In England - dem Pionierland der Industialisierung - gab es bis zur Jahrhundertwende keine unabhängige politische Partei der Arbeiterklasse. Dieser erstaunliche Befund hat in der englischen Sozialgeschichtsschreibung zu einer Kontroverse zwischen neomarxistischen Klassikern und kulturgeschichtlichen Revisionisten geführt. Diese Studie zeichnet die Positionen beider Seiten nach und versucht, ihre Stärken und Schwächen bei der Analyse der politischen Orientierung der Arbeiter im Viktorianischen Zeitalter aufzuzeigen.
I. Einleitung
„Having (...) opportunity to watch the middle- classes, your opponents,
I soon come to the conclusion that you are right, perfectly right in expecting
no support whatever from them. Their interest is diametrically opposed to
yours, though they always will try to maintain the contrary and to make you
believe in their most hearty sympathy with your fates. Their doings give them
the lie.”[1]
Friedrich Engels, “To the Working Classes of Great Britain” 1845.
War sich Friedrich Engels 1845 noch sicher, dass einer eigenständigen und klassenbewussten politischen Organisation der englischen Arbeiter die Zukunft gehöre, bezeichnete er nur 13 Jahre später die englische Arbeiterschaft als stark „verbürgerlicht“.[2]
Die fehlende politische Eigenständigkeit der Arbeiterschaft hat unterschiedliche theoretische und methodische Ansätze in der Geschichtswissenschaft veranlasst, die Homogenität der englischen Arbeiter als Klasse sowohl in ökonomischer als auch in kultureller Hinsicht zu hinterfragen. Um dies nachzuvollziehen, soll im ersten Schritt (II.) ein kurzer Überblick sowohl über einige historiographische Ansätze gegeben werden, die in der englischen Arbeiterschaft zur viktorianischen Zeit eine relativ homogene Klassenstruktur erkannt haben, als auch über solche, die eher auf kulturelle, religiöse, ökonomische und andere Trennungslinien innerhalb der Arbeiterschaft hingewiesen haben. Im zweiten Schritt (III.) sollen die Erklärungen, die diese geschichtswissenschaftlichen Ansätze für den „Klassen- konsens“[3], d.h. für die relative Stabilität des politischen Systems und für die weitgehend reformistische politische Ausrichtung der Arbeiter in der Mitte der viktorianischen Zeit (1850- 1880), geben, einander gegenübergestellt werden. Dabei lassen sich im wesentlichen zwei Konzepte unterscheiden, die, bei aller methodischer und inhaltlicher Unterschiedlichkeit, gemeinsam haben, dass sie im Ausschluss der Arbeiter vom Wahlrecht bis 1867 und in finanziellen und organisatorischen Unzulänglichkeiten der Arbeiterbewegung nicht mehr die Hauptgründe für das Fehlen einer eigenständigen politischen Organisation der Arbeiterschaft in der Mitte der viktorianischen Zeit erblicken. Ein Erklärungsansatz geht vom Primat ökonomischer Faktoren aus. Insbesondere die Privilegierung eines Teils der Arbeiterschaft (Arbeiteraristokratie) habe zu einer Spaltung in der Arbeiterklasse geführt und die Wende zum Reformismus ermöglicht. Ein anderer stellt kulturelle Werthaltungen in den Mittelpunkt der Untersuchung, die entweder von Arbeitern und Mittelschichten geteilt wurden, oder ursprünglich Werte der Mittelschichten waren, an die sich die Arbeiter assimiliert haben.
Im dritten Schritt (IV.) will diese Arbeit, vor allem die kulturgeschichtlichen Interpretations- versuche nachvollziehend, versuchen, insbesondere (aber nicht ausschließlich) in Anlehnung an die Studien von Patrick Joyce und Neville Kirk über die reformistische Ausrichtung der Arbeiter in Lancashire, Gründe für die Nähe der Arbeiter zu den etablierten Parteien (Liberal Party, Conservative Party) zu finden.[4]
II. Die viktorianische Gesellschaft als Klassengesellschaft
In seiner Analyse der „Lage der arbeitenden Klasse in England“ von 1845 diagnostizierte Friedrich Engels eine extreme Zuspitzung der Klassengegensätze. Die soziale Revolution sei mittlerweile unvermeidlich geworden, weder die Abschaffung der Korngesetze, noch ein Eingehen auf die Forderungen der Chartistenbewegung könnten die politische Lage auf Dauer genau so wenig zementieren, wie die wirtschaftliche Situation langfristig stabilisieren. Schon für die nächste zu erwartende ökonomische Krise in den 1850er Jahren prophezeite Engels revolutionäre Unruhen, in denen der sich zuspitzende Klassenkonflikt zwischen Arm und Reich – zwischen Proletariat und Bourgeoisie – sich im bewaffneten Kampf der Arbeiter entladen werde.
„Der Krieg der Armen gegen die Reichen, der jetzt schon im einzelnen und indirekt geführt wird, wird auch im allgemeinen, im ganzen und direkt in England geführt werden. Es ist zu spät zur friedlichen Lösung. Die Klassen sondern sich schroffer und schroffer, der Geist des Widerstandes durchdringt die Arbeiter mehr und mehr, die Erbitterung steigt, die einzelnen Guerillascharmützel konzentrieren sich zu bedeutenden Gefechten und Demonstrationen, und ein kleiner Anstoß wird bald hinreichen, um die Lawine in Bewegung zu setzen.“[5]
Nicht nur seine Analyse der Arbeits- und Lebensumstände der Arbeiter haben Engels zu diesem Fazit bewogen, auch die, im Vergleich zu anderen Nationen, erhebliche Stärke des englischen Arbeiterradikalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lieferte einen überzeugenden Indikator für die Instabilität der Staats- und Wirtschaftsordnung in der „Werkstatt der Welt“ („workshop of the world“). Der Arbeiterradikalismus war zudem durchaus nicht traditionslos. Er konnte sich auf „volksradikale Traditionen“ stützen, die durch die Rezeption von Ideen der Französischen Revolution und durch die „katastrophische“ Erfahrung der Industriellen Revolution neue Impulse erhielten. „Volksunruhen“ von Spa Fields 1816 oder Paterloo 1819 und die Ludditen- Unruhen1811/12 und 1816 hatten zwar bei weitem keine revolutionären Ausmaße, geben aber die „rebellische“ Grundstimmung großer Teile der Arbeiterschaft (insb. Handwerker), wie sie auch in der Chartistenbewegung zu spüren war, zutreffend wieder.[6]
Auch die Geschichtswissenschaft hat das starke Aufleben eines plebejischen Radikalismus im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert als einen wichtigen Ausgangspunkt für die Formierung einer englischen Arbeiterklasse aufgegriffen. Dabei lassen sich grob betrachtet drei unter- schiedliche Ansätze in der Historiographie ausmachen. Der erste betrachtet den Klassen- begriff primär unter ökonomischen Gesichtspunkten und geht davon aus, dass sich die Zuge- hörigkeit zu einer sozialen Klasse durch Faktoren wie Einkommen, Art der Beschäftigung, Stellung zu den Produktionsmitteln, Wohnort oder Heiratsverhalten bestimmen lässt. Historiker wie Foster und Hobsbawm, die diesem Ansatz zuzurechnen sind, haben darauf hingewiesen, dass die Formierung der englischen Arbeiterklasse ein Prozess war, der im frühen 19. Jahrhundert noch keinen Abschluss gefunden hat. Erst mit der Durchsetzung des Fabriksystems und der Konzentration der Arbeiter auf die industrielle Produktion habe sich aus der Masse der vorindustriellen Handwerker, kleinen Meistern, Landarbeitern etc. ein in sozialstruktureller Hinsicht relativ homogenes Proletariat herausgebildet.[7]
Demgegenüber haben sich Historiker um E.P. Thompson vom ökonomisch bestimmten marxistischen Klassenbegriff ein Stück weit gelöst und stärkeres Gewicht auf die Unter- suchung von Klassenbewusstsein und klassenspezifischen Verhaltensweisen gelegt. Thompson versteht unter Klassenbewusstsein das „Bewusstsein einer Interessenidentität all der verschiedenen Gruppen der arbeitenden Bevölkerung untereinander und gegenüber den Interessen anderer Klassen“ und stellt fest, dass es bereits 1832, trotz aller Differenzen in Herkunft, Religion, Einkommen etc., festgefügte und selbstbewusste Institutionen der Arbeiterklasse gab, wie „Gewerkschaften, Unterstützungskassen, religiöse und Bildungsbe- wegungen, politische Organisationen, Zeitschriften, eigene intellektuelle Traditionen, Gemeinschaftsformen und eine spezifische Gefühlsstruktur der Arbeiterklasse“, die das Klassenbewusstsein der Arbeiter prägten.[8] Nicht ausschließlich die Produktionsverhältnisse in der Zeit der industriellen Revolution und die als „katastrophisch“ empfundene Veränderung der Lebens- und Arbeitswelt hätten zur Formierung der englischen Arbeiterklasse geführt, sondern auch vorindustrielle Traditionslinien des Arbeiterradikalismus, zumal bis in die 1850er Jahre die Arbeiter in maschinalisierten Fabriken noch einen relativ kleinen Anteil an der Gesamtheit der Arbeiter bildeten. Der Zensus von 1851 hatte ergeben, dass 1,75 Millionen Arbeiter in der maschinalisierten, 5,5 Millionen aber in der nicht- maschinalisierten Industrie tätig waren.[9] Ohne den Unterschichtenprotest und die Volkstraditionen des 18. Jahrhunderts, ihre „moralische Ökonomie“ und die Vorstellung von den Rechten des „freien Engländers“, sowie den plebejischen Radikalismus der englischen Jakobiner, Ludditen, Freidenker und Dissenter in der Zeit der Französischen Revolution und des Krieges gegen Frankreich ein- zubeziehen, sei die Entstehung eines politischen Klassenbewusstseins und dessen Aus- wirkungen in der frühen viktorianischen Zeit, vor allem in Form der Chartistenbewegung, kaum erklärbar. Daher fand für Thompson die Ausbildung eines Klassenbewusstseins der Arbeiter und damit die Formierung der englischen Arbeiterklasse selbst zwischen 1780 und 1832 statt.
„In den Jahren zwischen 1780 und 1832 bildete die arbeitende Bevölkerung Englands zum größten Teil ein Empfinden für die Identität von Interessen aus, und zwar untereinander und gegen ihre Herrscher und Lohnherren. Diese herrschende Klasse war ihrerseits vielfach gespalten und gewann in der Tat nur deshalb in denselben Jahren an Einheitlichkeit, weil bestimmte fundamentale Gegensätze angesichts einer aufrührerischen Arbeiterklasse beseitigt oder relativ unbedeutend wurden. Im Jahre 1832 war daher die Präsenz der Arbeiterklasse der wichtigste Faktor im politischen Leben.“[10]
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass auch nicht- marxistische Historiker, wie beispielsweise Herold Perkin, den Klassenbegriff zur Analyse der viktorianischen Gesellschaft verwendet haben. Perkin hat, ebenso wie E.P. Thompson, eine frühe Formierung der englischen Klassengesellschaft zwischen 1789 und 1833 angenommen, die sich seiner Meinung nach aber nicht auf einen Klassenantagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat reduzieren lässt. Er hat zwischen vier Klassen unterschieden, deren Hauptunterscheidungsmerkmal die Quelle ihres Einkommens sei: der Adel, die Unternehmerklasse, die Mittelklasse und die Arbeiterklasse. Viele Kategorien, die die Krisenhaftigkeit und Instabilität der Klassenge- sellschaft betreffen und vom marxistischen Klassenbegriff impliziert werden, wie Klassen- kampf oder revolutionäres Klassenbewusstsein, finden in diesem Konzept keinen Platz. Perkin zufolge sei die englische Klassengesellschaft, nach der unruhigen Phase der frühen Industrialisierung, in der viktorianischen Zeit stabil gewesen („viable class society“).[11]
Eine dritte Gruppe von Historikern hat eher auf die trennenden als auf die gemeinsamen Erfahrungen der Arbeiterschaft hingewiesen und die Existenz eines einheitlichen Klassenbe- wusstseins unter den Arbeitern in Frage gestellt. Angesichts der großen Unterschiede bezüglich Herkunft, Religion, Einkommen oder Art der Tätigkeit sollte man statt von einer homogenen Arbeiterklasse, von arbeitenden Klassen („working classes“) sprechen. Allenfalls im späten 19. Jahrhundert lieferten die Öffnung der Gewerkschaftsbewegung für ungelernte Arbeiter („new unionism“) und ihre Ausdehnung auf die nationale Ebene, sowie die Be- mühungen um die Gründung einer relativ eigenständigen Arbeiterpartei ausreichende An- zeichen für ein Klassenbewusstsein, die den Gebrauch des Begriffs „Arbeiterklasse“ rechtfertigen.[12]
Aber nicht nur die Heterogenität der Arbeiterschaft ließ begründete Zweifel am Klassen- bewusstsein der Arbeiter aufkommen, sondern auch eine Untersuchung der Natur des plebejischen Radikalismus. Dieser, so der Soziologe Craig Calhoun, sei nicht wie Thompson diagnostiziert habe, gleichzeitig Wurzel und Indikator eines proletarischen Klassenbewusst- seins, sondern habe sich auch in der Industrialisierungszeit durch einen konservativen Charakter ausgezeichnet. Der Radikalismus vor 1830 sei in traditionellen Gemeinschaften basierend auf einem Handwerk präsent und lokal gebunden gewesen. Seine Ausrichtung sei, trotz seiner Bereitschaft zu Aufstand und Gewaltanwendung, eher defensiv gewesen: Handwerker und kleine Gewerbetreibende hätten ihren sozialen Status und ihre relative Unabhängigkeit im Arbeitsprozess verteidigen wollen, um einen sozialen Abstieg in die Fabrikarbeiterschaft zu verhindern. Dies und nicht revolutionärer Eifer sei die Motivation der maschinenstürmerischen Aktionen der Ludditen gewesen. Fabrikarbeiter hätten diese Statusunsicherheit nicht verspürt und seien eher reformistisch als revolutionär ausgerichtet gewesen. In dieser Hinsicht habe die Ausbreitung des Fabriksystems – entgegen der Marxschen Prognose - nicht zur Förderung von revolutionärem und radikalem Gedankengut in der Arbeiterschaft beigetragen, sondern nach dem Scheitern der Chartistenbewegung Ende der 1840er Jahre zur Mäßigung und zur Annäherung politischer und gewerkschaftlicher Aktivisten der Arbeiterschaft an die Theorien und Ziele des reformorientierten Liberalismus geführt.[13] Zu einer ähnlichen Einschätzung des Radikalismus der Arbeiter im ersten Drittel der viktorianischen Ära kommt Musson. Er hat versucht, nachzuweisen, dass der Grossteil der Aktivitäten des Arbeiterradikalismus auf die lokale Ebene und auf ein Gewerbe beschränkt blieben und sich mit konkreten ökonomischen Forderungen, wie Anhebung der Löhne und Absenkung der Arbeitszeiten, beschäftigten, anstatt revolutionäre politische Forderungen auf- zustellen. Die Gewerkschaften und politischen Zirkel der Arbeiter seien keine Zentren zur Einübung revolutionärer Praktiken gewesen, wie es einige Marxisten unterstellt haben, sondern sie hätten in der Mitte der viktorianischen Ära vielfach Werte der Mittelschichten, wie Mäßigung („temperance“), Selbsthilfe („self help“) und Selbstrespekt („self respect“) aufgenommen und sich so von der Masse der ungelernten und unorganisierten Arbeiter abgesetzt.[14] Die These, dass Radikalismus, Gewerkschaften und Chartistenbewegung in ihren politischen Vorstellungen zu gemäßigt waren, um als Brutstätten revolutionären Klassenbe- wusstseins interpretiert zu werden, stützen auch biographische Studien zu Führungsper- sönlichkeiten des Arbeiterradikalismus wie William Cobett (1763- 1835) und Feargus O´Connor (1794- 1855). Ihre Gegnerschaft zum Fabriksystem sei eher auf romantisch- vorindustriellen Vorstellungen von einer Gesellschaft unabhängiger kleiner Handwerker und Erzeuger („cottage economy“) basiert gewesen, als auf einer fundierten Kritik der in- dustriekapitalistischen Produktionsverhältnisse. Daher läge ihr Beitrag zur englischen Arbeiterbewegung weniger in ihrer Ideologie, sondern in der Ermöglichung der Organisation der Arbeiterinteressen auf nationaler Ebene durch ihre überregionale Popularität.[15]
Zusammenfassend kann man sagen, dass durch jene Historiker, die vor allem auf die Differenzen und Konflikte innerhalb der Arbeiterschaft und die gleichzeitige Überschneidung mit bürgerlichen Werten entlang kultureller, religiöser und ökonomischer Orientierungen hingewiesen haben, die Bedeutung des proletarischen Klassenbewusstseins für politische Entwicklungen stark relativiert wurde. Seit den 1980er Jahren hat man in sozialge- schichtlichen Studien über die Arbeiterschaft in der viktorianischen Zeit den Focus von vertikaler sozialer Ungleichheit (Untersuchung der sozialen Schichtung entlang des ökonomisch bestimmten Klassenbegriffs) verstärkt auf horizontale soziale Ungleichheit (ethnische Herkunft, Geschlechterverhältnis, Religion etc.) verschoben und sich vor allem mit der Alltagskultur der Arbeiter beschäftigt. Diese sei, so die Mehrzahl der Forschungser- gebnisse, weit weniger von Klassenbewusstsein und Klassengegensätzen zum Bürgertum geprägt gewesen, als es marxistische Historiker suggeriert hätten.[16]
„The interpretative drift (…) is against the thesis that the British working class progressed necessarily towards both greater class consciousness and greater militancy as a result of capitalist industrialization during the first half of the nineteenth century.”[17]
III. Vom Klassenkonflikt zum „Klassenkonsens“ 1850- 1880
Der Niedergang der Chartistenbewegung gegen Ende der 1840er Jahre, als Wendepunkt vom Klassenkonflikt zum „Klassenkonsens“, wird von Historikern, je nach Interpretation des frühen Arbeiterradikalismus, als bedeutsame oder weniger bedeutsame Zäsur eingestuft. Aus der Perspektive von Mussons Lesart des Arbeiterradikalismus und der Gewerkschaftsbe- wegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die moderate und reformistische Traditionen hervorhebt, leiteten Misserfolg und Zerfall der Chartistenbewegungen keine einschneidende Wende in der politischen Orientierung der Arbeiter ein, weil revolutionäre Strömungen zu keinem Zeitpunkt vor 1850 dominierend waren.[18] Demgegenüber diagnostizieren vor allem jene Historiker, die die Formierung der englischen Arbeiterklasse und die Ausbildung eines proletarischen Klassenbewusstseins auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts terminieren, eine Kluft zwischen dem klassenbewussten Radikalismus vor den 1850er Jahren und der reformistischen Arbeiterbewegung danach, die eher an sozialem Aufstieg, als an einer fundamentalen Kritik der Eigentumsverhältnisse interessiert war. Appellierten die Chartisten bis in die 1860er Jahre noch an die Gewerkschaften, durch das Eintreten für die Erweiterung des Wahlrechts, einen entscheidenden Schlag gegen die Eigentumsverhältnisse zu tun, rechtfertigte die Reform League denselben Appell mit der Verbesserung der Chancen für gesellschaftliche Anerkennung („respectability“) und sozialen Aufstieg.[19]
a) Erklärungsansätze der Geschichtswissenschaft
Die Schwäche des Arbeiterradikalismus in der Phase des sogenannten „Klassenkonsenses“ in der Mitte der viktorianischen Zeit und die reformistische Ausrichtung der im späten 19., Anfang des 20. Jahrhunderts entstehenden politischen Arbeiterbewegung (Fabian Society, Labour Party) sind auch von marxistischen Historikern (insbesondere der englischen „new left“) nicht bestritten worden.
„The problem for Marxist writers lay in explaining why it was that the British working class appeared more interested in going to the pub or winning the football pools than in setting up barricades and seizing political power.“[20]
Für marxistische Historiker wie Hobsbawm und Foster lieferte, wie schon für Marx und Engels selbst, die Herausbildung einer Arbeiteraristokratie den entscheidenden Erklärungs- ansatz für die Reduzierung von Klassenspannungen, die Abkehr der Arbeiter von eigen- ständiger, klassenbewusster politischer Organisation und die Annäherung an den bürgerlich- liberalen Radikalismus. Die durchschnittlichen Verbesserungen in Einkommen und Lebensstandard, die die langandauernde wirtschaftliche Prosperität zwischen den späten 1840er Jahren und der Mitte der 1870er Jahre den Arbeitern brachten, seien nicht per se für die relative politische Stabilität dieses Zeitabschnitts verantwortlich, sondern vielmehr ihre ungleiche Verteilung innerhalb der Arbeiterschaft.[21]
Insbesondere Hobsbawm hat festgestellt, dass sich mit dem Beginn des ökonomischen Aufschwungs in den 1840er Jahren eine Arbeiteraristokratie herausbildete, die etwa 10 bis 15% der gesamten Arbeiterklasse ausmachte. Sie hob sich durch bessere Ausbildung, bessere Bezahlung, räumliche Trennung und gemäßigtere politische Ansichten von der Masse der an- und ungelernten „labouring poor“ ab:
„(...) the man who earned a good regular wage was also the man who put enough by to avoid the Poor Law, to live outside the worst slum areas, to be treated with some respect and dignity by employers and to have some freedom of choice in his job, to give his children a chance of a better education and so on.”[22]
Diese Differenzen zur Mehrheit der Arbeiterschaft machten die Arbeiteraristokratie zum idealen Mittler zwischen Unternehmern und Arbeitern, denn nicht nur an der Arbeitsstelle, sondern auch im gewerkschaftlichen Rahmen konnte sie Führungsaufgaben übernehmen und so ihre moderateren politischen Ansichten gegenüber der zum Radikalismus neigenden Masse der „einfachen“ Arbeiter durchsetzen. Zu diesem Zweck wurde sie, wie insbesondere Foster am Beispiel von Oldham glaubt, nachweisen zu können, von den Unternehmern bewusst instrumentalisiert.[23] In dieser Hinsicht war es kein „Sprung ins Dunkle“, dieser Gruppe innerhalb der Arbeiterschaft 1867 das Wahlrecht zu geben, sondern ein Akt der Privilegie- rung, der die Kluft zwischen Arbeiteraristokratie und den „labouring poor“ noch vergrößerte.
Die Plausibilität der Arbeiteraristokratiethese zur Erklärung der reformistischen Aus- richtung der Arbeiterbewegung vor allem im dritten Viertel der viktorianischen Ära ist vielfach angezweifelt worden. Schon E.P. Thompson hat darauf hingewiesen, dass vielerorts die Existenz einer besser ausgebildeten, besser verdienenden, besser angesehenen und besser organisierten Gruppe innerhalb der Arbeiterschaft keine neue Erscheinung in der Mitte der viktorianischen Zeit darstellt, sondern bereits in den vor- und halbindustriellen Handwerken zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu finden war. Auch in der Blütezeit des Arbeiterradikalismus lassen sich innerhalb der Arbeiterschaft stark unterschiedliche Einkommens- und Status- gruppen nachweisen.[24]
Gegner der Arbeiteraristokratiethese haben außerdem argumentiert, dass sie die politische Orientierung der Arbeiter einseitig aus deren Zugehörigkeit zu einer Klasse ableite. Ein einheitliches Klassenbewusstsein der Arbeiter werde vorausgesetzt, das lediglich durch die ökonomische Privilegierung einer Minderheit unterminiert worden sei. Daher reduziere dieser Erklärungsansatz den Reformismus der Arbeiterbewegung und das Fehlen einer eigen- ständigen politischen Partei der Arbeiterklasse in der Mitte der viktorianischen Ära auf ökonomische Gründe (neben Repression und Manipulation durch Staat und Unternehmer) und unterschätze kulturelle Trennungslinien innerhalb der Arbeiterschaft.[25] Die Möglichkeit, dass liberale oder konservative Gesinnungen auch ohne Zwang, Manipulation oder „Klassen- verrat“ bei den Arbeitern heimisch gewesen sein könnten, werde zu wenig in Betracht ge- zogen.
[...]
[1] Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England und andere Schriften von August bis Juni 1846, in: Ders./ Karl Marx, Historisch- kritische Gesamtausgabe, 1.Abt.,4.Bd., hrsg. von V. Adoratskij, Glashütten im Taunus, S. 5f.
[2] Vgl. David G. Wright, Popular Radicalism. The Working- Class Experience 1780-1880, London/ New York 1988, S. 152.
[3] Der Gebrauch des Begriffs “Klassenkonsens” soll lediglich auf die relative politische und wirtschaftliche Stabilität und auf die starken Bindungen der Arbeiter an die etablierten politischen Parteien in der Mitte der viktorianischen Zeit hinweisen und nicht implizieren, dass es keine Konflikte entlang von „Klassengrenzen“ (wie z.B. Streiks) gegeben hat.
[4] Vgl. Patrick Joyce, Work, Society and Politics. The Culture of the Factory in later Victorian England, Brighton 1980; Neville Kirk, The Growth of Working Class Reformism in Mid- Victorian England, London/ Sydney 1985.
[5] Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, S. 281f.
[6] Vgl. Wright, Popular Radicalism, S. 23-149.
[7] Vgl. Fosters Studie zu Arbeiterradikalismus und “Klassenkampf” im frühen 19. Jahrhundert in Oldham, Northampton und South Shields: John Foster, Class struggle in the Industrial Revolution. Early Industrial Capitalism in three English Towns, London 1974; Eric Hobsbawm, Labouring Men. Studies in the History of Labour, London 1964; Ders., Soziale Ungleichheit und Klassenstrukturen in England. Die Arbeiterklasse, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen 1979, S. 53-65.
[8] Edward P. Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Bd.1, Frankfurt a.M. 1987, S. 208.
[9] Vgl. Wright, Popular Radicalism, S. 4.
[10] Thompson, Entstehung der englischen Arbeiterklasse, S. 10.
[11] Vgl. Herold Perkin, The Origins of Modern English Society 1780-1800, London 1969, S. 176-217.
[12] Vgl. Henry Pelling, A History of British Trade Unionism, London 1963, S. 13f.
[13] Vgl. Craig Calhoun, The Question of Class Struggle. Social Foundations of Popular Radicalism during the Industrial Revolution, Oxford 1982.
[14] Vgl. Albert E. Musson, Class Struggle and the Labour Aristocracy, in: Social History 3 (1976), S. 335-356. Zu reformistischen Traditionen in der frühen Gewerkschaftsbewegung und ihr Einfluss auf den Reformismus der Arbeiterbewegung in der Mitte der viktorianischen Zeit: Vgl. Ders., British Trade Unions 1800-1875, London 1972, S. 12-21, 49-63.
[15] Vgl. George Spater, William Cobett. The Poor Man´s Friend, Cambridge 1982; James Epstein, The Lion of Freedom. Feargus O´Connor and the Chartist Movement 1832-1842, London 1982.
[16] Zu Forschungsstand und Entwicklungstendenzen der Historiographie über die britische Arbeiterschaft der viktorianischen Zeit und ihr Zusammenhang mit sozialem und politischem Wandel seit Anfang der 1980er Jahre: Vgl. Mike Savage/ Andrew Miles, The Remaking of the British Working Class 1840-1940, London/ New York 1994, S. 1-20; John Host, Victorian Labour History. Experience, Identity and the Politics of Representation, London/ New York 1998, S. 1-59. Zum unterschiedlichen Gebrauch des Klassenbegriffs in der Geschichtswissenschaft: Vgl. Ronald S. Neale, Class in English History 1680-1850, Oxford 1981, S. 100-120. Zur geschichtswissenschaftlichen Diskussion um „Klasse“, Klassenbewusstsein und Arbeiterradikalismus in der viktorianischen Ära: Vgl. Wright, Popular Radicalism, S. 1-22.
[17] Gregory Claeys, The Triumph of Class- conscious Reformism in British Radicalism 1790-1860, in: The Historical Journal 26 (1983), S. 984.
[18] Vgl. Musson, Class Struggle and the Labour Aristocracy, S. 335ff.; Ders., British Trade Unions, S. 49-63.
[19] Vgl. Royden Harrison, Before the Socialists. Studies in Labour and Politics 1861-1881, London 1965, S. 21.
[20] Savage/ Miles, The Remaking of the British Working Class, S. 5.
[21] Kontinuität der materiellen Not der Mehrheit der Arbeiterschaft in der Zeit der wirtschaftlichen Prosperität konstatieren: Foster, Class Struggle, S. 95-99; George J. Barnsby, The Standard of Living in the Black Country during the Nineteenth Century, in: Economic History Review 24 (1971), S. 220-239.
[22] Eric Hobsbawm, The Labour Aristocracy in Nineteenth- century Britain, in: Ders., Labouring Men. Studies in the History of Labour, London 1964, S. 273.
[23] Vgl. Foster, Class Struggle, S. 224-238.
[24] Vgl. Thompson, Entstehung der englischen Arbeiterklasse, S. 258ff., 272.
[25] Vgl. Robert Gray, The Aristocracy of Labour in Nineteenth- century Britain 1850-1914, London 1981, S. 8-14, 63-66.
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