Profane Religionspädagogik in der Lebenswelt Jugendlicher - Schnittstellen zwischen sozialer Arbeit und Religionspädagogik


Diplomarbeit, 2003

74 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG

1 DAS KONZEPT DER LEBENSWELTORIENTIERTEN SOZIALEN ARBEIT (NACH HANS THIERSCH)
1.1 Geschichtlicher Abriss über die Entstehung des lebensweltorientierten Konzeptes
1.2 Die Bedeutung des Alltags
1.3 Die Bedeutung der Lebenswelt
1.4 Theoretischer Hintergrund
1.4.1 Die kritisch phänomenologische Alltagtheorie
1.5 Aufträge an die Soziale Arbeit
1.5.1 Alltäglichkeit als heuristisches Prinzip
1.5.2 Alltagsorientierung als ein Modus des Handelns und Verstehens
1.5.3 Handlungsmaxime der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit
1.6 Kritik

2 DIE LEBENSWELT JUGENDLICHER
2.1 Zum Begriff „Jugend“
2.2 Die Lebenswelt Jugendlicher im geschichtlichen Wandel der letzten fünfzig Jahre
2.2.1 Jugendliche in den fünfziger Jahren - „Die Halbstarken“
2.2.2 Jugendliche in den sechziger Jahren - „Die Rebellen“
2.2.3 Die siebziger Jahre - „Die überflüssige Generation“
2.2.4 Die achtziger Jahre - „Die Problemgeneration“
2.2.5 Der Anfang der neunziger Jahre - „Die Generation X“
2.3 Jugendliche von heute - Pluralität von Lebensführungen
2.3.1 Exkurs: Die „(Post)moderne“
2.3.2 Das familiäre Umfeld Jugendlicher
2.3.3 Normen und Werte der Jugendlichen
2.3.4 Freizeitbeschäftigungen der Jugendlichen
2.3.5 Religiosität bei Jugendlichen
2.3.5.1 Teilnahme am religiösen Leben
2.3.5.2 Auf der Such nach dem Sinn
2.3.6 Medien und die Möglichkeiten der grenzenlose Kommunikation
2.3.6.1 Fernsehen - Radio - Zeitung
2.3.6.2 Computer und Internet
2.3.6.3 Mobiltelefone
2.3.7 Gesellschaftliches Engagement
2.4 Zusammenfassung
2.5 Ausblick auf die Anforderungen an die Soziale Arbeit

3 DAS KONZEPT DER PROFANEN RELIGIONSPÄDAGOGIK (NACH DIETRICH ZILLEßEN UND BERND BEUSCHER)
3.1 Begriffsklärung Religionspädagogik und Profanität
3.2 Theologische Hintergründe
3.2.1 Zur Verbindung von Religion und Profanität
3.2.1.1 Die profane Religionspädagogik und die Methode der Korrelation nach P. Tillich
3.3 Das Religionsverständnis der profanen Religionspädagogik
3.3.1 Der schwankende Gott - Gottesvorstellungen
3.3.2 Im Glauben leben
3.3.3 Zum Verständnis der Bibel
3.3.4 Die Bedeutung von Mythen und Symbolen
3.4 Die Wahrnehmung des Fremden / des Anderen
3.5 Bezug zur Lebenswelt
3.6 Bedeutungen für die Praxis - Anforderungen an Professionelle
3.6.1 Die Haltung des Professionellen
3.7 Zusammenfassung und Ausblick

4 SCHNITTSTELLEN ZWISCHEN DER PROFANEN RELIGIONSPÄDAGOGIK UND DEM KONZEPT DER LEBENSWELTORIENTIERTEN SOZIALEN ARBEIT
4.1 Alltag und Alltäglichkeit
4.2 Einsatzgebiete und Anwendungsmöglichkeiten
4.3 Handlungsmaxime der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit im Vergleich mit der profanen Religionspädagogik
4.3.1 Alltagsorientierung
4.3.2 Prävention
4.3.3 Integration
4.3.4 Partizipation
4.3.5 Regionalisierung
4.4 Die profane Religionspädagogik in der Lebenswelt Jugendlicher
4.4.1 Allgemeine Aspekte
4.4.2 Die Aufgabe der Familie: Ausbildung von Werten und Normen
4.4.3 Medien
4.4.4 Religiosität
4.5 Die Religionspädagogik als ein Arbeitsbereich der Sozialen Arbeit
4.5.1 Zur Haltung des professionell Handelnden
4.5.2 Religion und Soziale Arbeit
4.5.3 Zu Diskussionen aufrufen - Wahrnehmung des Fremden

5 IDEEN FÜR DIE PRAXIS
5.1 Grundlegende Anforderungen an die Praxis
5.2 Ideen für die offene Jugendarbeit
5.3 Möglichkeiten für Jugendgruppen
5.4 Freizeitarbeit
5.5 Offene Gottesdienstformen
5.6 Ausblick zum Thema Ganztagsschule

6 ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE

TABELLENVERZEICHNIS

LITERATURVERZEICHNIS

ABSTRACT

Einleitung

Ich bin bereits seit meinem vierzehnten Lebensjahr in der Kirche ehrenamtlich engagiert. Neben der Arbeit im Kindergottesdienst und bei den Pfadfindern als Gruppenleiterin konn-te ich auch im Bereich der Freizeiten mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen Erfahrungen sammeln. Da ich aus einem sehr kirchlich geprägten Umfeld komme, ist es mir wichtig, diese Aspekte auch in meine Arbeit einfließen zu lassen. Anhand dieser Ar-beit werde ich versuchen, Schnittsstellen zwischen dem klassischen Bereich der Religi-onspädagogik und der Sozialen Arbeit aufzuzeigen. Ausgangspunkt dieser Arbeit ist die Frage, in wiefern sich Soziale Arbeit und Religionspädagogik entsprechen und worin die Gemeinsamkeiten und Unterschiede liegen.

Im ersten Kapitel werde ich einen Überblick über das Konzept der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit nach Hans Thiersch geben um dann anschließend im zweiten Kapitel die tatsächliche Lebenswelt der Jugendlichen näher zu untersuchen. Um die aktuelle Lebens-lage der Jugendlichen im 21. Jahrhundert genauer beleuchten zu können, werde ich mit den Nachkriegsjahren beginnen und einen chronologischen Überblick über die Ziele und Werte der einzelnen Generationen geben. Hier richte ich den Fokus besonders auf die Veränderungen innerhalb der Lebenswelt, die durch den Pluralismus entstanden sind.

In dem Kapitel über die profane Religionspädagogik versuche ich anhand eines ausge-wählten religionspädagogischen Konzepts die Anforderungen an eine Religionspädagogik unter den pluralistischen Voraussetzungen darzustellen. Des Weiteren werde ich dieses Konzept mit dem Konzept der lebensweltorientierten Soziale Arbeit vergleichen, um so Anregungen und Thesen für eine profane Religionspädagogik in der Lebenswelt der Ju-gendlichen zu geben. Diese Thesen sollen dann in Ideen für die Praxis transferiert wer-den.

Innerhalb dieser Arbeit verwende ich die Begriffe Lebenswelt und Alltag synonym. Zusätzlich verzichte ich auf Grund der besseren Lesbarkeit auf die Erwähnung der weiblichen Formen der Berufsbezeichnungen, meine damit jedoch beide Geschlechter.

1 Das Konzept der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit (nach Hans Thiersch)

1.1 Geschichtlicher Abriss über die Entstehung des lebensweltorien- tierten Konzeptes

Seit nunmehr dreißig Jahren hat das Konzept der Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit an Bedeutung gewonnen. Es entstand in den siebziger Jahren als Gegenbewegung zur weitreichenden Spezialisierung innerhalb der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Das Konzept der Lebensweltorientierung hielt gesellschaftspolitisch fest an dem Verständnis, jeder müsse in seinem Alltag unterstützt werden. Zugleich zeigte die lebensweltorientierte Soziale Arbeit aber auch fachliche Kompetenzen. In den achtziger Jahren begann die große Differenzierung der lebensweltorientierten Konzepte, der Alltag verlor seine Be-ständigkeit und wurde allmählich zu dem Ort, an dem Probleme stattfanden. Auf diesen Umbruch hin entstanden in der Sozialen Arbeit eine Vielzahl von Hilfsangeboten, sowie die Bildung neuer verlässlicher Strukturen. Mit der Einführung des Kinder- und Jugendhil-fegesetzes, kurz KJHG, 1990, etablierte sich das Konzept der lebensweltorientierten So-zialen Arbeit, zeigte aber große Schwierigkeiten in der tatsächlichen Ausführung auf. So-mit ist in der Lebensweltorientierung heute mehr den je gefordert, klare Strukturen aufzu-bauen und nach außen hin zu vertreten.1

Seit den neunziger Jahren verwendet Hans Thiersch die Ausdrücke der Lebensweltorien-tierung und der Alltagsorientierung synonym, denn die Lebenswelt eines Menschen bein-haltet immer auch seinen Alltag, der einen großen Platz innerhalb seines Lebens ein-nimmt.

1.2 Die Bedeutung des Alltags

Alltag betrifft jeden. Jeder Mensch, unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung muss sich mit seinem Alltag auseinander setzen. Dieser Alltag ist in seiner Wahrnehmung ambivalent und beinhaltet ein großes Spektrum an Problemen, Chancen und Herausfor-derungen, die jeder Mensch auf seine eigene Weise bewältigen muss. Gerade um dieser Vielfalt gewachsen zu sein, bedeutet Alltag diese Kompetenzen zu haben und zu nutzen. Seit je her gilt der Alltag als etwas Banales, bürgt für Sicherheit und Vertrautheit. Mittler-weile aber verändert sich die Gesellschaft in rasantem Tempo. Dies führt dazu, dass die

Profane Religionspädagogik in der Lebenswelt Jugendlicher Seite - 6 -Meike Braun, Evangelische Fachhochschule Darmstadt bewährten Muster und Strukturen, die zur Bewältigung des Alltages genutzt werden, hinfällig werden.2

1. Alltag bietet keine Schutzräume mehr.
2. Diese raschen gesellschaftlichen Entwicklungen nehmen immer Einfluss auf den indi- viduellen Alltag eines Menschen.
3. Verlässliche Traditionen und Rollenmuster verlieren ihre Bedeutung und bieten damit auch keine Sicherheiten mehr im Umgang miteinander.

1.3 Die Bedeutung der Lebenswelt

Lebenswelt fungiert als ein phänomenologisches Konzept. Es fordert, den Einzelnen nicht abstrakt als Individuum zu sehen, sondern vielmehr den Mensch an sich in seiner Umgebung, in seiner Zeit und in seinem Umfeld. In diesen vorherrschenden Lebensbedingungen muss der Mensch in der Lage sein, sich mit den Strukturen und Mustern auseinander zu setzen, sie gegebenenfalls umzustrukturieren oder aufzulösen und seine persönlichen Schwerpunkte im Alltag festzulegen. Abweichendes Verhalten ist somit ein Zeichen dafür, mit den Strukturen des Alltags nicht fertig zu werden.

Innerhalb der Lebenswelt des Einzelnen existieren weitreichende soziale Lebensräume und Lebensfeldern, die einander entsprechen, aufeinander aufbauen oder sich gar widersprechen. Der Mensch, in seinem Alltag, hat die Aufgabe diese Systeme für sich zu ordnen und eine persönliche Struktur zu finden. Ziel der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit soll eine Aufarbeitung der Systeme sein und Möglichkeiten zur Vermittlung zwischen verschiedener Lebensfeldern aufzuzeigen.

Die normativ-kritische Auffassung der Lebenswelt widmet sich den als widersprüchlich erfahrenen Ressourcen und Mustern, die sowohl stützend als auch behindernd empfunden werden können.3

Die Lebenswelt, verstanden als historisch-konkretes Konzept, sieht die Wirklichkeit immer bestimmt durch gesellschaftliche Strukturen und Begebenheiten.

Im Zeichen der aktuellen gesellschaftlichen Lage und unter Berücksichtigung des Pluralismus4 ist Lebensweltorientierung immer zu verstehen als ein Aushandeln; der Alltag ist sensibel für neue Möglichkeiten.5

Längst hat der Begriff der Lebenswelt auch in der Rechtssprechung Einzug gehalten. BeProfane Religionspädagogik in der Lebenswelt Jugendlicher Seite - 7 -Meike Braun, Evangelische Fachhochschule Darmstadt sonders im Bereich des KJHG wird eine Analyse der Lebenswelt des Kindes oder des Jugendlichen für ein gerichtliches Verfahren - zum Beispiel bei einem Entzug der Perso-nensorge - notwendig. Der zentrale Begriff „Wohl des Kindes“ innerhalb des KJHG, meint einen Blick auf die individuellen Lebensumstände des Kindes oder des Jugendlichen. Zu-sätzlich ist die Jugendgerichtshilfe durch das Jugendgerichtsgesetz angewiesen, bei jeder strafrechtlichen Verfolgung eines Jugendlichen Auskunft über dessen aktuelle Lebenslage zu geben. Somit liegt eine deutliche Lebensweltorientierung innerhalb des Jugendstraf-rechts vor.6

1.4 Theoretischer Hintergrund

Das Konzept der Lebensweltorientierung setzt sich aus verschiedenen wissenschaftlichen Denkrichtungen zusammen.

1. Durch die hermeneutisch-pragmatische Denkrichtung (nach Hermann Nohl, Weniger, Dilthey) spielen die verschiedenen Dimensionen von Alltag und dessen Wahrnehmung eine große Rolle. Die hermeneutisch-pragmatische Pädagogik hat sich zum Ziel ge- macht Probleme in der Verbindung von Alltag und Praxiswissen zu analysieren und zu verändern.
2. In der phänomenologisch-interaktionistische Tradition (nach Alfred Schütz und ande- ren) begründet sich die lebensweltorientierte Soziale Arbeit durch einen Blick auf die Strukturen der Erfahrungen, die die Menschen in ihrem Alltag und ihrem Handeln be- einflussen.
3. Die kritisch phänomenologische Alltagtheorie.

1.4.1 Die kritisch phänomenologische Alltagtheorie

Einen besonderen Stellenwert nimmt die kritische phänomenologische Alltagtheorie nach Karel Kosik ein, die durch eine hervorgehobene Orientierung an der Doppeldeutigkeit -Sicherheit versus Enge - des Alltags gekennzeichnet ist. Alltag ist auf der einen Seite geprägt durch Routine, welche sich durch bekannte Abläufe, Handlungen und Haltungen auszeichnet. Auf der anderen Seite zeigt sich Alltag aber auch als das, was die Freiheiten einschränkt, was neues Handeln verhindert. Die kritisch phänomenologische Alltagstheorie möchte durch Analyse der Spannungsfelder innerhalb des Alltags neue Möglichkeiten eines gelingenderen (nicht gelungenen) Alltags an sich aufzeigen.

Thiersch sieht in der kritisch phänomenologischen Alltagtheorie eine Möglichkeit den ge-lebten Alltag zu destruieren. Im Alltag, in dem sich die Lebensumstände zeigen als Ver bindung von Täuschung und Wahrheit, müssen gerade die Täuschungen aufgedeckt und vernichtet werden. Unter Täuschungen versteht Thiersch die Eingeengtheit, die Be-schränktheit im Alltag, die uns daran hindern, ein Leben in Freiheit zu führen. Täuschun-gen sind aber nicht die notwendigen Strukturen innerhalb des Alltags, die eine Schutz-und / oder Entlastungsfunktion innehaben. So ist es wichtig, mit Hilfe eines feinen Ge-spürs Täuschungen zu entdecken, sichernde Strukturen aber aufrecht zu erhalten und zu stärken.

„Das Wesen im Alltag realisiert sich nur durch die schmerzliche Destruktion des Pseudokonkreten. Die Zwänge von Manipulation müssen aufgehoben werden, die Gewöhnung an sie, die mit der Gewöhnung einhergehende Unwilligkeit nach Hintergründen zu fragen, muss durchschaut und zerstört werden, damit die Möglichkeiten von Praxis freigesetzt werden.“7

Diese Konstruktion, die auf Karl Kosik zurückgeht setzt ihren Schwerpunkt auf die im All-tag herrschende Verbindung von Wirklichkeit und Täuschung und die daraus resultieren-den Spannungen. Alltag wird so in seiner Widersprüchlichkeit angenommen und Verände-rungen werden nicht nur in der persönlichen Ebene erreicht, sondern haben auch Einfluss auf die Gesellschaft.

1.5 Aufträge an die Soziale Arbeit

Das Konzept der Alltagsorientierung muss immer zweideutig verstanden und eingesetzt werden, zum einen als ein Modus des Handelns und Verstehens zum anderen als ein Rahmenkonzept der Sozialen Arbeit.

1.5.1 Alltäglichkeit als heuristisches Prinzip

Alltag ist wenn auch durch sie geprägt, niemals identisch mit der Wirklichkeit, Alltag fun-giert als „Schnittstelle objektiver Strukturen und subjektive Verständnis- und Bewälti-gungsmuster“8. Das heißt, der Alltag wird zum einen individuell durch die in ihm agieren-den Menschen geprägt, zum anderen nehmen gesellschaftliche Ereignisse darauf Ein-fluss. Im Moment zeigen sich auf Grund der Veränderungen innerhalb der Gesellschaft starke Verängstigungen der Menschen. Diese haben Auswirkungen auf den Alltag des Einzelnen. Thiersch sieht hierbei den Alltag als Bühne, die gesellschaftspolitischen Ein-flüsse als Kulissen vor denen der Mensch agiert. So gesehen, muss Alltag nun in zwei Ebenen wahrgenommen werden. Die erste Ebene umfasst eine Ordnung und Interpretation, die zweite dient zur Erklärung durch spezifische Konzepte. Dabei ist wichtig, dass auch jene Möglichkeiten genutzt werden, die nicht mit Hilfe verschiedener Konzepte er-klärbar sind.9

Lebensweltorientierte Soziale Arbeit reagiert auf akute Fragen und Probleme des Alltags und bezieht sich somit sehr stark auf die Umwelt und auf die Erfahrungen des Einzelnen mit dem Ziel der Erhaltung der herkömmlichen Strukturen. Der Alltag wird verständlich durch typisch Rollen- und Verhaltensmuster. Somit bedeutet Alltag als Modus des Verstehens und Handelns immer den Versuch der Hilfe zur Selbsthilfe mit dem Ziel der Sicherung und Fortführung der aktuellen Lebensumstände.

„Verständnis und Handeln sind orientiert an den Maximen des »und so weiter« und damit korrespondierend - des »ich kann immer wieder«.“10

1.5.2 Alltagsorientierung als ein Modus des Handelns und Verstehens

Alltagsorientierung ist vergleichbar.

Alltag vor allem auch in seinen Widersprüchen und den in ihm erlittenen und ver-schütteten Hoffnungen ist Ansatz für eine Hilfe zur Selbsthilfe, die - indem sie Le-bensmöglichkeiten freisetzt und stabilisiert und Randbedingungen verändert - viel-leicht Möglichkeiten eines menschlicheren, also freieren und selbstbestimmteren Lebens befördert."11

In einer besonderen Weise werden gerade die kleinen Dinge des Alltags aufeinander bezogen. Dabei agiert Alltäglichkeit

1. in der erfahrenen Zeit
2. im erfahrenen Raum
3. ist bestimmt durch erfahrene soziale Bezüge
4. unterstützt bei alltäglichen Aufgaben
5. gibt Hilfe zur Selbsthilfe
6. und hat die gesellschaftlichen Entwicklungen im Blick.

Ziel dieser Orientierung an dem Kleinen ist die Sicherung und Fortführung des als be-kannt Erlebten, so zum Beispiel die Einübung verschiedener Handlungsmuster oder Tä-tigkeiten im individuellen Leben. Da Alltag etwas Subjektives ist, gilt er aber nur für den Beteiligten. Daher muss als Handelnder im Bereich der Sozialen Arbeit der eigenen Alltag aufgebrochen werden, um ein besseres Verständnis für den Alltag des anderen zu erhal-ten.12

1.5.3 Handlungsmaxime der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit

Als Handlungsmaxime bezeichnet Hans Thiersch bestimmte Strukturen, die das Konzept der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit bestimmen.

Die Maxime der Alltagsorientierung zielt auf die Arbeit mit den Klienten in ihrem Umfeld mit den dort vorherrschenden Regeln ab. Die gegebenen Strukturen werden hingenommen und bearbeitet, so dass eine Bewältigung des Alltages möglich wird. Besonders deutlich wird dieser Auftrag in Leitmaximen, wie »anfangen wo der Klient steht«. In der Alltagsorientierung wäre eine Verschiebung zwischen spezialisierter Sozialarbeit und Alltagsorientierung wünschenswert, so dass die spezialisierte Soziale Arbeit ihre Aufgaben auch im Kontext der Alltagsorientierung wahrnehmen kann.

Gleichzeitig ist aber auch Prävention nötig. Sie gewährleistet ein frühes Eingreifen und verhindert schlimmere Entwicklungen. Dabei geht es nicht darum, immer vom Schlimmsten auszugehen. Die Maxime der Prävention beruht vielmehr auf der Anerkennung bereits bestehender problematischer Verhältnisse.

Unter der Maxime der Integration ist die Eingliederung des Anderen zu verstehen. Nicht die Ausgrenzung aus der Gesellschaft oder das Gleich-machen sondern die Anerkennung des Fremden und Verständnis von dessen Lebensweise ist das Ziel. Partizipation im Sinne der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit meint eine Fülle von Beteiligungsmöglichkeiten der Klientel, die nur dann einlösbar ist, wenn die hierarchischen Unterschiede zwischen Klient und professionellem Helfer überwunden werden. Partizipa-tion gewinnt im Kontext des Pluralismus eine hohe Bedeutung, da der Alltag, wenn er nicht fremdbestimmt sein soll, nur durch Entscheidungen definierbar ist. Diese Entschei-dungen beginnen im Kleinen und betreffen nur die persönliche Ebene. Manche Entschei-dungen haben aber auch Auswirkungen auf die Gesellschaft. Lebensweltorientierte Sozia-le Arbeit soll die Partizipation fördern und den Klienten zur Führung eines selbstbestimm-ten Lebens ermutigen.

Unter dem Kontext der Regionalisierung der Angebote orientiert sich das Konzept immer an den vor Ort herrschenden Möglichkeiten und Ressourcen.

Auch wenn lebensweltorientierte Soziale Arbeit auf eine dezentrale Organisationsstruktur abzielt, so ist dennoch eine konkrete Planung und die Vernetzung der Einzelnen nötig, mit dem Ziel des Erfahrungsaustausches und der Schaffung eines Netzwerkes mit dem Ziel eines weitreichenden Hilfeangebotes.

Um das Konzept der Lebensweltorientierung auch nachhaltig zu sichern und zu fördern, Schwachstellen aufzudecken und Grenzen aufzuzeigen ist eine reflexive Haltung des Professionellen unumgänglich.13

1.6 Kritik

Allzu oft wird der Begriff der Lebensweltorientierung nur als ein Rahmen genommen, der unterschiedlichste Ansätze miteinander in Verbindung bringt und unter einem Namen vereint. Eine wirkliche lebensweltorientierte Soziale Arbeit findet nicht statt.14 Thiersch selbst stellt die Frage, ob das Konzept nicht nur genutzt wurde, um in gegebenen Strukturen zu agieren, ohne die wirkliche Dimension der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit zu beachten und sich zu Nutze zu machen. Strukturen und Rahmenbedingungen werden als Gegeben hingenommen ohne diese kritisch zu hinterfragen.

Das Konzept der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit versteht den Alltag des Klienten auf Grund der äußeren Strukturen. Hier stellt sich die Frage, welchen Stellenwert die Wünsche und Bedürfnisse einer Person einnehmen und inwieweit diese in dem Konzept Berücksichtigung finden.

Leider geht das Konzept der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit nicht auf sogenannte „life events“ ein. Unter „life events“ versteht man Probleme, die in jeder Generation unabhängig von der Zeit und dem Umfeld wiederkehren, wie zum Beispiel der Eintritt in die Pubertät. Das Konzept ist vordergründig nicht darauf auslegt, in diesen notwenigen Einschnitten im Leben Unterstützung zu leisten.

Auch übersieht Thiersch die Möglichkeit verschiedener Kooperationen mit anderen Theo-rieansätzen der Sozialen Arbeit und baut sein Konzept nur innerhalb bestimmter Grenzen aus. Dabei ist anzumerken, dass vergleichbare Konzepte bereits existieren. So wäre durchaus eine Verbindung der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit mit dem „Life Mo-del“15 von Carel B. Germain und Alex Gitterman denkbar, denn der Grundtenor der beiden Konzepte ist die Berücksichtigung der aktuellen Einflüsse im Alltag des Klienten.16

Zu guter letzt stellt sich mir jedoch die Frage, ob die Erhaltung der gegeben Strukturen im Alltag eines Klienten immer anzustreben ist. Hier bedarf es der besonderen Einfühlung des professionell Handelnden, um erkennen zu kennen, welche der gegebene Strukturen unterstützend wirken können.

2 Die Lebenswelt Jugendlicher

2.1 Zum Begriff „Jugend“

Auf Grund des Pluralismus ist eine genaue Abgrenzung des Begriffs „Jugend“ durch Al-tersangaben nicht möglich. Heute wird in der Bundesrepublik Deutschland der endgültige Eintritt in das Erwachsenenalter mit dem Erreichen der Volljährigkeit am achtzehnten Ge-burtstag des Jugendlichen definiert. Der nun Erwachsene erhält damit seine vollständigen Bürgerrechte.

Aber nicht nur die Altersangaben ändern sich, auch die Bedeutung des Begriffs „Jugend“ hat sich in den letzten 200 Jahren immer wieder verändert. Im 18. Jahrhundert war Jugendzeit noch Heranwachsenden aus standesgemäß höheren Schichten vorbehalten Sie wurde als eine Zeit der Orientierung vor dem Eintritt in das Berufsleben angesehen. Heutzutage betrachtet man die Jugend als Zeitraum, den jeder Heranwachsende durchläuft, in dem er sich die Pflichten eines Erwachsenen schrittweise aneignet, aber im Problemfall doch noch den Schutz eines Kindes beanspruchen kann.17

Da „die“ Jugend schlechthin nicht existiert, kann man den Begriff nur noch unter größter Vorsicht als heuristischen Kollektivbegriff nutzen. In Untersuchungen und Studien über Jugendliche ist es daher immer notwendig den Begriff Jugend einzugrenzen und näher zu definieren, um vergleichbare Aussagen zu erhalten. Es gibt zwar generationsbedingte Gemeinsamkeiten der Jugend, aber auch diese Gemeinsamkeiten lassen noch keine kol-lektive Beurteilung der Heranwachsenden zu. Es ist immer wichtig den Begriff Jugend durch verschiedene Kriterien einzuschränken. Zum Beispiel spielt im Prozess des Er-wachsenwerdens die soziale Herkunft eine große Rolle, der Unterschied zwischen städti-schen und ländlichen Jugendlichen ebenso. Um den Begriff abzugrenzen und analysieren zu können, sind verschiedenen Raster nötig. Zum Beispiel werden Heranwachsende nach ihren Jugendmilieus eingeteilt:

1. Subkulturelle Milieus wie Teds, Rocker, Skinheads, die aus dem Arbeitermilieu ent- standen
2. Gegenkulturelle Milieus für Jugendliche mit gesellschaftlich entgegensetzen Zielen: Hippies, Ökofreaks, Frauenbewegungen, Ökologiebewegungen
3. Milieu der manieristischer Strömungen, für Jugendliche die sich selbst in ihrer „Cool- ness“ präsentieren, wie Popper, Technofreaks, Girlies
4. Institutionell integrierte „normale“ Jugendliche sind in Vereinen und Verbänden enga- giert.

Eine weitere beliebte Einteilung der Jugendlichen besteht in:

1. Klassen und / oder schichtspezifischer Differenzierung
2. Bildungsniveau (Schulabschlüsse, Arbeitslose)
3. Gesellschaftlicher Randgruppen (behinderte Menschen, ausländische Jugendliche)
4. Geographischer Herkunft (Stadt, ländlicher Raum)

Natürlich kann auch eine Unterteilung nach (sub)kulturellen Zugehörigkeiten erfolgen, oder auch nach sozialräumlichen Zugehörigkeiten.18

2.2 Die Lebenswelt Jugendlicher im geschichtlichen Wandel der letz- ten fünfzig Jahre

Gesellschaft befindet sich im Wandel und die Menschen mit ihr. Normen und Werte ändern sich und was gestern noch in war ist heute schon wieder out. So hat jede Generation ihre eigenen Vorstellungen vom Leben. Jugendliche, die in den Nachkriegsjahren groß geworden sind, haben ihre Lebenswelt ganz anders erlebt, als Jugendliche im 21. Jahrhundert umgeben von Massenmedien und Massenkommunikationsmitteln.

2.2.1 Jugendliche in den fünfziger Jahren - „Die Halbstarken“

Die Jugendzeit in den Nachkriegsjahren war schwierig und geprägt von Wünschen und Träumen. Mit Mofas, Motorrädern und Rock`n´Roll versuchten Jugendliche sich gegen die Welt der Erwachsenen aufzulehnen. Es galt sich in eine eigene Welt zurückzuziehen und seine Jugendzeit zu genießen. Dabei brachen viele Jugendliche mit den deutschen Tradi-tionen und orientieren sich an der amerikanischen Lebensweise, welche im Kino vorgelebt wurde. Diese Umorientierung äußerte sich in Deutschland in einer generellen Unzufrie-denheit. Die Jugendlichen wussten aber nicht, was zu verändern wäre, um die Frustration zu senken. Die „neuen Wilden“ zeigten ihre Rebellion nicht selten in Form von Musik und Tanz, aber auch Ausschreitungen und Krawalle waren Folgen dieser Unzufriedenheit. Ein Teil der Jugendlichen, sogenannte „Halbstarke“, lehnten sich mit Hilfe des nun auch nach Deutschland überschwappenden Rock`n´Roll auf. Dieser Musikstil mit all seinen Beglei-terscheinungen wie Kleidungsstil und Tanzarten, wurde als Protest gegen die älteren Ge-nerationen genutzt und um sich von ihr abzugrenzen. Mehr als die Hälfte der „Halbstar-ken“ waren zwischen 16 und 17 Jahre alt, fast 90 Prozent dieser Jugendlichen kamen aus dem Arbeitermilieu. Die Krawalle der „Halbstarken“ fanden vor allem als Protestform in großen Städten statt. Für Beteiligte begann die Sache als Spaß, doch die Krawalle wur-den teilweise blutig niedergeschlagen.19

Aber trotz dieser sehnsüchtigen Blicke nach Amerika und den Auflehnungsversuchen fand man in den ersten Jugendstudien heraus, wie konservativ eingestellt die Jugendlichen in den fünfziger Jahren waren. Die breite Masse waren an Amerika orientiert Jugendliche - sogenannte Teenager -, die in ihren Ansichten sehr gemäßigt waren. Die Wertorientierung der Jugendlichen war geprägt von den Jahren des Krieges und Mangelerfahrungen. Die Elterngeneration arbeitet hart, um den Kindern etwa zu bieten, sie sollten dieses Wertedenken um Begriffe wie Leistung, Fleiß, Ordnung, Vernunft, Pflicht, Autorität und Gehorsam verinnerlichen. Als Reaktanz zeigten Jugendliche ein typisches Auflehnungsverhalten, sie wollten das Leben genießen.20

Im Bereich der Politik zeigte sich hingegen kein Interesse oder Engagement, mehr als die Hälfte der Jugendlichen wollten mit diesem Thema nichts zu tun haben, Zeitungen wie die BILD entstanden in dieser Zeit in der man nicht über politische und gesellschaftliche Dinge nachdenken wollte.21

2.2.2 Jugendliche in den sechziger Jahren - „Die Rebellen“

Für Jugendliche in den sechziger Jahren begann die Suche und Ausbildung einer eigenen Jugendkultur. Dies zeigte sich wiederum auch in der Musik. Neben dem Rock`n´Roll begannen die Beatles ihren Siegeszug. Bis Mitte der sechziger Jahre gestaltete sich diese Suche nach Identität und einer eigenen Kultur eher ruhig.

In den sechziger Jahren begannen sich Jugendliche der höheren Bildungsschichten wie-der für Politik zu interessieren. Deutschland und die Deutschen wurden als festgefahren und die Sitten als beengt empfunden. Aber im Gegensatz zu den Jugendlichen in den fünfziger Jahren hatten sie ein Ziel, wollten die Gesellschaft ändern. In den Studentenre-volten Ende der sechziger Jahre versuchten diese Jugendlichen auf sich aufmerksam zu machen. In den nun zunehmend mit Fernsehgeräten ausgestatteten Haushalten verfolgte man die Selbstinszenierung der Studenten und sorgte für eine zusätzliche Verstärkung der Bemühungen der Studenten. Im Gegensatz zu den besser gebildeten Jugendlichen hatte die breite Masse noch immer kein Interesse an Politik, wichtig war die Freizeitgestal-tung.

Zusätzlich waren die sechziger Jahre auch geprägt von einer sexuellen Aufklärungswelle, der Rock wurde kürzer, die Tänze aufreizender und die Zulassung der Antibabypille sorg-te für einen - im Auge der älteren Generationen - Verfall der Sitten. Galt in den fünfziger Jahren das Paarleben ohne Trauschein als absolut verpönt, so begann man sich in den sechziger Jahren vom Konstrukt der Versorgungsehe zu lösen. Obwohl man dieses Zeitalter als das Zeitalter der freien Liebe bezeichnet, wurde diese sexuelle Freiheit von der Mehrheit der Jugendlichen nur in gemäßigten Bahnen gelebt. Als Botschafter der sexuel-len Revolution agierte die Jugendkultur der Hippies, die einen alternativen Lebensstil be-vorzugten und eine oppositionelle Meinung vertraten. Im Gegensatz zu bisher existenten Jugendkulturen wollten sich die Hippies nicht nur gegen die Generation der Eltern aufleh-nen, sondern sie versuchten gleich einen Umsturz des gesamten politischen Systems.22

2.2.3 Die siebziger Jahre - „Die überflüssige Generation“

Dieses Jahrzehnt wurde durch den Traum vom hohen Lebensstandard geprägt, der durch die Ölkrisen harte Dämpfer erfuhr. Es war auch das Jahrzehnt, indem der Arbeitsmarkt stetig zurückging und erste Jugendliche nach dem Schulabschluss keinen Ausbildungs-platz erhielten. Das Leben als Einzelgänger wurde wichtig, die noch in den siebziger Jah-ren vorherrschende Gruppenorientierung existierte schon bald nur noch in Randgruppen der Gesellschaft.

Zusätzlich begann man die ersten Auswirkungen einer erfolgreichen Emanzipationsbewe-gung zu spüren. Frauen wollten nicht mehr nur „Hausfrau und Mutter“ sein, sie wollten einen Beruf ergreifen. Wenn auch Frauen in der Arbeitswelt geduldet wurden, so bedeute-te dies noch lange nicht, dass sie die häuslichen Pflichten vernachlässigen durften. Haus-arbeit und Kindererziehung blieb auch weiterhin Frauensache. Der vorherrschende Wer-tewandel durchzog nun auch die Kindererziehung, Jugendliche wollten die Erziehungs-vorstellungen und -methoden ihrer Eltern nicht übernehmen, „frei und modern“ sollte die Kindererziehung sein. Obwohl alle Zeichen auf einen großen Generationskonflikt hindeu-teten, erlebten die meisten Jugendlichen die Kluft zwischen Alt und Jung nicht als allzu groß. Jungsein in den Siebzigern zeichnete sich durch Genuss aus, Jungsein machte Spaß, Erwachsenwerden und auf eigenen Füßen stehen war wenig attraktiv. Die Jugend-lichen wollten aus dem Alltag heraus, Aussteigen aus der Gesellschaft. Viele Jugendliche schlossen sich Sekten an oder tauchten in der Disco-Glitzerwelt ab. Nur ganz wenige Ju-gendliche interessierten sich für Politik. In unzähligen Diskussionen entwarfen die „Polit-freaks“ ihr Programm. Die politischen Forderungen dieser Generation waren orientiert an der Zukunft, es ging um elementare Dinge wie Umweltschutz, Bildungssysteme und Ar-beitslosigkeit, die später von der Partei „Die Grünen“ im Bundestag aufgegriffen werden sollten.

Um 1977 hatte die Bewegung der Politfreaks bereits den Höhepunkt überschritten und zerfiel in diverse Splittergruppen.23 In diesem Jahr kam die Punk-Bewegung auf. Ziel der Bewegung war es, Veränderungen bei sich zu beginnen und so zeigte sich diese Subkul-tur als sehr einzelgängerisch und narzisstisch. Die Punks sahen keine Zukunft für die Ge-sellschaft und wollten sich von dieser auch äußerlich mit schrillen Outfits distanzieren. Ende der siebziger Jahre setzte die Kommerzialisierung der Bewegung ein und versetzte ihr damit einen harten Schlag.24

2.2.4 Die achtziger Jahre - „Die Problemgeneration“

Die achtziger Jahre wurden geprägt durch die immer schlechter werdende Lage auf dem Arbeitsmarkt.25 Die schlechten Zukunftsaussichten spiegelten sich im Denken der Jugendli-chen wider: „Null Bock auf nichts“ als das Motto einer ganzen Generation. Noch nie waren Jugendliche eines Jahrzehnts sich unähnlicher, obwohl die breite Masse eher brav und angepasst war. So spielte sich Jugendkultur in zwei Extrema ab: Auf der einen Seite die angepassten Popper mit ihrem Leitspruch: „Amüsieren statt protestieren“, auf der anderen Seite die schrillen Punks, die das Image eines „No-Future-Gossenkind“ aufrecht hielten. Statt neue Bewegungen zu gründen, hielt man an bekannten Subkulturen und Protestbe-wegungen fest und versuchte diese wieder zu forcieren. Die frühen achtziger Jahre zeich-neten sich zudem als eine Zeit der großen Protestbewegungen aus, die Hausbesetzun-gen, Sitzstreiks und Blockaden als Mittel nutzten, um auf sich aufmerksam zu machen.26 Mitte der achtziger Jahre zerfielen die Jugendkulturen und Jungsein äußerte sich nun in vielen verschiedenen Facetten. Eines hatten sie aber alle gemeinsam: Weltoffenheit, Le-bensfreude und Toleranz. In dieser Zeit vollzog sich der erste große Wandel der Wertori-entierung. Das eigene Ich wurde wichtig, Lust und Genuss. Erfahrung, Erlebnis, Leiden-schaft, Abenteuer, Intensität wurden die Werte dieser Generation. Dadurch entstand ein Phänomen, welches bis heute stetig in seiner Attraktivität gestiegen ist, Körperkultur und Markenfetischismus. Schlanksein wurde zum Wahn, Fitnessstudios und Trennkost bestimmten das ganze Leben. „Oberfläche, Schein und Design wurden (...) wichtiger als das Sein.27 Nur wer die angesagtesten Marken trug, die wichtigsten Güter konsumierte, gehörte dazu - zur breiten Masse der an der Konsum- und Spaßgesellschaft orientierten Jugendlichen. Unterstützt wurde diese neue Strömung in der Jugendkultur zusätzlich durch das Aufkommen des Musiksender MTV, der nun rund um die Uhr die neuesten und angesagtesten Trends in Form von Musikvideos auf die heimischen Bildschirme sendete. Diese Musikvideos bildeten den sogenannten „Pop-Mainstream“, der die breite Masse von Jugendlichen begeisterte.

Gegen Ende der achtziger Jahre begann sich die Stilrichtung des Punks in viele verschiedene Subkulturen zu spalten und brachte einige - auf die neunziger Jahre bezogen -wichtige Jugendkulturen, unter anderem den Grunge hervor. Die meisten dieser neugegründeten Grungebands legten keinen Wert auf materialistische Dinge, doch dem zu Trotze begann man den neuen Trend zu vermarkten.28

2.2.5 Der Anfang der neunziger Jahre - „Die Generation X“

1991 erschien das Buch „Generation X, Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur“ von Douglas Coupland, welches schnell zum Bestseller wurde und der Generation von Jugendlichen zu Beginn der neunziger Jahre ihren Namen gab.

Schnell prägte der Grunge eine ganze Generation, Curt Cobain und seine Band Nirvana wurden über Nacht zu Idolen der Jugendlichen. Obwohl sich Curt Cobain im April 1994 umbrachte, da er dem Druck der Medien nicht mehr standhalten konnte, tat dies dem Boom des Grunge keinen Abbruch Ganz im Gegenteil, sogar sein Tod wurde noch ver-marktet.

Auch in der Filmbranche erkannte man schnell das Potenzial der „Generation X“ und man begann Filme eigens für diese Kultur zu produzieren. Thematisch spiegeln diese Filme die Grundhaltung der Jugendlichen wider. Es geht um Vereinsamung, um die Gesellschaft und um die Frage nach dem Sinn des Lebens. Anhängern dieser Bewegung ging es um die Verbrüderung mit gesellschaftlichen Randgruppen, wie behinderten Menschen, Aus-ländern oder Homosexuellen, die ebenfalls keinen Platz in der Gesellschaft hatten.

Im Gegensatz zu den sechziger und siebziger Jahren, in denn der Drogenkonsum fast gesellschaftsfähig war, verheimlichte die „Generation X“ ihren Konsum von illegalen Rauschmitteln. Letztendlich war jeder auf sich alleine gestellt, im Drogenrausch und im Alltag. Mit den Grunge setzte sich eine Generation aus Individualisten zusammen, mit Problemen musste jeder alleine zurecht kommen.

Aber nicht nur der Bereich der Medien wurde vom Grunge beeinflusst, mit Hilfe von Marketingstrategien wurde diese Grundhaltung in alle Bereiche des täglichen Lebens hineingetragen. Und damit begann sich die Grunge-Bewegung auch wieder aufzulösen. Denn hinter dem Ursprung dieser Bewegung stand eine Haltung wider die Kommerzialisierung und jetzt erfuhr die Grunge-Bewegung genau dieses Schicksal.29

2.3 Jugendliche von heute - Pluralität von Lebensführungen

Im Vergleich der letzten fünfzig Jahre ist festzustellen, dass es nicht mehr „die“ Jugend gibt, jeder Jugendliche durchläuft seine eigenen Entwicklungsstufen und ist dabei nahezu auf sich alleine gestellt. Zwar wird noch immer eine „bürgerliche Normalbiografie“ propa-giert, doch selbst diese ist verbunden mit Entscheidungen, Chancen und Problemen. Ju-gend ist nicht zu vereinheitlichen und verlangt nun konsequent den Blick auf den Einzel-nen. Diese Individualisierung bedeutet nicht, dass Jugendliche in ihrem Alltag vereinsa-men, es geht vielmehr um

„die strukturellen Veränderungen von Lebenslagen im Sinne des Verlustes der in-dividuellen Verbindlichkeiten vorgegebener Lebensformen, ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz und faktischer Verbreitung. So betont Individualisierung zunächst das Verschwimmen selbstverständlicher Formen und Regeln der Lebensführung, das Aufbrechen der Traditionen und Routinen und die Eröffnung vielfältiger Optionen für nahezu alles und jeden.“30

Pluralisierung bedeutet auch eine Vielzahl von Lebensstilen und Möglichkeiten der Lebensführung. Dies bietet eine Menge von Chancen, stellt aber hohe Ansprüche an die Jugendliche, die sich ohne verlässliche Strukturen im Rücken zu haben, ihren Weg bahnen müssen. Obwohl es für Jugendliche immer schwere wird sich in der Vielzahl von Möglichkeiten zurecht zu finden, so stellt die Gesellschaft und das Leben trotzdem noch bestimmte Ansprüche an die Jugendlichen:

1. Ausbildung der eigenen Identität
2. Heranreifung einer eigenen Persönlichkeit
3. Anerkennung vorherrschender Werte und Moralvorstellungen
4. berufliche Orientierung
5. Selbständigkeit
6. Eingehen von Partnerschaften und
7. Eingliederung in die Gesellschaft31

Diese Ansprüche zu erfüllen, wird für Jugendliche immer schwerer und fordert vom Einzelnen immer wieder neu Entscheidungen zu treffen. Diese sind oftmals nicht ganz überschaubar, ob sich diese Entscheidung positiv auswirkt, lässt sich nicht genau vorherbestimmen. Besonders vor dem Hintergrund, dass diese Entscheidungen von Gruppen von Menschen auch immer in Frage gestellt werden können, gestaltet sich der Entscheidungsprozess als zunehmend schwieriger.

Besonders problematisch erscheint die Tatsache, dass Jugendliche häufig nicht mehr von ihren Eltern durch den Dschungel an Möglichkeiten geleitet werden. Diese Aufgaben übernehmen mit steigender Tendenz immer mehr jugendgerechte Medien, wie die Musiksender MTV und Viva oder Zeitschriften wie Bravo oder Bravo Girl!. Jeder neu aufkommende Trend wird kommerzialisiert.

Außerdem verlagern sich Probleme des frühen Erwachsenenalters zunehmend in den Bereich der Jugend und stellen so Jugendliche vor neue Probleme. Diese Probleme betreffen vor allem die Zukunft.32

2.3.1 Exkurs: Die „(Post)moderne“

Der Begriff der „Postmoderne“ kennzeichnet seit Mitte der achtziger Jahre neben dem Begriff des Pluralismus, eine bestimmte kulturelle Strömung, die bezeichnend für die derzeitige Lage der Gesellschaft ist.33 Dabei ist der Begriff nicht exakt zu de-finieren und bezeichnet teilweise auch gegensätzliche Strömungen. So kann der Begriff Subjektivitätsverlust und Rückkehr zur Subjektivität bedeuten. Die „(Post)moderne“ ist gekennzeichnet durch vielfältige Sprach- und Lebensstile. Je-der ist tendenziell auf sich selbst zurückgeworfen; und jeder weiß daß dieses Selbst wenig ist.34

Der Begriff der „Postmoderne“ zeichnet sich durch vorangestellte Silbe >post< aus und kennzeichnet so die Erwartung an das Ende der Moderne und den Beginn von etwas danach. „Postmoderne“ ist Ausdruck und Abkürzung einer Klage.35 Die Mo-derne ist zu eng geworden für alle vorherrschenden Formen der Lebensstile und Möglichkeiten. Dies führt zu einer gravierenden Unsicherheit innerhalb der Gattung Mensch, was denn nun richtig und was falsch sei. Um seine eigene Identität he-rauszufinden, wird das Eigene gnadenlos in das Fremde projiziert, ohne den Anteil des anderen in der eigenen Persönlichkeit wahrzunehmen. Und deshalb ist es wichtig, dass Religion in einer „postmodernen“ Gesellschaft nicht länger mit den Attributen >Heil<, >Trost<, >Geborgenheit< zu belegen ist, sondern vielmehr für >Aufbruch<, >Suche< und >Fremdsein< steht.

[...]


1 Vgl. Thiersch / Grunwald / Köngeter in Thole (Hrsg.), 2002; S. 165f

2 Vgl. Thiersch, 1986; S. 10-15

3 siehe auch Kapitel 1.4.2

4 Definition: 1. Vielfalt, Weitgespanntheit der Meinungen, politischen Ansichten und Weltanschau-ungen in einem Gemeinwesen; 2. Vielgestaltigkeit der gesellschaftlichen Phänomene (Wörterbuch der Microsoft Encarta Enzyklopädie Professional 2003, Stichwort: Pluralismus)

5 Vgl. Thiersch / Grunwald / Köngeter in Thole (Hrsg.), 2002; S. 167ff

6 Vgl. I. Richter in Grunewald / Ortmann / Rauschenbach / Treptow (Hrsg.), 1996; S. 59-65

7 Thiersch, 1986; S. 35

8 Thiersch, 1986; S. 13ff

9 Vgl. Thiersch, 2003; S. 47f

10 Thiersch, 1986, S. 19

11 Thiersch, 1986; S. 13

12 Vgl. Thiersch in Jahrbuch der Sozialen Arbeit 2000, S. 297-303

13 Vgl. Thiersch 2002; S. 28-40 sowie Thiersch / Grunwald/ Köngeter in Thole (Hrsg.), 2002; S. 173f und Schilling 1997; S. 226f

14 Vgl. Schilling 1997; S. 161f

15 siehe u.a. in „Praktische Sozialarbeit - Das "Life Model" der sozialen Arbeit“, 1999, Stuttgart

16 Vgl. Schilling, 1997, S. 227f

17 Vgl. Statistisches Bundesamt, 2000, S. 8

18 Vgl. Ferchhoff / Neugebauer, 1997, S. 144

19 Vgl. Kögler, 1994, S. 58-60

20 Vgl. Faix, 1997, S.128

21 Vgl. Shell Deutschland (Hrsg.), 2002, S. 30-34 sowie Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.), 1985; S.366-376

22 Shell Deutschland (Hrsg.), 2002, S.35-37

23 Vgl. Faix, 1997, S. 70-74 sowie Shell Deutschland 2002, S. 58-64

24 Vgl. Kögler, 1994, S. 170

25 Ferchhoff, 1993, S. 78

26 Kögler, 1994, S. 184f

27 Ferchhoff, 1993, S. 80

28 Vgl. Faix, 1997, S. 75-77, 129

29 Vgl. Faix, 1997, S.80-95

30 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BmfSFJ), 2002, S. 246

31 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BmfSFJ), 2002, S. 246ff sowie Faix, 1997, S. 135f

32 Vgl. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (Hrsg.), 2003, S. 36f

33 Ich verwende hier den Begriff der (Post)moderne, ohne eine genaue Erläuterung, da in der Literatur kein Konsens über die Bedeutung des Begriffs zu finden ist.

34 Lyotard, 1982, Das Postmoderne Wissen, Bremen, zit. n. Ferchhoff / Neubauer, 1997, S. 63

35 Vgl. Mette / Rickers, 2001 Stichwort: Postmoderne

Ende der Leseprobe aus 74 Seiten

Details

Titel
Profane Religionspädagogik in der Lebenswelt Jugendlicher - Schnittstellen zwischen sozialer Arbeit und Religionspädagogik
Hochschule
Evangelische Hochschule Darmstadt, ehem. Evangelische Fachhochschule Darmstadt
Note
1,3
Autor
Jahr
2003
Seiten
74
Katalognummer
V20016
ISBN (eBook)
9783638240215
ISBN (Buch)
9783638700627
Dateigröße
693 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Profane, Religionspädagogik, Lebenswelt, Jugendlicher, Schnittstellen, Arbeit, Religionspädagogik
Arbeit zitieren
Diplom-Sozialpädagogin Meike Braun (Autor:in), 2003, Profane Religionspädagogik in der Lebenswelt Jugendlicher - Schnittstellen zwischen sozialer Arbeit und Religionspädagogik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/20016

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