Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Subsysteme und die Funktion der Gewerkschaften
2.1 Die Subsysteme - Arbeitsbeziehungen & Wohlfahrtsstaat
2.2 System der Arbeitsbeziehung und Wohlfahrtsstaat
2.3 Sozialpolitische Funktionen der Gewerkschaften
3 Idealtypen, Länder und Indikatoren
3.1 Idealtypen
3.2 Länderstudien
3.3 Zwischenfazit & Hypothesen
4 Analysen
4.1 Indikatoren des Einflusses
4.2 Analysen
4.3 Länderbezogene Ergebnisse
4.4 Fazit
5 Diskussion
Literatur
Abbildungsverzeichnis
4.1 Gewerkschaftlicher Organisationsgrad und Deckungsgrad aller Tarifverträge
4.2 Armutsrate und gewerkschaftlicher Organisationsgrad
4.3 Gini-Koeffizient und gewerkschaftlicher Organisationsgrad
Tabellenverzeichnis
2.1 Die sozialpolitischen Funktionen der Gewerkschaften
3.1 Zuordnung der Beispielländer zu den (Ideal-)Typen
1 Einleitung
Die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung beinhaltet unterschiedliche Subsysteme, die sich durch eine institutionelle Komplementarität auszeichnen. Hierunter finden wir u.a. das System der Industriellen Beziehungen und des Wohlfahrtsstaats. Die vorliegende Arbeit versucht herauszufinden, ob Akteure des Systems der Arbeitsbeziehungen Einfluss auf den Wohlfahrtsstaat ausüben können.
Gewerkschaften sind sowohl als Akteure in der Tarifpolitik als auch in der staatlichen Wohlfahrtspolitik der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie. Beeinflussen Gewerkschaften die staatliche Wohlfahrtspolitik, wenn ja inwiefern und welche Systemeigenschaften und Organisationseigenschaften bestimmen die Einflussmöglichkeiten von Gewerkschaften? Die Entstehungsgeschichte der modernen Wohlfahrtsstaaten hat gezeigt, dass Gewerkschaften hierbei eine wichtige Rolle ausübten und oftmals die treibende Kraft waren (Schmidt, 2005; Esping-Andersen, 1990). Damals waren Gewerkschaften Massenbewegungen, die die Arbeiter hinter sich vereinten und deren Interessen gegenüber der Politik vertraten. In den vergangenen Jahrzehnten fand in den meisten europäischen Staaten ein unvergleichlicher Mitgliederschwund innerhalb der Gewerkschaftsbewegung statt, der unterschiedliche Gründe besitzt (exempl.: Bryson, Ebbinghaus & Visser, 2011). Sollte die damalige Gewerkschaftsstärke für den Einfluss bei der Entstehung des Wohlfahrtsstaats verantwortlich gewesen sein, müsste in Ländern mit hohem gewerkschaftlichem Organisationsgrad noch immer ein Einfluss auf die staatliche Wohlfahrtspolitik feststellbar sein. Im Umkehrschluss sollte in Ländern mit geringem gewerkschaftlichem Organisationsgrad kein sozialpolitischer Einfluss von Seiten der Gewerkschaften feststellbar sein. Im nächsten Abschnitt wird zunächst auf das Subsystem der Arbeitsbeziehung und des Wohlfahrtsstaats eingegangen. Hierbei soll vor allem der historischen Entwicklung des Wohlfahrtsstaats und die Einwirkung der Gewerkschaften Raum gegeben werden. Zudem soll die Rolle der Gewerkschaften und deren Funktionen innerhalb des Wohlfahrtsstaats herausgearbeitet werden. Im dritten Teil wird anhand einer empirischen Untersuchung von drei Ländern, Deutschland, Großbritannien und Schweden, versucht zu zeigen, dass unterschiedliche Subsysteme verschiedenartige Auswirkungen auf Armut und Ungleichheit haben. Hierbei soll herausgearbeitet werden, welche System- und Organisationseigenschaften die Einflussmöglichkeiten von Gewerkschaften steigern oder senken. Abschließend wird auf die empirischen Befunde und ihre Bedeutung Stellung bezogen.
2 Die Subsysteme und die Funktion der Gewerkschaften
In diesem Abschnitt wird zunächst ein Überblick über die Subsysteme der Arbeitsbeziehungen und des Wohlfahrtsstaats geschaffen. Im Anschluss wird die historische Entstehung des Wohlfahrtsstaats und der Einfluss der Gewerkschaften erläutert. Darauf folgt ein Überblick der Funktionen und Einflussmöglichkeiten, die Gewerkschaften in der staatlichen Wohlfahrtspolitik besitzen.
2.1 Die Subsysteme - Arbeitsbeziehungen & Wohlfahrtsstaat
Das System der Arbeitsbeziehungen Mau definiert die industriellen Beziehungen als ”die Gesamtheit der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit auf den Ebenen Betrieb, sektoraler Ar- beitsmarkt und Gesamtwirtschaft“ (Mau,[2009]) bzw. Gesamtgesellschaft. Neben den Akteuren Kapital und Arbeit kann der Staat als dritter Akteur fungieren. Die staatliche Einflussnahme ist im europäischen Vergleich allerdings unterschiedlich stark ausgeprägt (ebd.). Wesentlichster Akteur auf Seiten der Arbeit sind die Gewerkschaften, auf Seiten des Kapitals die Unternehmen oder (Arbeitgeber-)Verbände. Neben den Gewerkschaften sind in einigen europäischen Ländern die Betriebsräte wichtige Akteure auf der betrieblichen Ebene. Hauptgegenstand in den industriellen Beziehungen ist der Kollektiv-Vertrag. In Europa ist das System der industriellen Beziehungen institutionalisiert und verrechtlicht (Mikl-Horke,[2007]).
In den europäischen Staaten existieren unterschiedliche Gesetzgebungen, die wiederum Auswirkungen auf die Verhandlungsebene haben. Grundsätzlich setzen sich die Akteure auf betrieblicher Ebene zumeist über Themen, wie Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit, Einstellungen und Entlassungen auseinander. Auf der sektoralen Ebene werden vorwiegend Bedingungen zu Entlohnung aber auch zur Arbeitszeit und Beschäftigung zwischen den Vertretern von Kapital und Arbeit ausgehandelt. Akteure auf dieser Ebene sind Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Auf gesamtwirtschaftlicher bzw. gesamtgesellschaftlicher Ebene sind es wiederum Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die ihre Forderungen an die Politik formulieren, Lobbyarbeit betreiben und weitere Funktionen ausüben. Teilweise existieren auch enge Verbindungen zwischen Akteure der industriellen Beziehungen und einzelnen politischen Parteien.
Gewerkschaften sind vielseitige Akteure, die vorwiegend innerhalb ihres originär angestammten Bereichs der Tarifpolitik und der Betriebspolitik tätig sind. Darüber hinaus besitzen sie in einigen Ländern eine bedeutende Rolle auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene. In der vorliegenden Arbeit ist vor allem die Rolle der Gewerkschaften in der Sozialpolitik von Bedeutung.
Wohlfahrtsstaat Ein Wohlfahrtsstaat ist ein Staat, der ”eineaktiveRolleinderSteuerung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Abläufe übernimmt und einen beträchtlichen Teil seiner Ressourcen sozialpolitischen Zwecken widmet, die der Forderung nach einer größeren Gleichheit der Lebenschancen in den Dimensionen Einkommenssicherung, Gesundheit, Wohnen und Bildung dienen“ (Alber,[1998]). Die Entstehung der Wohlfahrtsstaaten hatte verschiedene Ursachen, die in den europäischen Staaten unterschiedlich stark ausgeprägte Beweggründe zur Folge hatten. Ein maßgeblicher und in allen Ländern vorherrschender Anstoß war die industrielle Re- volution und die daraufhin entstandene ”SozialeFrage“.InnerhalbdereinzelnenStaatengabes unterschiedliche Reaktionen auf die aufkommenden Probleme und damit wohlfahrtsstaatliche Entwicklungen. Die Entstehung der Wohlfahrtsstaaten wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung mit dem funktionalistischen und dem institutionalistischen Ansatz oder anhand Konflikttheorien erklärt. Konflikttheorien gehen davon aus, dass der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit und die Einführung von Demokratie zur Entstehung von Wohlfahrtsstaaten unter der Leitung linkspolitischer Parteien und Koalitionen führte (Schmidt,[2005] ). Der Einfluss von Machtressourcen, Herrschaftsbeziehungen und Konflikten zwischen sozio-ökonomischen Interessengruppen kann die Entstehung und Entwicklung des Wohlfahrtsstaats erklären.
Eines der einflussreichsten Werke in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung The Three Worlds of Welfare-Capitalism von Esping-Andersen ([1990] ) betrachtet die Entstehung wohlfahrtsstaatlicher Politik und ihre divergierende Ausgestaltung. In seiner Arbeit werden drei unterschiedliche Wohlfahrtsregime klassifiziert.
2.2 System der Arbeitsbeziehung und Wohlfahrtsstaat
In westlichen Demokratien werden die Entstehung und Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten nach dem Machtressourcen-Ansatz als Ergebnis langwieriger Verteilungskonflikte zwischen sozio- ökonomischen Interessengruppen (Klassen) begriffen (Urban, 2010). Die aus der sozialdemokra- tischen Politischen ÖkonomieentstammendenKlassenmobilisierungs-ThesebestätigtdenMachtressourcenAnsatz und unterstreicht den Einfluss sozio-ökonomischer Interessengruppen als Antrieb des Wandels.
Vor dem Hintergrund der Industriellen Revolution und im Zusammenhang mit der Entstehung von Wohlfahrtsstaaten waren die Arbeiterbewegung und das Kapital als Akteure in den Verteilungskonflikten von besonderer Bedeutung. Die politische Mobilisierung der Arbeiterschaft allein oder deren Koalition mit anderen Interessengruppen führte zur Institutionalisierung einzelner wohlfahrtsstaatlicher Programme, die zum späteren Wohlfahrtsstaat führten (Esping-Andersen, 1990; Schmidt, 2005). Entweder war es die Arbeiterschaft selbst, die in der Lage war, somit in der Regierungsbeteiligung, den Wohlfahrtsstaat zu etablieren (Schweden) oder er wurde oben“. ”von ”Vonoben“meintdieEinführungwohlfahrtsstaatlicherProgrammendurchdiealtenHerrschaftsträger, die auf der Suche nach Legitimitätssicherung waren.
Nach dem Durchbruch der politischen Demokratie standen den Lohnabhängigen mit den sich gründenden Arbeiterparteien, Interessenvertretungsorganisationen in den politischen Arenen des Staates zur Verfügung. Diese Arbeiterparteien waren zwar nicht in der Lage die sozio-ökonomische Machtasymmetrie zwischen Kapital und Arbeit aufzuheben, doch konnten mit deren Hilfe wohlfahrtsstaatliche Politiken implementiert und die Verteilungsergebnisse des Marktes respektive der ökonomischen Verteilungskonflikte korrigiert werden (Urban,[2010]).
Nach Ebbinghaus & Kittel ([2006] ) ist die Verteilung des erwirtschafteten Sozialprodukts eine zentrale Aufgabe des Systems der Arbeitsbeziehungen und des Wohlfahrtsstaats. Die ”Tarifpo- litik und die Sozialpolitik stehen für zwei gesellschaftliche Mechanismen der (Re-)distribution sozialer Lebenschancen: Aushandlung des Markteinkommens und der Arbeitsbedingungen von Arbeitnehmern und die soziale Absicherung und der gesellschaftliche Ausgleich durch Sozialtransfers und Steuern“ (Ebbinghaus & Kittel,[2006] ).
” Überall dort, wo Gewerkschaften (oder Betriebsräte) und Arbeitgeber(verbände) Tarifverträge (oder Betriebsvereinbarungen) aushandeln, werden die Entlohnung, die Arbeitszeit und weitere Arbeitsbedingungen sowie eventuelle betriebliche Sozialleistungen kollektiv geregelt (primäre Redistribution). Der Wohlfahrtsstaat reguliert den indirekten Verteilungsprozess an jene, die am direkten Aushandlungsprozess nicht teilnehmen oder deren soziale Belange nicht ausreichend berücksichtigt werden, durch Transferleistungen sowie öffentliche Dienstleistungen, die durch Steuern und Sozialabgaben finanziert werden (sekundäre Redistribution)“ (ebd.)
Aus der historischen Entstehungsgeschichte von Wohlfahrtsstaaten und der zentralen Aufgaben des Systems der Arbeitsbeziehungen und des Wohlfahrtsstaats ergibt sich, dass den Gewerkschaften als Vertreter der Arbeiter und Arbeitnehmer eine wichtige Bedeutung in eben jenem Verteilungsprozess zukommt. Vor allem in der Tarifpolitik sind es die Gewerkschaften, die sich darin bemühen gute Ergebnisse für ihre Mitglieder zu erzielen und somit eine soziale Gleichheit anstreben. In einigen Ländern sind Gewerkschaften darüber hinaus gesamtwirtschaftliche Interessenvertretungen, die sich zur Übernahme von Mitwirkung und Mitverantwortung im Rahmen des (Wohlfahrts-)Staats bereit erklären.
Im folgenden Abschnitt werden sozialpolitische Funktionen der Gewerkschaften erläutert.
2.3 Sozialpolitische Funktionen der Gewerkschaften
Gewerkschaften können auf unterschiedliche Arten Einfluss auf die staatliche Wohlfahrtspolitik nehmen. Abbildung 2.1 verdeutlicht die sozialpolitischen Funktionen, über die Gewerkschaften verfügen können.
”DieappellativenundlegitimatorischenFunktionengehörenzudenDauer- aufgaben des alltäglichen Geschäfts von Gewerkschaften als politische Verbände“ (Döring & Koch,[2003]). Allerdings lassen sich diese Funktionen in mehrere Aufgaben unterteilen, die die Gewerkschaften innerhalb des gesellschaftlichen Politikbetriebs ausführen. Unter der kooperativen Funktion ist die Gestaltung und Unterstützung der staatlichen Sozialpolitik zu verstehen. Ein deutsches Beispiel hierfür wäre die gewerkschaftliche Beteiligung in der Selbstverwaltung der sozialen Sicherungssysteme. Im schwedischen Gent-System üben die Gewerkschaften durch die alleinige Verwaltung der Arbeitslosenversicherung die kooperative Funktion aus (Leonardi,[2006] ). Bei der subsidiären Funktion übernehmen Gewerkschaften die Verantwortung für zusätzliche Systeme der sozialen Sicherung. Hierunter sind die meist nur für Gewerkschaftsmitglieder vorgesehenen Zusatzversicherungen zu verstehen. Das im Jahre[2001] in Deutschland von Gesamtmetall und IG Metall eingerichtete Versorgungswerk MetallRente gehört in diese Kategorie, genauso wie die im gewerkschaftlichen Mitgliedsbeitrag inbegriffene Freizeitunfallversicherung der DGB-Gewerkschaften.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2.1: Die sozialpolitischen Funktionen der Gewerkschaften. Quelle: Döring & Koch (2003).
Neben den voran genannten sozialpolitischen Funktionen, die Gewerkschaften ausüben, ist die Verflechtung zwischen Gewerkschaften und politischen Parteien gleichfalls von großer Bedeutung. Im internationalen Vergleich kann man zwischen drei Formen unterscheiden: (1) Gewerkschaften können aufgrund politischer oder religiöser Anschauung mit bestimmten Parteien verbunden sein; (2) Es kann eine langjährige Allianz zwischen einer politischen Partei und der Gewerkschaften bestehen; (3) Es besteht keine alleinige Bindung zu einer politischen Partei, d.h. die Gewerkschaften sind eher sachorientiert (Hassel, 2007).
Gewerkschaften sind darüber hinaus in der Lage mittelbar Einfluss auf politische Entscheidungen auszuüben, indem Gewerkschaftsmitglieder in die Volksvertretung entsendet werden. Die gewerkschaftlichen Abgeordneten in den nationalen Parlamenten können auf diesem Weg relevante Themen der Gewerkschaften direkt in der Politik flankieren.
Auch in Sachen Finanzierung und finanzielle Unterstützung von politischen Parteien spielen Gewerkschaften eine bedeutende Rolle. Dies war besonders in Großbritannien relevant, wo die Gewerkschaften 50 % bis 70 % der Gelder für die Labour Party stellte (Lebek-Linke, 1998).
3 Idealtypen, Länder und Indikatoren
Um zu untersuchen, weshalb Gewerkschaften Einfluss auf die staatliche Wohlfahrtspolitik haben, ist es notwendig eine Unterscheidung von Wohlfahrtsregimen und System der Arbeitsbeziehung vorzunehmen. Aus der Unterscheidung resultiert zum einen die gewerkschaftliche Stellung im System der Arbeitsbeziehungen und zum anderen das jeweilige Wohlfahrtsregime. Daran schließt sich eine Länderstudie an, in der Deutschland, Großbritannien und Schweden zu den jeweiligen Systemkategorien zugeordnet werden und deren Eigenschaften näher verdeutlicht werden. Es folgt ein Ausblick auf die folgenden Analysen und die zentralen Hypothesen, die es zu untersuchen gilt.
3.1 Idealtypen
Wohlfahrtsregime nach Esping-Andersen
Die vergleichende sozialwissenschaftliche Forschung im Bereich der Wohlfahrtsstaaten hat drei Idealtypen identifiziert (Esping-Andersen, 1990; 1999). Esping-Andersen (1990) unterscheidet drei wohlfahrtstaatliche Regime bei deren Differenzierung die Stellung von Staat, Markt und Familie von großer Bedeutung ist.
Der erste Regime-Typ ist das residuale bzw. liberale Wohlfahrtsregime. Dieses Regime zeichnet sich durch bedarfsgeprüfte, steuerfinanzierte und universelle Unterstützungsleistungen aus. Innerhalb dieses Typs ist die Rolle des Marktes von großer Bedeutung. Die Ungleichheit der Löhne ist vergleichsweise groß.
Den zweiten Regime-Typ nennt der Autor einen sozialversicherungsbasierten bzw. korporatistischen (konservativen) Wohlfahrtstaat. Statusunterschiede bleiben bewusst erhalten, da die Sozialleistungen von den vorher geleisteten Beiträgen in die Sozialversicherung und damit von der Erwerbsarbeit abhängig sind. Die Familie steht im Zentrum der Wohlfahrtsproduktion, erst wenn die Selbsthilfefähigkeit der Familie erschöpft ist, greift der Staat unterstützend ein (Subsidiaritätsprinzip).
Esping-Andersen bezeichnet den dritten Regime-Typ als den universalistischen bzw. sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat, der sich durch Universalismus und starker De-Kommodifizierung auszeichnet. Gleichheit auf höchstem Niveau wird als Ziel vorgegeben und erteilt dem Dualismus zwischen Staat und Markt eine klare Absage. Der Staat sorgt in diesem Typ für ein universelles und steuerfinanziertes Versicherungssystem, dem alle Klassen- bzw. Schichtangehörigen an- gehören. Die Ansprüche auf Sozialleistungen beruhen dabei auf den allgemeinen Bürgerrechten, orientieren sich aber ebenfalls am vorherigen Einkommen.
Systeme der Arbeitsbeziehungen
Die Systeme der Arbeitsbeziehungen lassen sich auf unterschiedliche Weise klassifizieren. Mau & Verwiebe (2009) beziehen sich bei ihrer Einteilung auf Crouch (1993), der die europäischen System der Arbeitsbeziehungen in (1) ein korporatistisches, partnerschaftliches System; (2) ein konflikttorientiertes System und (3) ein pluralistisches System einteilt. Crouchs Idealtypen sind das Ergebnis historischer Konfigurationen. Mau & Verwiebe (2009) erweitern diese Klassifikation um das postsozialistische System einiger osteuropäischer Länder.
Daneben unterscheiden Traxler & Kittel (2000) fünf Idealtypen: (1) Systeme mit zentraler Koordination, die geringe Verpflichtungsfähigkeit besitzen, (2) Systeme mit zentrale Koordination, mit hoher Verpflichtungsfähigkeit, (3) Systeme, in denen Lohnführerschaft existiert, (4) Arbeitsbeziehungen, die sich durch Staatsinterventionen auszeichnen und (5) Systeme, in denen keine Koordinierung stattfindet. Die Idealtypen von Traxler & Kittel (2000) resultieren auf eine Untersuchung über den Zentralisierungsgrad der Tarifverhandlungen und ihrer makroökonomischen Leistung.
Nachfolgend bezieht sich diese Arbeit auf die Kategorisierung von Traxler & Kittel, da diese zwischen Korporatismus und Lohnführerschaft unterscheidet und vor allem bei der Bedeutung hinsichtlich des Einflusses auf den Wohlfahrtsstaat von Bedeutung ist. Organisationsgrad und Deckungsgrad von Tarifverträgen spielen eine weitere wichtige Bedeutung im System der Arbeitsbeziehungen. Allen voran der Organisationsgrad ist ein Zeichen für die gewerkschaftliche Macht und Durchsetzungsfähigkeit (Ebbinghaus & Kittel, 2006). Der Deckungsgrad von Tarifverträgen ist ein Indikator für die primäre Redistribution und für die gewerkschaftliche Macht (ebd.).
3.2 Länderstudien
Um die vorangegangene Theorie und die nachfolgenden Hypothesen empirisch zu untersuchen, werden drei Länder ausgewählt, die in den Kategorien System der Arbeitsbeziehungen, Einflussmöglichkeit in Sozialpolitik und Wohlfahrtsregime divergieren. Hierzu wurden Deutschland, Großbritannien und Schweden bestimmt. Vorweg ist zu bemerken, dass diese drei Länder keinesfalls zu hundert Prozent den jeweiligen Idealtypen entsprechen, sie kommen ihnen jedoch in vielen Bereichen sehr nahe und können somit den Idealtypen zugeordnet werden. Eine Darstellung der Länder und der Zuordnung zu den jeweiligen (Ideal-)Typen wird in Tabelle 3.1 anhand der Ausarbeitung von Ebbinghaus & Kittel (2006) illustriert.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 3.1: Zuordnung der Beispielländer zu den (Ideal-)Typen. Quelle: Ebbinghaus & Kittel, 2006; Eigene Darstellung.
- Aufgrund des Rückzugs des schwedischen Arbeitgeberdachverbands 1991 aus den tripartistischen Verhandlungen war der Staat gezwungen, anstelle der Verbände Personen in diese Institutionen zu delegieren. De facto änderte sich allerdings wenig, da nun Personen aus dem Kreis der Verbände rekrutiert werden (Traxler, 2003)
Deutschland
Deutschland zeichnet sich aus als ein sozialversicherungsbasierter bzw. konservativer Wohlfahrtstaat, in dem Lohnführerschaft bzw. Tarifautonomie besteht und die Gewerkschaften in den Politikbetrieb durch Politikformulierung und -implementierung Einfluss nehmen können. Der deutsche Wohlfahrtsstaat wird von Esping-Andersen (1999) zu Recht als sozialversicherungsbasiert bezeichnet, denn in diesem lohnarbeitszentrierten Wohlfahrtsstaat werden zwei Drittel des gesamten finanziellen Umfangs über Sozialversicherungsbeiträge bestritten (BMAS, 2009). Der deutsche Wohlfahrtsstaat ist in Sozialversicherungen (Renten-, Arbeitslosen-, Unfall-, Krankenund Pflegeversicherung) organisiert, deren Leistungen wiederum über Beiträge finanziert werden. Träger der Sozialversicherung sind öffentlich-rechtliche Körperschaften, deren Verwaltung paritätisch von Vertretern von Arbeitnehmern und Arbeitgebern besetzt werden (Döring & Koch, 2003). Hierbei nehmen Gewerkschaften eine wichtige Position ein, die bereits Konrad Adenauer (1949) in seiner ersten Regierungserklärung gefordert und definiert hat. In Deutschland handelt es sich um einen Bipartismus zwischen Arbeitgeber(verbänden) und Gewerkschaften. In Deutschland wurde nach dem zweiten Weltkrieg die Verantwortung für Lohnfindungsprozesse ebenfalls an Sozialpartner weitergegeben. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände verhandeln Tarifverträge ohne Beisein des Staates.
Die Einflussmöglichkeiten von Gewerkschaften sind in Deutschland von vielfältiger Natur. In Anknüpfung an Tabelle 2.1 nehmen deutsche Gewerkschaften alle Funktionen war. Neben der Lobbyarbeit war das für lange Zeit bestehende ”BündnisfürArbeit“wichtigumsozialpoli- tische Forderungen zu flankieren. Oben wurde schon angeführt, dass Gewerkschaften in der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen aktiv Politikimplementierung ausüben. Zudem wurden zusätzliche Sicherungssysteme von Seiten der Gewerkschaften eingerichtet, wie beispiels- weise das Versorgungswerk MetallRente (Gesamtmetall und IG Metall) oder zusätzliche Freizeitunfallversicherungen (u.a. Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft). Die legitimatorische Funktion wird logischerweise durch Grundsatzprogramme, durch Bundeskongresse oder einzelne Stellungsnahmen ausgeführt.
Deutsche Gewerkschaften, vor allem die im Deutschen Gewerkschaftsbund organisierten Gewerkschaften, zeichnen sich durch eine enge, historisch bedingte Beziehung zur Arbeiterpartei (SPD) aus, obwohl es faktisch keine alleinige Bindung an eine Partei gibt (Hassel, 2007). Trotz dieser engen Bindung zur SPD muss zumindest der Theorie nach Pluralität gewahrt werden (Lebek-Linke, 1998). Demnach pflegt die parlamentarische Verbindungsstelle Kontakt zu allen Parteien und versucht allgemeinpolitisch auf Regierungen, Ausschüsse und Abgeordnete Einfluss zu nehmen (ebd.). Nichtsdestotrotz ist es jedoch die SPD, die im 17. Deutschen Bundestag die meisten gewerkschaftlich organisierten Abgeordneten stellt.1 Durch diese Tatsache werden selbstverständlich indirekt gewerkschaftliche Positionierungen in die Bundespolitik getragen.
Großbritannien
Großbritannien hingegen steht für einen residualen bzw. liberalen Wohlfahrtsstaat, wo nur geringfügige bis keine Koordinierung innerhalb dem System der Arbeitsbeziehungen zu finden sind und wo Gewerkschaften keine Einbindung in den politischen Prozess erfahren. Obwohl die Kategorisierung des britischen Wohlfahrtsstaats als residual vor allem aufgrund seines Gesundheitssystems weithin umstritten ist, stützt sich diese Arbeit auf die Typisierung von Esping-Andersen (1990), da das Blickfeld auf die Absicherung bei Arbeitslosigkeit, Invalidität und Armut gerichtet ist. Die sozialen Sicherungssysteme in Großbritannien sind steuerfinanziert. Innerhalb des Systems der Arbeitsbeziehungen fanden unter der Thatcher-Regierung Ende der 1970er Jahre und in den 1980er Jahren tiefgreifende Veränderungen hinsichtlich der tarifpolitischen Koordinierung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden statt (Traxler, 2003; Lebek-Linke, 1998). Von tarifpolitischer Bedeutung sind die berufsorientierten britischen Gewerkschaften nur noch geringfügig durch sogenannte collective agreements (Lebek-Linke, 1998). Dieser Bedeutungsverlust wird vor allem im Rückgang des Organisationsgrades und des Deckungsgrades von Tarifverträgen (Abbildung 3.1) deutlich. Anstelle der Eigenschaft eines Verhandlungspartners traten andere Formen der Kommunikation, vor allem die gewerkschaftliche Lobby-Arbeit ist an dieser Stelle zu erwähnen (ebd.).
Hinsichtlich der sozialpolitischen Einflussnahme britischer Gewerkschaften ist die appellative und die legitimatorische Funktion an erster Stelle zu nennen. In der konservativen Regierungszeit (1979-1997) wurden alle korporatistischen Institutionen und damit die kooperative Funktion der Gewerkschaften aufgehoben (Crouch, 1995; zit. nach: Traxler, 2003). Soweit bekannt sind in Großbritannien keine größeren Zusatzsysteme der sozialen Sicherung von Gewerkschaften eingerichtet worden. Sozialpolitische Politikformulierung und -implementierung wird von der britischen Regierung vorgenommen (Lebek-Linke, 1998). Britische Gewerkschaften sind demnach gezwungen, zu versuchen allein über die appellative und legitimatorische Funktion Einfluss auf die (Sozial-)Politik auszuüben.
”DiebritischenGewerkschaftennehmen[...]zunehmenddavonAbstand,sichalspolitisch-ideologisch orientierte Körperschaft zu verstehen“ (Lebek-Linke,[1998] ). Sie verstehen ihre zentralen Aufga- ben in der Tarifpolitik und dem Angebot von Serviceleistungen für ihre Mitglieder. In Großbritannien wurden Gewerkschaften und Labour Party als zwei Seiten einer Bewegung dargestellt: Gewerkschaften übernahmen die wirtschaftliche Interessenvertretung und die Labour Party die politische Interessenvertretung der lohnabhängig Beschäftigten (ebd.).2
Schweden
Schweden gilt als der universalistische bzw. sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat, in dessen System zumindest bis in die 1990er Jahren eine institutionalisierte, tripartistische, zentrale Koordination stattfand. Gewerkschaften sind in den Prozess der Politikformulierung eingebunden. Der schwedische Wohlfahrtsstaat ist ebenfalls wie der britische steuerfinanziert, bietet jedoch meist generöse Leistungen verbunden an die allgemeinen Bürgerrechte (Esping-Andersen 1990). In Schweden findet das Gent-System Anwendung, d.h. die Arbeitslosenversicherung wird ausschließlich durch die Gewerkschaften verwaltet. Lediglich Gewerkschaftsmitglieder besitzen Versicherungsschutz bei Arbeitslosigkeit und erhalten generöse Leistungen. Das schwedische System der Arbeitsbeziehungen besticht durch die zentrale Koordination unter Beteiligung der Arbeitgeber, der Gewerkschaften und des Staats. Zwar gab es 1991 mit dem Rückzug des Arbeitgeberverbandes eine geringfügige Veränderung in der Koordinierung, was jedoch keine Änderung der Arbeitsweise des Systems zur Folge hatte (Traxler, 2003). Korporatistische Institutionen unter Beteiligung von Arbeitgebern und Gewerkschaften haben in Schweden große Tradition und wurden bereits vor der Demokratisierung des Wahlrechts eingeführt (Kaufmann, 2003).
Aufgrund der engen Verbindung zwischen den großen Gewerkschaftsdachverbänden (Landsorganisationen í Sverige, Tjänstemännens Centralorganisation, Sveriges Akademikers Centralorganisation) und der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP) ist es der Gewerkschaftsbewegung möglich Einfluss in den Politikbetrieb auszuüben. Aufgrund der gemeinsamen (sozial)politischen Interessen der schwedischen Gewerkschaften und der SAP und deren lange Regierungsbeteiligung (1933-1976; 1982-1991; 1994-2006) konnten sich die Gewerkschaften zunehmend auf die Tarif- und Betriebspolitik sowie auf die Politikformulierung konzentrieren. Ferner sind die Gewerkschaften Schwedens aktive Akteure innerhalb des Wohlfahrtsstaats als Träger
[...]
1 Insgesamt sind im XVII. Deutschen Bundestag 29,6 % in Gewerkschaften organisiert, davon 89,7 % in DGBGewerkschaften; von den CDU/CSU-Abgeordneten 9,6 %, davon 34,8 % in DGB-Gewerkschaften, von den SPDAbgeordneten 76,7 %, davon 97,3 % in DGB-Gewerkschaften, von den FDP-Abgeordneten 1,1 %, davon keiner in DGB-Gewerkschaften, von den B90/Die Grünen-Abgeordneten 11,8 %, davon alle in DGB-Gewerkschaften, von den LINKEN-Abgeordneten 52,6 %, davon alle in DGB-Gewerkschaften (Deutscher Bundestag, Stand 31.3.2010).
2 Nach Auskunft des House of Commons Information Office existieren keine vergleichbaren Daten hinsichtlich der gewerkschaftlichen Mitgliedschaften der Mitglieder des britischen Parlaments.