärung von Naturphänomenen und zur Ordnung des Zusammenlebens. Eswird definiert, was moralischund was sündhaft ist. Aus diesem Grund weiß man, wie man Handeln und was man Denken soll. Doch nicht nur die Orientierung spielt eine Rolle. Der Glaube verleiht dem Menschen und seiner Existenz Sinn. Die Frage nach dem Ursprung und der Bedeutung des menschlichen Lebens wird versucht zu beantworten, um dadurchAufschluss über das Leben hinauszu erhalten. Der Mensch fürchtet sich vor dem Tod und möchte wissen, was nach dem Leben kommt. Die Bindung an eine Obrigkeit spendet folglich Trost und Hoffnung. Jedoch hat jede Medaille zwei Seiten. Das Problem solcher Ideologien, wie die der sich Quasar hingegeben hat, ist,dass

[…] an die Stelle einer kritischen Objektivität ein als unwidersprechbar behauptetes, den objektiv beobachtbaren Tatsachen zuwiderlaufendes Wert- und Normsystem gesetzt wird. Ideologien sind in sich schlüssig aufgebaut und erheben einen Wahrheitsanspruch, ohne sich einer empirischen Überprüfung auszusetzen, sie sollen geglaubt und nicht bewiesen werden[16].

Die Vernunft wird mehr oder weniger gezielt ausgeschaltet, doch „[…] ‘Freiheit‘ steht für das Ziel und die Voraussetzung einer Existenzweise, die sich an der Vernunft orientiert. Die Orientierung an der Vernunft ist ein Ideal, das für die Eliten der europäischen Geschichte immer wieder bestimmend war“[17]. Quasar begibt sich freiwillig in einen determinierten und unfreien Zustand. Er entscheidet sich dafür eine Marionette der Sekte zu werden. Das Kapitel zeigt seine Determiniertheit, für die er sich jedoch in Freiheit entschieden hatte.

Die Gesellschaft bringt ebenfalls eine gewisse Einschränkung der Freiheit mit sich, jedoch stehen sich hier im Normalfall Freiheit und Determination in vernünftigem Verhältnis gegenüber. Interessant ist an dieser Stelle die Aussage einer Bewohnerin von Okinawa, denn sie sagt,

[...]


[1] Geert Keil, Willensfreiheit und Determinismus (Stuttgart: Reclam, 2009) 10.

[2] Keil 13.

[3] Keil 10.

[4] Keil 35.

[5] Keil17.

[6] David Mitchell, Ghostwritten (London: Sceptre, 1999) 10.

[7] Mitchell 23.

[8] Mitchell 8.

[9] Mitchell 13.

[10] Mitchell 23.

[11] Mitchell 5.

[12] Mitchell 22.

[13] Mitchell 22.

[14] Keil44.

[15] Burkard Döpfner, Das Problem des Zusammendenkens von Determination und Freiheit: Das phänomenologische Denken des Religionsphilosophen Bernhard Welte als ein Beitrag zur Klärung und theologischen Vertiefung des Problems, Hrsg. Bernhard Sirch(St. Ottilien: EOS, 1992) 29.

[16] Gertraud Nickl, Freiheit und Determination (Freising: Stark, 2000) 141.

[17] Gerd Haeffner, „Die philosophische Problematik menschlicher Freiheit,“Wie frei ist der Mensch? Zum Dauerkonflikt zwischen Freiheitsidee und Lebenswirklichkeit, Hrsg. Jörg Splett (Düsseldorf: Patmos, 1980) 13.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Zufall oder Schicksal – Freiheit oder Determination?
Untertitel
David Mitchells "Ghostwritten" aus der Sicht der Philosophie und Psychologie
Hochschule
Universität Augsburg
Veranstaltung
David Mitchell
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
16
Katalognummer
V199525
ISBN (eBook)
9783656260844
ISBN (Buch)
9783656261179
Dateigröße
514 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
David Mitchell, Ghostwritten, Freiheit, Determination, Zufall, Schicksal, Mitchell, Chaos
Arbeit zitieren
Natascha Alexandra Hass (Autor:in), 2012, Zufall oder Schicksal – Freiheit oder Determination?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/199525

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