Wie erzeugt E.T.A. Hoffmann in seinem Nachtstück Der Sandmann Spannung?
E.T.A. Hoffmann veröffentlichte seine Erzählung Der Sandmann erstmals 1817 im Zyklus mit sieben weiteren Erzählungen unter dem Titel Nachtstücke. Schon dieser – aus der Malerei entlehnte – Titel verrät, dass sich die Handlung des Sandmanns um dunkle Szenen und schauerliche Ereignisse positioniert. Somit liegt es nahe, genauer zu erörtern wie E.T.A. Hoffmann in seiner Erzählung mit dem Unheimlichen umgeht und konkret Spannung erzeugt.
Wie erzeugt E.T.A. Hoffmann in seinem Nachtstück Der Sandmann Spannung?
E.T.A. Hoffmann veröffentlichte seine Erzählung Der Sandmann erstmals 1817 im Zyklus mit sieben weiteren Erzählungen unter dem Titel Nachtstücke.1 Schon dieser - aus der Malerei entlehnte - Titel verrät, dass sich die Handlung des Sandmanns um dunkle Szenen und schauerliche Ereignisse positioniert. Somit liegt es nahe, genauer zu erörtern wie E.T.A. Hoffmann in seiner Erzählung mit dem Unheimlichen umgeht und konkret Spannung erzeugt. Der Sandmann beginnt mit drei Briefen, die die darauf folgende Handlung in einen Kontext einbetten. Sie fungieren als Epilog, der die gesamte Erzählung grob umreißt. Der Protagonist Nathanael berichtet in einem Brief an seinen Freund Lothar von einem furchtbaren Erlebnis, durch das sein Leben aus den Fugen geraten ist. Seine Berichterstattung ist zunächst sehr gehemmt, bis er Lothar schließlich sachlich erklärt:
Kurz und gut, das Entsetzliche, was mir geschah, dessen tödlichen Eindruck zu vermeiden ich mich vergebens bemühe, besteht in nichts anderem, als dass vor einigen Tagen, nämlich am 30. Oktober mittags um 12 Uhr, ein Wetterglashändler in meine Stube trat und mir seine Ware anbot. Ich kaufte nichts und drohte, ihn die Treppe herabzuwerfen, worauf er aber von selbst fortging. (SM, 3)
Die zuvor durch Rücksicht und Vorbehalt aufgebaute Spannung, wird mit dieser einfachen Erklärung zunächst relativiert. Nathanael ist sich dieser Wirkung aber durchaus bewusst und beginnt die Vorgeschichte zu erläutern, die ihn zu solch einer starken Reaktion trieb. Er schildert, wie er in seiner Kindheit mit dem Ammenmärchen des Sandmanns konfrontiert wurde, der nachts Sand in die Augen von Kindern streut, die dann Äblutig zum Kopf herausspringen“2. Darüber hinaus beobachtete er heimlich die alchimistischen Experimente seines Vaters und dem Advokaten Coppelius, der Nathanael die Augen herausreißen will als er ihn entdeckt. Diese Kindheitserlebnisse prägen Nathanaels weiteres Leben und seine psychische Entwicklung einschlägig. Angst und Spannung wird also nicht durch das Ereignis um den Wetterglashändler selbst erzeugt, sondern durch Nathanaels individuelles Verhältnis dazu.3 Dadurch, dass das Erlebte aus der Perspektive des Kindes erzählt wird, wird die Distanz des Lesers ab- und Spannung aufgebaut. Die Kindheitsschilderungen lassen den Leser nicht mehr als die Äkindlichen Vermutungen und Erklärungsversuche“4 erfahren, wodurch Nathanaels Zusammentreffen mit dem Wetterglashändler für den Leser selbst als angsteinflößend erscheint. Gleichzeitig wird der Leser durch die undistanzierte Erzählweise für die nachfolgende Handlung sensibilisiert. In Nathanaels Briefen wird er darauf vorbereitet, auf die kleinen Dinge zu achten und sich nicht von zunächst eindeutig erscheinenden Ereignissen täuschen zu lassen. Der Leser wird dazu aufgefordert ständig mit einer unerwarteten Wendung der Dinge zu rechnen und in allem etwas Unheimliches zu vermuten. Dagegen steht Claras Brief für die nüchterne Betrachtung der Dinge. Sie versucht Nathanael zu verdeutlichen, dass sich seine Angst vor allem in seinem Inneren abspielte, Ädie wahre wirkliche Außenwelt aber daran wohl wenig teilhatte“ (SM, 13). Sie spricht ihn direkt auf seine Psyche an, die die determinierenden dunklen Mächte selbst produziert. Das Kontrastpaar Spannungserzeugung - Spannungsrelativierung wird durch die Briefe hervorgehoben und in der darauf folgenden Handlung mithilfe des Erzählers fortgeführt.
Im Anschluss an die Briefe erfolgt ein erzähltechnischer Einschnitt. Nachdem sich der Leser bisher mit den Figuren auseinandersetzen musste, wird er jetzt direkt vom Erzähler angesprochen (vgl. SM, 18). Dieser auktoriale Erzähler nimmt von nun an eine doppelte Rolle in der Erzählung ein. Zum einem informiert er den Leser über die Figuren und zieht ihn in den ÄErzählsog“5 ein. Zum anderen fungiert er als ÄSpielleiter“6, der die Lesart lenkt und die aufgebaute Spannung immer wieder relativiert. Er verzögert den Fortlauf der Handlung durch Einschübe und ironische Bemerkungen. Trotzdem behält er viele Informationen, die er als auktorialer Erzähler hätte für sich, sodass der Leser auf den Wissenshorizont Nathanaels beschränkt bleibt, wodurch sich Nathanaels Angst auch weiterhin auf den Leser überträgt.
Der Erzähler bagatellisiert die durch die Briefe aufgebaute Spannung dadurch, dass er nach der Leseransprache zunächst über eine geeignete Erzähltechnik nachdenkt (SM, 17ff.). Darüber hinaus geht er noch einmal auf die Person Claras ein, bevor er mit der Erzählung fortfährt (SM, 20ff.). Nach dieser Äironischen Distanzierung“7 setzt die Handlung fort und baut von neuem Spannung auf. Nathanael entfremdet sich von Clara und verliebt sich in Olimpia, die künstlich erschaffene Tochter von Professor Spalanzani. Nathanaels Liebe zu Olimpia spiegelt bereits seine Entfremdung von der Realität wider. Obwohl ihr einziges Wort ‚Ach’ ist, erkennt er darin Äechte Hieroglyphe der innern Welt voll Liebe und hoher Erkenntnis des geistigen Lebens in der Anschauung des ewigen Jenseits“ (SM, 35). Olimpias Liebe und geistige Vollkommenheit spielt sich also nur in Nathanaels Innerem ab.
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1 Zum Nachtstücke-Zyklus zählen außerdem die Erzählungen Ignaz Denner, Die Jesuiterkirche in G., Das Sanctus, Das öde Haus, Das Majorat, Das Gelübde und Das steinerne Herz. Auf diese wird im Folgenden nicht näher eingegangen.
2 E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. Stuttgart 2005 1817(Ausgabe: Reclam Universalbibliothek Nr. 230), S. 5 (diese Ausgabe wird im Folgenden zitiert unter Verwendung der Sigle SM, Seitenangabe).
3 Vgl. Annette Krech: Schauererlebnis und Sinngewinn. Wirkungen des Unheimlichen in fünf Meisternovellen des 19. Jahrhunderts. Phil. Diss. Frankfurt am Main 1992 (Kasseler Arbeiten zu Sprache und Literatur, Bd. 18), S. 40.
4 Ebd., S. 42.
5 Sabine Hillebrand: Strategie der Verwirrung. Zur Erzählkunst von E.T.A. Hoffmann, Thomas Bernhard und Giorgio Manganelli. Phil. Diss. Mainz 1997 (Studien zur Deutschen und Europäischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 39), S. 34.
6 Ebd.
7 Ebd., S. 27.
- Arbeit zitieren
- B.A. Alexandra Krüger (Autor:in), 2010, Wie erzeugt E.T.A. Hoffmann in seinem Nachtstück "Der Sandmann" Spannung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/201139