Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
I. Einleitung
II. Der Jischuw und die Judenverfolgung
2.1 Das Haavara-Abkommen
2.2 Flüchtlinge in Palästina
III. Die Vernichtung
3.1 Informationslage und Reaktionen
3.2 Initiativen
3.3 Nach dem Holocaust
IV. Schlussbetrachtungen
V. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Am Israel chai – „Das Volk Israel lebt.“ Mit dieser hebräischen Parole beschmierten im Jahre 1945 einige jüdische Soldaten aus Palästina den Titus-Bogen in Rom. Sie feierten die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee. Der Titus-Bogen war für Kaiser Titus nach der erfolgreichen Niederschlagung eines Aufstandes in Judäa (70 n. Chr.) und der Zerstörung des jüdischen Tempels errichtet worden.[1]
Diese Anekdote zeigt den langen Atem jüdischer Erinnerungskultur an erlittenes Leid. In diesem Sinne kann auch der moderne Zionismus als Antwort auf seit dem Mittelalter anhaltende antisemitische Diskriminierung und Verfolgung verstanden werden.[2] Er führte seit 1882 zunächst vornehmlich osteuropäische Juden nach Palästina. Erklärtes Ziel war die schrittweise Errichtung eines jüdischen Staates auf historischem Gebiet zur Überwindung der Diaspora. Durch die Balfour-Erklärung von 1917 zeigte sich die britische Mandatsmacht mit dem zionistischen Vorhaben einverstanden. Die europäischen Juden bildeten ein gewaltiges Reservoir potentieller Siedler, die man für die zionistische Idee gewinnen wollte. Mit der Machtübernahme Hitlers setze eine Fluchtwelle deutscher und später auch österreichischer Juden ein. Die neuen Siedler suchten in Palästina jedoch eher einen Zufluchtsort als das zionistische Heil. Den Gipfel antijüdischer Aktion markiert zweifelsohne der Holocaust. Grundsätzlich war das jüdische Palästina (der Jischuw) als einziges Land bereit gewesen, jüdische Flüchtlinge in größerem Umfang aufzunehmen. Aber auch hier gab es Vorbehalte, Konflikte und politische Schwierigkeiten. Einerseits wollte man das Überleben der zionistischen Idee sichern, auf der anderen Seite sah man sich mit dem unermesslichen Leid der europäischen Juden konfrontiert. Zudem hatte man gegen die mittlerweile restriktive Einwanderungspolitik der britischen Mandatsmacht zu kämpfen. Auch nach 1945 galt es, den entwurzelten sowie körperlich und seelisch gezeichneten Überlebenden des Genozids ein neues Zuhause zu geben.
Diese Arbeit möchte die Auswirkungen der nationalsozialistischen Judenverfolgung auf die Entwicklung des zionistischen Gemeinwesens beleuchten. Dabei spielen Konflikte im Umgang mit jüdischen Flüchtlingen aus dem deutschen Kulturkreis eine Rolle; ebenso ihre Bedeutung für den werdenden Staat. Im Anschluss sollen die Reaktionen auf die Vernichtungspolitik des Dritten Reichs dargelegt werden. Dabei ist die Frage wichtig, ob die Politik des Jischuw als Einheit von Zionismus und Solidarität mit den Verfolgten zu verstehen ist oder ihre vermeintliche Diskrepanz aktiver Hilfe im Wege stand. In der Forschung wird die Haltung der Jewish Agency[3] gegenüber der europäischen „Katastrophe“[4] höchst unterschiedlich bewertet. Kritische Stimmen werfen ihr eine äußerst passive Haltung vor. So habe man sich nahezu ausschließlich von zionistischen Interessen leiten lassen, moralische Gesichtspunkte vernachlässigt oder sei schlichtweg unfähig gewesen.[5] Andere betrachten den Spagat zwischen zionistischen Bestrebungen und den Reaktionen auf die nationalsozialistische Judenpolitik in Anbetracht der schwierigen Umstände als Erfolgsgeschichte.[6] Die unterschiedlichen Ausführungen der entsprechenden Wissenschaftler sind hilfreich für eine abschließende Bewertung der Rolle des Jischuw in der schicksalhaftesten Zeit des Jüdischen Volkes. Eine derartige Kritik kann nur unter Berücksichtigung der politischen Lage des jüdischen Palästina erfolgen.
II. Der Jischuw und die Judenverfolgung
„Ich habe Deutschland so sehr geliebt, dass mein Herz brechen könnte. Nicht nur seine Menschen, seine Sprache und seine Kultur, sondern auch seine Landschaft. […] Als ich aber 1946 und auch in diesem Jahre (1952) in Deutschland war und bewundern mußte, was ein fleißiges und strebsames Volk im Wiederaufbau leistet, sagte ich mir dennoch: Dieses Land ist nicht länger mein Land. […] Mein Deutschland ist untergegangen für immer.“[7]
In der Regel hatten sich die Juden hierzulande eng mit der deutschen Kultur verwoben gesehen. Tatsächlich ist der jüdische Anteil an der ökonomischen und kulturellen Entwicklung Deutschlands seit dem Mittelalter bemerkenswert.[8] Umso gravierender war die seit 1933 einsetzende Ernüchterung, die spätestens mit der Öffnung der Konzentrations- und Vernichtungslager im Frühjahr 1945 ihren traurigen Höhepunkt gefunden hatte. Ein erschütterndes Zeugnis enttäuschter Heimatgefühle geben die oben zitierten Worte Leo Baecks, des ehemaligen Oberrabbiners von Berlin. Jener hatte bereits 1933 nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten erklärt: „Die tausendjährige Geschichte des deutschen Judentums ist zu Ende.“[9] In der Haaretz, einer liberalen jüdischen Zeitung Palästinas, stellte man das Deutschland der Geistesgrößen Kant, Goethe und Schiller dem „anderen Deutschland“ mit seinem „dummen, rüden und engstirnigen Nationalchauvinismus“ entgegen.[10]
2.1 Das Haavara-Abkommen
Auf Seiten des Weltjudentums gab es gewaltige Proteste gegen die Judenpolitik der Nationalsozialisten. Mit einem weltweiten kollektiven Boykott deutscher Waren wollte man auf die Bedrohung reagieren. Die Boykottbewegung fand auch Anklang in Palästina. Jedoch sah sich die Jewish Agency aus verschiedenen Gründen zu Verhandlungen mit Nazideutschland veranlasst. Anfangs schienen die Interessen des nationalsozialistischen Regimes und des Zionismus einander in gewisser Weise zu ergänzen. Die Nazis wollten die Juden zur Auswanderung zwingen, der Jischuw war auf neue Siedler angewiesen. In diesem Sinne unterstützten etliche antisemitische Theoretiker und Politiker das nationale Projekt der Juden.[11]
Obgleich sich David Ben Gurion[12] nach der Lektüre von „Mein Kampf“ durchaus der Gefahr bewusst zu sein schien, die von Hitler für das gesamte jüdische Volk ausging, hoffte er auf eine „fruchtbare Kraft“ für den Zionismus durch den Sieg der Nazis.[13] Der Begründer des modernen Zionismus, Theodor Herzl, war in seiner Schrift „Der Judenstaat“ (1896) davon ausgegangen, dass alle Völker „samt und sonders verschämt oder undverschämt Antisemiten“ seien. Er sah den Judenstaat als einzigen Ausweg und Verhandlungen mit den antisemitischen Staaten erschienen ihm notwendig.[14] Nach seiner Vorstellung sollte der Transfer des Besitzes Ausreisewilliger durch eine Treuhandgesellschaft organisiert werden.[15] Im Jahre 1933 kam auf zionistischer Seite die Idee auf, mit dem „Dritten Reich“ über ein Emigrations- und Eigentumstransferabkommen zu verhandeln. Insbesondere die Mapai, die zionistische Arbeiterpartei und bedeutendste politische Kraft in der jüdischen Gemeinschaft Palästinas, machte sich hierfür stark und schickte ihre Vertreter zu den langwierigen Verhandlungen nach Deutschland. Im August 1933 wurde das Haavara-Abkommen mit dem deutschen Wirtschaftsministerium unterzeichnet und blieb formal bis 1941 in Kraft.[16] Die Auswanderungswilligen zahlten ihr Geld bei einer Bank in Deutschland ein, die damit Exportgüter erwarb, um sie in Palästina wieder zu veräußern. Die Erträge gingen nach Abzug der Kosten wieder an die Kapitaleigentümer zurück. Nur über diesen Umweg konnten die Auswanderer etwa 65 Prozent ihres Vermögens sichern. Andere Arten des Kapitaltransfers waren massiv besteuert. Auf deutscher Seite erhoffte man sich eine Beschleunigung der jüdischen Emigration und vermehrte Deviseneinnahmen durch den Handel mit dem Nahen Osten.[17] Zudem ging es darum, „eine Bresche in die Mauer des antideutschen Boykotts zu schlagen“.[18]
[...]
[1] Lozowick, Yaacov: Israels Existenzkampf. Eine moralische Rechtfertigung seiner Kriege, Bonn 2006, S. 67. Die Soldaten standen im nationalen Interesse des Jischuw (der jüdischen Gemeinschaft Palästinas) im Dienste der Britischen Armee und waren im in Norditalien zum Einsatz gekommen. (Vgl. S. 13-14.).
[2] Bunzl, John: Israel im Nahen Osten. Eine Einführung, Köln 2008, S. 17. Herzl, Theodor: Der Judenstaat, Berlin 1936, Elfte Auflage, S. 24; S. 10. Herzl gilt durch diese Schrift als Vater des modernen Zionismus. Der praktische Zionismus hatte seit 1882 durch mehrere Immigrationswellen (erste bis fünfte Alijah) zum ersten Mal seit 135 n. Chr. (dem Ende des „Zweiten Jüdischen Krieges“) wieder zu einer nennenswerten jüdischen Präsenz in Palästina geführt. Bis 1936 lebten bereits wieder knapp 400 000 Juden in Britisch-Palästina. Brenner, Michael: Geschichte des Zionismus, München 2002, S. 65. Hier wird der moderne Zionismus einführend vorgestellt. Siehe auch als Einführung: Rubinstein, Ammon: Geschichte des Zionismus. Von Theodor Herzl bis Ehud Barak, München 2001. Weitaus ausführlicher: Laquer, Walter: Der Weg zum Staat Israel. Geschichte des Zionismus, Wien 1972. Der Zweite Jüdische Krieg: Regionale jüdische Erhebungen gegen die römische Fremdherrschaft sollen 135 n. Chr. zur totalen Zerstörung Judäas und der Auslöschung der jüdischen Präsenz in der von nun an als Palästina bezeichneten römischen Provinz geführt haben. Diese Ereignisse markieren nach jüdischer Erinnerungskultur den Beginn der Diaspora bis in die Neuzeit. Der römische Geschichtsschreiber Cassius Dio über das Ende des Krieges: „Nur ganz wenige jedenfalls kamen von ihnen mit dem Leben davon. Fünfzig ihrer wichtigsten Festungen und 985 der bedeutendsten Ansiedlungen wurden dem Erdboden gleich gemacht, ferner fanden 580 000 Mann bei den einzelnen Angriffen und Schlachten den Tod; Die Zahl der durch Hunger, Krankheit und Feuer zugrunde Gegangenen war nicht festzustellen. So wurde fast ganz Judäa zur Einöde […]“. Cassius Dio: Römische Geschichte 69, 14, übersetzt von: Otto Veh, Darmstadt 2007. Die überwiegende Auffassung von der „Judenfreiheit“ Palästinas von 135-1882 n. Chr. wird heutzutage von Shlomo Sand angezweifelt. In Anbetracht des Palästinenser-Konflikts führte diese These aktuell zu harschen Protesten und emotional aufgeladenen Kontroversen. Sand versucht die Palästinenser als Nachfahren der Juden zu beweisen, die nicht vertrieben und später islamisiert worden seien. Sand, Shlomo: The Invention of the Jewish People, New York 2009.
[3] Die Jewish Agency war die politische Führung des Jischuw. Sie regelte innere Angelegenheiten, die Kommunikation mit der britischen Mandatsmacht, den Landkauf und die Immigration. Ihr Exekutivorgan war die Jewish Agency Executive (JAE).
[4] Das hebräische Wort Shoa (Katastrophe) durchlief im Zusammenhang mit der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten von 1933-1945 eine Metamorphose. Schon die Machtübernahme Hitlers 1933 wurde zuweilen als „Shoa“ für den Zionismus gewertet. Nach der „Reichskristallnacht“ von 1938 bezeichnete es die Misshandlungen und das Arretieren jüdischer Mitbürger sowie die im Zuge der Pogrome vereinzelt stattfindenden Mordtaten. Im Jahre 1940 fand er auf die durch Hunger, Armut und das beengte Zusammenleben der Juden verursachte katastrophale Lage in den polnischen Ghettos, namentlich in Warschau Anwendung. 1941 stand er für die Massenflucht mittelloser osteuropäischer Juden und ab 1942 letztendlich für die systematische Ausrottung. Porat: Blue and Yellow Stars, S. 44. Im Hinblick auf die Wandlung des Begriffes von 1933 bis zu seiner endgültigen Bedeutung ab 1943 ist auch der Titel dieser Arbeit gemeint. Er erfasst den gesamten Zeitraum von 1933-1945 mit dem Begriff der europäischen „Katastrophe“.
[5] Segev, Tom: Die Siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Hamburg 1995; Brenner, Lenni: Zionism in the Age of the Dictators. A reappraisal, Bristol 1983.
[6] Porat, Dina: The Blue and the Yellow Stars of David. The Zionist Leadership in Palestine and the Holocaust 1939-1945, London 1990; Teveth, Shabtai: Ben Gurion and the Holocaust, Orlando 1996.
[7] Leo Baeck, ehemaliger Oberrabbiner von Berlin in einem Interview in Kopenhagen. Zitiert nach: Lüth, Erich: Deutschland und die Juden nach 1945. Vortrag, Hamburg 1957, S. 5.
[8] Zur Geschichte der Juden in Deutschland: Herzig, Arno: Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn 2005.
[9] Zitiert nach: Feilchenfeld, Werner; Michaelis, Dolf; Pinner, Ludwig: Haavara-Transfer nach Palästina und Einwanderung deutscher Juden 1933-1939, Tübingen 1972, S. 15.
[10] Harabi, Avraham: “Kritik an unseren Beziehungen zu Deutschland“, Haaretz, 17. März 1933, S. 8. Zitiert nach: Segev, S. 28.
[11] Nicosia, Francis R.: The Third Reich and the Palestine Question, London 1985, S. 20-21.
[12] David Ben Gurion wurde 1886 in Plonsk (Kongresspolen) geboren. Im Jahr 1906 ließ er sich als Zionist in Palästina nieder. Er studierte von 1912 bis zu seiner Ausweisung 1915 Rechtswissenschaften in Istanbul und wurde 1921 Generalsekretär der Histadrut, einem damals zionistisch-sozialistisch motivierten Gewerkschaftsverbund. Im Jahre 1930 gründete er die jüdischen Arbeiterpartei Mapai und wurde 1935 zum Vorsitzenden des Exekutivorgans der Jewish Agency gewählt. Er führte den Jischuw in politischer Hinsicht bis er am 14. Mai 1948 die Gründung des Staates Israel bekanntgab. Als erster Ministerpräsident regierte er mit einer zweijährigen Unterbrechung (1953-1954) bis 1963. Während seinen Amtszeiten geschahen der Massenexodus aus Europa vor und nach dem Holocaust, die beinahe totale Vernichtung der europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges, die Staatsgründung sowie der Erste Arabisch-Israelische Krieg (1948-1949) als herausragende Ereignisse. Ben Gurion starb 1973 im Alter von 88 Jahren in Sede Boke, einen Kibbuz in der Wüste Negev, und liegt dort begraben. Bar-Zohar, Michel: Ben Gurion. Der streitbare Prophet. Eine Biographie, Hamburg 1986.
[13] Segev: Siebte Million, S. 29.
[14] Herzl: Judenstaat, S. 24.
[15] Ebd., S. 36-38; S. 50-51.
[16] Ab 1938 ließ man das Transferabkommen langsam auslaufen, indem man auf deutscher Seite die Möglichkeit der Ausfuhr von Besitz zunehmend einschränkte. Seit 1939 war der Devisentransfer faktisch nicht mehr möglich. Laquer: Der Weg, S. 523.
[17] Segev: Siebte Million, S. 33-35. Eshkoli-Wagman, Hava: Yishuv Zionism: Its Attitude to Nazism and the Third Reich Reconsidered, in: Modern Judaism 19, 1 (Feb. 1999), S. 21-40. Ein Auszug aus einem Bestätigungsbrief des deutschen Wirtschaftsministeriums vom 25. August 1933 gibt Aufschluss über die deutschen Interessen an dem Abkommen: „Förderung der Auswanderung deutscher Juden nach Palästina, gleichzeitige Schonung der Devisenbestände der Reichsbank, und Steigerung der Ausfuhr nach Palästina.“ Zitiert nach: Feilchenfeld, Werner; Michaelis, Dolf; Pinner, Ludwig: Haavara-Transfer nach Palästina und Einwanderung deutscher Juden 1933-1939, Tübingen 1972.
[18] Zitiert nach: Laquer: Der Weg, S. 523.