Ockhams Rasiermesser

Von einer mittelalterlich-objektivistischen zu einer neuzeitlich-subjektivistischen Erkenntnistheorie


Seminararbeit, 2012

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1 Erkenntnistheorie und Metaphysik vor Wilhelm von Ockham

2 Ockhams Rasiermesser
2.1 Erkennen und Wissenschaft bei Ockham
2.2 Ockhams theologischer Nominalismus

3 Kritische Würdigung und Einfluss auf Renaissance und Neuzeit

4 Literaturverzeichnis

1 Erkenntnistheorie und Metaphysik vor Wilhelm von Ockham

Bevor auf die Erkenntnistheorie und Metaphysikkonzeption Wilhelm von Ockhams eingegangen wird, soll zunächst eine kurze Betrachtung der zentralen Punkte einer mittelalterlichen Erkenntnistheorie und deren Strömungen aus unmittelbarer Zeit vor dem „Inceptor venerabilis“[1] durchgeführt werden. Dies geschieht in Anbetracht der Tatsache, dass die hier zu erörternde Fragestellung - die Bedeutung des ockhamschen Rasiermessers hinsichtlich der neuzeitlichen Erkenntnistheorie - nur dann angemessen beantwortet werden kann, wenn die historische Einbettung, sprich, das vorherrschende philosophische Gedankengut in der Zeit vor Ockham wenigstens in ihren Grundzügen skizziert wird. Epistemologie und Metaphysik im Wissenschaftsbetrieb vor Ockham sind wesentlich durch die beiden antiken Denker Platon und Aristoteles geprägt. Insbesondere bis zu Beginn des 12. Jahrhunderts ist auffällig, dass hauptsächlich das platonische „Ideengut“ zur rationalen Begründung der christlichen Offenbarungslehre genutzt wurde. Diese Vormachtstellung der Ideenlehre wurde allmählich im Laufe des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts durch eine aristotelische Weltdeutung abgelöst oder zumindest von ihr dominiert.

„Hatte das 13. Jahrhundert gierig neues Material – vor allem griechisches und arabisches – aufgesaugt und mit der christlichen Tradition zu harmonisieren versucht, und hatten nur wenige […] die Harmonisierung in Frage gestellt, so verlangte allein schon die Verurteilung von 1277 eine schärfere Prüfung der alten Positionen.“[2]

Dies geschah nicht zuletzt schon vor den verurteilten Thesen durch die Lehren des Thomas von Aquino und dessen Lehre der fünf Wege zu Gott, welche das wissenschaftliche Denken bis zu Beginn des 14. Jahrhunderts mitbestimmten. Wesentlich ist die thomistische Voraussetzung, dass ein allmächtiger Gott mittels menschlicher Vernunft erkannt werden kann. Für die hier vorliegende Untersuchung und deren Fokus – der Wandel der Erkenntnisbedingungen und Voraussetzungen des Subjekts - ist es von enormer Bedeutung zu verstehen, dass die gesamte Erkenntnistheorie in ihren Grundzügen bis zu diesem Zeitpunkt auf der Annahme des Notwendigen Seins gründete. Zwar entfernte sich der heilige Thomas in seiner Theorie von einer rein christlich - platonischen Erklärung, hin zu einem christlichen Aristotelismus; doch ist auch bei Letzterem die Teleologie des Seins Basis, auf welcher sich seine Lehre entfaltet. Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen ist demnach im Stande ein objektives Sein in Form des christlichen Gottes mittels Vernunfttätigkeit zu erkennen.

„Kraft seiner `Teilhabe am göttlichen Licht´ kann der Verstand im vielen Zufälligen das Notwendige, im Wandelbaren die im Stoff wirksame Idee erkennen. Er erfaßt die Welt im Licht der Gedanken Gottes. Andererseits hatte – nach der Entdeckung der `Natur´ im 12. Jahrhundert – das Sichtbare im 13. Jahrhundert so sehr an Gewicht gewonnen, daß Thomas alle unsere Erkenntnis daran festmachen wollte. Er trug damit einer neuen, nüchternen Rationalität Rechnung, ohne auf die Erkenntnis der Ideen im Geist Gottes verzichten zu wollen.“[3]

Diese Vermischung von platonischem Teilhabe-Gedanke und dem aristotelischen Naturverständnis bei Thomas zeigt somit eine erste eindeutige Tendenz in Richtung einer neuen Richtung der Erkenntnistheorie. Die Vernunft des Menschen ist hiernach nicht ohnmächtig und demnach in der Lage einen Schöpfergott, der als erstes und notwendiges Wesen gedacht wird, zu begreifen.

Die Unterscheidung von Schöpfer und Geschaffenem, welche auf dem Ursache –Wirkungsprinzip basiert, stellt sich hierbei außerdem als der dominierende Obersatz oder die Ausgangsprämisse der metaphysischen und erkenntnistheoretischen Erörterungen des gesamten christlich geprägten Mittelalters dar. Es zeigt sich somit bis ins 14. Jahrhundert hinein eine eindeutig platonisch geprägte Unterscheidung von zwei Arten des Seins: Gott, als dem vollkommenem Schöpferwesen - zugleich erste Ursache; und der geschaffenen Welt, mit erkennenden Wesen, welche zugleich auch Teil des vollkommenen Seins Gottes sind und die Fähigkeit besitzen, dieses perfekte Sein zu schauen.

„Das abgeschwächte, vielheitliche und nur begrenzt gute Geschöpf sollte dem `reinen´ Sein, der ungeteilten Einheit, der Fülle des Guten sowohl ähnlich als auch unähnlich sein, kurz: Es sollte zu ihm im Verhältnis der `Teilhabe´ […] stehen.“[4]

Diese Annahme der Teilhabe wurde somit spätestens seit den Augustinischen Lehren komplett in das christliche Weltbild assimiliert und als Voraussetzung für die Möglichkeit des subjektiven Erkennens gesetzt.

Es kann nun im Dienste unserer Erörterungen folgendermaßen zusammengefasst werden: Die Möglichkeit des Erkennens baute in der Zeit vor Wilhelm von Ockham in der Hauptsache auf eine minderwertige Sicht des erkennenden Subjektes. Der platonische Teilhabe-Gedanke, welcher eine eindeutige Hierarchie zwischen höhergestellter, metaphysischer Ideenwelt und den lediglich an dieser teilhabenden raum-zeitlichen Welt der Einzeldinge, erkennen ließ, passte wunderbar in die christliche Lehre und dominierte so bis ins späte Mittelalter. Durch die Verschmelzung von jener Zweiweltenlehre und aristotelischem Naturbegriff, welcher die Ursache in den Einzeldingen selbst begreift, wurde durch Thomas von Aquin ein erster Schritt in Richtung der neuzeitlichen Realwissenschaften getätigt, in welchen eine theologische Weltdeutung, die ein metaphysisches, notwendiges Sein als erste unverursachte Ursache in Form des Schöpfergottes voraussetzt, immer weniger an Bedeutung erfahren sollte.

„Es gab Aristoteles – Verbote […] aber auf Dauer konnte man sich der wissenschaftlichen Überlegenheit dieser Texte nicht entziehen; in mancher Hinsicht enthielten sie das, woraufhin schon das 12. Jahrhundert sich entwickelt hatte: eine Neubewertung der Natur, die Entfaltung eines wissenschaftlichen Kontextes ohne theologische Interventionen, Abkehr von einer primär monastischen Ethik. […] Die Denker des 13. Jahrhunderts standen vor dem Problem, wie sie sich die Vorzüge der griechisch – arabischen Philosophie, Medizin und Naturforschung […] zunutze machen könnten, ohne die traditionelle christliche Welt völlig zu zerstören.“[5]

Es zeigt sich aus dem Beschriebenen, dass die mittelalterlichen Denker und dessen Lehrinhalte durch und durch von einem christlichen Weltbild geprägt und beeinflusst waren. Anhand der Säulen dieses einfachen Systems und dessen Prämissen, versuchten die Philosophen der damaligen Zeit eine möglichst vernünftige Rechtfertigung dieser Weltdeutung mit Hilfe der antiken Lehren zu gewährleisten. Die zu Recht skeptischen Fragen, welche sich nicht zuletzt durch die Verurteilung der 219 antichristlichen Thesen von 1277 aufdrängten[6] , führten jedoch langsam aber sicher zu einer strengeren Untersuchung der Erkenntnismöglichkeiten. War bis dorthin ausschließlich von einer zu erkennenden metaphysischen, die erfahrbare Wirklichkeit begründende Objektivität ausgegangen, wurden mit fortschreitender Zeit Zweifel laut, ob der Mensch überhaupt etwas über eine solche metaphysische, den Sinnen nicht zugängliche Welt, aussagen kann. Im nun folgenden Hauptteil werden die wichtigsten Punkte der Erkenntnistheorie des spätscholastischen Denkers Wilhelm von Ockham skizziert, in welcher eine klare Verlagerung des Anspruches einer objektivistischen zu einer eher nüchternen, subjektivistischen Erkenntnistheorie deutlich wird. Um die zentrale Fragestellung „Welche Bedeutung hatte Ockhams Rasiermesser für die neuzeitliche Erkenntnistheorie?“ beantworten zu können, wird nun eine Betrachtung seiner Bedingungen des Erkennens nachvollzogen und anschließend gezeigt, was es genau mit jenem vielzitierten Rasiermesser auf sich hat!

2 Ockhams Rasiermesser

Im folgenden Kapitel soll das Wesentliche der Erkenntnistheorie des Wilhelm von Ockham dargestellt werden. Um dies gewährleisten zu können, werden zunächst Grundannahmen des ockhamschen Denkens in Kapitel 2.1 geschildert. Außerdem soll gezeigt werden, wie das ockhamsche Rasiermesser als Prinzip der Ökonomie, für ihn zentrale Bedingung des menschlichen Erkennens überhaupt ist. Das mittelalterliche Universalienproblem, welches als Auseinandersetzung zwischen Realisten und Nominalisten zu Beginn des 4. Jahrhunderts durch den Philosophen Porphyrius entfacht wurde[7] , soll weiter in Kapitel 2.2 verdeutlichen, wie der spezielle Nominalismus Ockhams das erkenntnistheoretische Denken fortan prägte und den Fokus der Bedingungen des Erkennens auf das Subjekt und dessen Sinneswahrnehmungen verlagerte.

2.1 Erkennen und Wissenschaft bei Wilhelm von Ockham

Um die Erkenntnistheorie Ockhams verstehen zu können, müssen allererst die Prämissen oder Grundannahmen seines Denkens beschrieben werden. So wird nun im Folgenden erklärt, was für ihn Bedingung von Erkenntnis darstellt.

Wie schon im ersten Kapitel beschrieben, fußten alle erkenntnistheoretischen Annahmen und Erörterungen des Mittelalters bis dato auf der Prämisse des notwendigen Seins unserer erfahrbaren Welt, welche als zentrale Säule der theologischen Weltanschauung angesehen werden kann. Dieses Kriterium fällt bei Ockham als Voraussetzung des Erkennens heraus. Sein ist bei ihm lediglich widerspruchsfreie Existenz, sprich, alles nach unseren logischen Denkprinzipien Mögliche. Dies bezieht sich auf kontingente (also tatsächliche, aber nicht notwendig vorhandene) Sachverhalte, wie aber auch auf bloß Mögliches (nicht Existierendes).[8]

Bevor bei Ockham eine Theologie als Wissenschaft untersucht werden kann, klärt er dementsprechend zunächst die Frage der Erkenntnismöglichkeit des Subjektes.

„Denn was hilft es, daß Theologie als Wissenschaft betrieben werden könnte, wenn das Erkenntnisvermögen des Menschen dazu nicht ausreicht. Und die Ansprüche sind hoch: Es geht um […] evidente Erkenntnis. Der Frage nach dem Wissenschaftscharakter der Theologie, mit der üblicherweise Ockhams Vorgänger den Sentenzenkommentar eröffnet haben, wird also die Klärung der Möglichkeit natürlicher Vernunfterkenntnis vorgeschaltet.“[9]

[...]


[1] Vgl. Hirschberger, Johannes: Geschichte der Philosophie. Band 1 : Altertum und Mittelalter. Komet Verlag. Freiburg 1980. S.560.

[2] Flasch, Kurt [Hrsg.]:Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung. Band 2. Mittelalter. Reclam. Stuttgart 1982. S.456.

[3] Flasch, Kurt (1982): a.a.O., S.285. Hervorhebung im Original.

[4] Ebd., S. 287.

[5] Flasch, Kurt (1982): a.a.O., S.282.

[6] Vgl. Ebd., S. 355.

[7] Vgl. Grossmann, Reinhardt: Die Existenz der Welt. Eine Einführung in die Ontologie. Ontos Verlag. Frankfurt 2004., S.27.

[8] Vgl. Beckmann, Jan P.: Wilhelm von Ockham. Beck´sche Reihe. Denker. Verlag C. H. Beck 1995., S.90.

[9] Beckmann, Jan P.: a.a.O., S.49.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Ockhams Rasiermesser
Untertitel
Von einer mittelalterlich-objektivistischen zu einer neuzeitlich-subjektivistischen Erkenntnistheorie
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen  (Philosophisches Institut)
Veranstaltung
Analyse von Texten zu Problemen der Philosophie des Mittelalters und der Renaissance bzw. frühen Neuzeit (2. Teil)
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
18
Katalognummer
V201969
ISBN (eBook)
9783656284543
ISBN (Buch)
9783656285090
Dateigröße
448 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Philosophie des Mittelalters, Ockhams Rasiermesser, Erkenntnistheorie, Subjektivismus, Thomas von Aquin, Platons Bart
Arbeit zitieren
Daniel Jacobs (Autor:in), 2012, Ockhams Rasiermesser, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/201969

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Titel: Ockhams Rasiermesser



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