Leseprobe
I. Ausgangslage und Problembeschreibung Szenario
In den letzten Jahrzehnten kam es in der Schweiz – wie auch in den anderen west-lichen Industrienationen (Wu/Green 2000, Wiesner/Bittner 2005, Wyss 2011) – zu einem deutlichen Anstieg der Zahl chronischer Krankheiten. Die Betroffenen leiden v.a. an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, muskuloskelettalen Erkrankungen, Depressionen, chronischen Atemwegserkrankungen, Diabetes mellitus und bös-artigen Tumoren (BFS 2007-1). Die meisten dieser Erkrankungen kommen mit zunehmendem Alter häufiger vor (von Renteln-Kruse 2001). Aufgrund der demo-grafischen Entwicklung werden solche Erkrankungen in den nächsten Jahren weiter zunehmen (BFS 2007-2). Derzeit leiden 27,3% der Bevölkerung in der Schweiz an einer dauerhaften Krankheit oder einem dauerhaften gesundheitlichen Problem. Bei den über 75-Jährigen sind es 48% (BFS 2007-3). Viele der Betroffenen sind multimorbide, d.h. bei ihnen wurden gleichzeitig mehrere chroni-sche Erkrankungen diagnostiziert (van den Akker et al. 1998). Dabei gibt es eine starke Korrelation zwischen Alter, Geschlecht, Multimorbidität und der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Nach der Gesundheitsberichterstat-tung des Bundes in Deutschland (Böhm et al. 2009) ist die oftmals mit dem Alter einhergehende Zunahme chronischer Erkrankungen sowohl auf die sukzessive Summierung von Risiken über den Lebensverlauf als auch auf altersphysiologische Veränderungen zurückzuführen. Obwohl Multimorbidität mit dem Alter zunimmt (Laux et al. 2008), ist sie auch ein häufiges Phänomen in allen anderen Altersgruppen (van den Akker et al. 1998).
Chronische Krankheiten weisen nach Bandura et al. (2006) drei zentrale Charakte-ristika auf: (1) Sie sind gekennzeichnet durch ein kontinuierliches oder periodi-sches Auftreten von Krankheitssymptomen, die durch irreversible pathogene Prozesse verursacht werden. (2) Sie gehen mit lang andauerndem, hohem Betreu-ungsbedarf einher. Die medizinischen Therapieeffekte im Sinne einer Kuration sind hierbei häufig begrenzt. Aus therapeutischer Sicht gilt es daher v.a. darum, Folgeprobleme (wie z.B. funktionale Einschränkungen) zu verhindern. (3) Im Krankheitsverlauf kommt es zu erheblichen Veränderungen in nahezu alle Lebens-bereiche des Erkrankten. Dies erfordert psychosoziale Adaptionsleistungen von den Betroffenen.
Aus der individuellen Sicht der PatientInnen sind es meist die nachhaltigen psy-chosozialen Veränderungen und Einschränkungen der individuellen Lebensfüh-rung (z.B. in Form von Selbstversorgungsdefiziten), die für sie im Vordergrund stehen. In vielen Fällen kommt es im Verlauf der Erkrankung zu einem dauer-haften Pflege- und Hilfebedarf. Dies alles erfordert von den PatientInnen erheb-liche Anpassungs- und Bewältigungsleistungen (Schaeffer/Moers 2000).
II. Fragestellungen und Lösungsansätze
Aus Sicht der PatientInnen sind derzeit noch eine ganze Reihe von Problemen im Hinblick auf die Versorgung und Lebensqualität multimorbider Menschen ungelöst (vgl. BMBF 2006; Hodek et al. 2010):
- Besonders wichtig für die Betroffenen sind das stark verbesserungsbe-dürftige Management und die derzeit oftmals noch ungenügende Behand-lung der Multimorbidität. Multimorbide PatientInnen müssen zur Behand-lung, Betreuung und Pflege die Hilfe verschiedener Fachpersonen in An-spruch nehmen. Oftmals fehlt es jedoch an der nötigen Koordination dieser Hilfsleistungen
- Diese fehlende Koordination führt z.B. bei der Therapie der nebeneinander bestehenden Erkrankungen oft zu einer Multimedikation, d.h. zu einer gleich-zeitigen Gabe mehrerer Medikamenten gegen verschiedene Erkrankungen. Dadurch besteht die Gefahr von unkalkulierbaren Neben- und Wechselwirkungen. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang nicht nur eine Priorisierung der therapeutischen und pflegerischen Maßnahmen im Einzelfall, sondern auch eine Intensivierung der Forschung zur Medika-menten-Versorgung älterer Menschen, insbesondere auch zur Multimedi-kation.
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