Ist geschlossene Unterbringung zeitgemäß?

Eine explorative Studie zur Untersuchung von geschlossenen Einrichtungen der Psychiatrie in Oberbayern


Masterarbeit, 2012

371 Seiten, Note: "-"


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Geschichte der Psychiatrie
1.1 Zeit vor Christus
1.2 Die Zeit nach Christus bis ins Mittelalter
1.3 Aufklärung
1.4 Jahrhundertwende
1.5 Nationalsozialismus
1.6 Entwicklungen in der Nachkriegszeit
1.7 Psychiatrie-Reform

2. Menschenwürde und Recht
2.1 Die menschliche Würde und die gesetzlichen Rahmenbedingungen
2.2 Das Betreuungsrecht und die Zusammenhänge für die geschlossene Unterbringung und deren Auswirkungen für die Betroffenen
2.2.1 Bestellung eines gesetzlichen Betreuers
2.2.2 Rechtliche Bestimmungen zur Unterbringung
2.3 Die geschlossene Unterbringung in der Praxis
2.3.1 Rechtliche Einordung in der Praxis
2.3.2 Maßnahmen während der freiheitsentziehenden Unterbringung
2.3.3 Die Aufhebung der Unterbringungsmaßnahme

3. Qualität in geschlossenen Einrichtungen nach SGB XII
3.1 Der Qualitätsbegriff in der Sozialpsychiatrie
3.2 Die Situation der Versorgung mit geschlossenen Heimplätzen in
Oberbayern im Vergleich
3.2.1 Situation in Sachsen-Anhalt, Berlin, Hessen und
Baden-Württemberg
3.2.2 Die Situation in Oberbayern

4. Methodik
4.1 Auswahl der Methode für das Forschungsfeld
4.2 Zugang zum Untersuchungsfeld und die Rolle der Interviewerin
4.3 Hinführung zur Fragestellung und Erstellung der Thesen
4.4 Erstellung eines Interviewleitfadens
4.5 Vorbereitung der Interviewphase, Kontakte zu den Interviewpartnern
und Befragungsphase

5. Ergebnisdarstellung
5.1 Datendarstellung
5.1.1 Angaben der Bewohner
5.1.2 Persönliche Eindrücke von den Einrichtungen
5.2 Auswertung der Interviews
5.2.1 Fragenkomplex 1 - Themenbereich: Angaben zur befragten Zielgruppe
5.2.2 Fragenkomplex 2 - Themenbereich: Wahrung der Würde und rechtliche Bedingungen
5.2.3 Fragenkomplex 3 - Themenbereich: Qualität
5.2.4 Fragenkomplex 4 – Themenbereich: Hilfeangebot und mögliche Alternativen zu geschlossenen Heimen

6. Diskussion

7. Schlussbemerkungen

8. Literaturverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Geforderte Standards

Tabelle 2: Übersicht befragter Personenkreis

Tabelle 3: Bewohnerangaben

1. Einleitung

Seit der Psychiatrie-Reform haben sich die Wissenschaft und die therapeutischen Angebote in der Psychiatrie weiterentwickelt. Vor diesem Hintergrund der Entwicklung stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen geschlossene Unterbringung für Menschen mit psychischer Erkrankung in der heutigen Zeit noch notwendig erscheint. Diese Frage wird unter den Experten kontrovers diskutiert.

Tatsache ist jedoch, dass geschlossene Unterbringung heute in der Bundesrepublik Deutschland noch nach wie vor ein Angebot der Sozialpsychiatrie darstellt, welches genutzt wird, jedoch in der Öffentlichkeit und in Diskussionen bisher wenig Beachtung findet. Auf der einen Seite ist die geschlossene Unterbringung immer noch Realität, auf der anderen Seite steht diese Form der Psychiatrie-Reform vollkommen entgegen.

Aus diesem Grund ist es besonders wichtig, diese Tatsache nicht auszublenden, sondern diesen Einrichtungen besondere Beachtung zu schenken. Durch den besonders tiefgreifenden Eingriff in die Freiheit der Betroffenen bedarf es spezieller Sorgfalt, Kritikfähigkeit in der Begleitung und Beobachtung solcher einschneidenden Maßnahmen.

Die vorliegende Studie hat zum Ziel, die Fragestellung, ob die geschlossene Einrichtung heute noch zeitgemäß ist, zu untersuchen. Diese Untersuchung bezieht sich auf den Raum Oberbayern. Derzeit wird in Oberbayern die geschlossene Heimunterbringung von Menschen mit psychischer Erkrankung kritisch diskutiert. Wie sich herausgestellt hat, ist die Datenlage, die über die gegenwärtige Situation der Betroffenen Aufschluss geben kann, bisher nicht aussagekräftig.

Ausgehend von der bisher mangelhaften Daten- und Informationslage wird die geschlossene Heimunterbringung von Menschen mit psychischer Erkrankung im Rahmen dieser explorativen Studie untersucht.

Aus der Geschichte der Psychiatrie ist ersichtlich, dass die Einstellung und die Haltung zu Menschen mit psychischer Erkrankung im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Veränderungen unterworfen war. Der Zeitgeist, die ethisch und moralische Haltung der Menschen, spiegelt sich in der Geschichte wider. Daher wird zunächst die Geschichte der Psychiatrie zusammenfassend dargestellt. Diese hat die Absicht durch ein umfassendes Bild der geschichtlichen Entwicklung ein Hintergrundverständnis zu vermitteln und zu der heutigen Situation in der Sozialpsychiatrie hinzuführen.

Durch die furchtbaren Ereignisse in der Zeit des Nationalsozialismus ist es für die Gesellschaft heute eine vorrangige Aufgabe, die Wahrung der Würde und Rechte von Menschen mit psychischer Erkrankung zu gewährleisten.

Vor diesem Hintergrund werden im zweiten Kapitel die Konsequenzen dargestellt, die aus der UN-Behindertenrechtskonvention hinsichtlich der Selbstbestimmung und der Schutzbedürfnisse von Menschen mit psychischer Erkrankung im Rahmen von freiheitsentziehenden Maßnahmen resultieren. Dies ist insbesondere für die Betroffenen, die in geschlossenen Heimen untergebracht werden von eklatanter Bedeutung, da sie in dieser Situation besonderen Einschränkungen ihrer Persönlichkeitsrechte ausgesetzt sind. Die Beteiligten der Unterbringung (Gerichte, Betreuer, Leistungserbringer) haben die wichtige Aufgabe der Stärkung der Selbstbestimmung und der Wahrung der menschlichen Würde.

Diese Aufgabe gilt es auch auf rechtlicher Ebene mit Hilfe des Betreuungsgesetzes umzusetzen, welches in seiner Funktion die Rechte zum Wohl des Betreuten schützen soll.

Zudem fordert die UN-Behindertenrechtskonvention die Koordination von bedarfs­gerechten, wohnortnahen und differenzierten Versorgungsangeboten der Sozial­psychiatrie. Dazu gehören auch einrichtungsübergreifende Qualitätsstandards für die geschlossene Heimunterbringung, um ein zeitgemäßes Angebot darstellen zu können. Diese Thematik wird im dritten Kapitel behandelt, verbunden mit grund­sätzlichen Überlegungen zur Bedeutung von Qualität und Qualitätsentwicklung in der Sozialpsychiatrie und der Darstellung der Situation geschlossener Heimen in Oberbayern. Zudem wird die Situation in Sachsen-Anhalt, Berlin, Hessen und Baden-Württemberg beschrieben, um eine vergleichende Betrachtung zu ermöglichen.

Im Rahmen der vorliegenden Studie über die Situation von geschlossenen Heimen in Oberbayern wird die Sichtweise der Betroffenen sowie die der Kollegen untersucht. Dabei soll aufgezeigt werden, inwiefern geschlossene Einrichtungen in Oberbayern mit ihrem Leistungsangebot heutigen Anforderungen der Sozialpsychiatrie in Bezug auf Gewährleistung und Einhaltung von Qualitätsstandards sowie der Achtung der menschlichen Würde gerecht werden.

Hierfür werden vier Thesen aufgestellt, die anhand der Untersuchungsergebnisse kritisch beleuchtet werden. Diese geben dann in der Diskussion Aufschluss darüber, ob die geschlossene Heimunterbringung heute noch ein zeitgemäßes Angebot ist.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personen­bezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht.

1. Geschichte der Psychiatrie

„Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.“
(Richard Freiherr von Weizsäcker)

Wenn wir die Entwicklungen der heutigen Psychiatrie verstehen wollen und uns mit der Frage auseinandersetzen, ob geschlossene Unterbringung heute noch notwendig und zeitgemäß ist, müssen wir uns mit der Geschichte der Psychiatrie auseinandersetzen.

Die Psychiatrie hat sich als eigene Disziplin innerhalb der Medizin in der Geschichte permanent gewandelt. Dies erfolgte im Kontext der Sichtweise der Gesellschaft des jeweiligen politischen, zeitgeschichtlichen Geschehens. Eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Psychiatrie, in der sich die Haltung und Einstellung gegen­über Menschen mit psychischer Erkrankung ständig verändert haben, lässt uns besser verstehen, warum sich die Psychiatrie bis heute so entwickelt hat, und aus welchen Gründen wir uns den verschiedensten streitbaren und diskussionswürdigen Fragestellungen stellen müssen.

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Psychiatrie macht deutlich, wie unterschiedlich die Wahrnehmung und Bewertung der historischen Entwicklung ausfällt. Bei der Beschreibung und Darstellung der Geschichte spielt die subjektive Haltung der Autoren eine bedeutende Rolle. Teilweise sind die Ausführungen derselben historischen Abläufe sehr widersprüchlich. Eine Ursache dafür kann sein, dass sich bei der Darstellung der Psychiatriegeschichte mehrere Wissenschaften – Medizin, Soziologie, Politikwissenschaft, Sozialgeschichte – miteinander verbinden müssen, die die Phänomene aus der Vergangenheit aus ihrer Sichtweise im Kontext der jeweiligen Zeit beschreiben.

Die Haltung der Gesellschaft zur Psychiatrie spiegelt den Zeitgeist und das Menschenbild der jeweiligen Epoche wieder. Aus heutiger Sicht geht man davon aus, dass die Entstehung psychischer Krankheiten bis zu einem gewissen Anteil biologisch und genetisch begründet ist, aber auch wesentlich durch soziale Faktoren beeinflusst wird. Daher ist anzunehmen, dass das Bestehen von psychischen Erkrankungen so alt sein muss wie die Menschheit selbst.

Die Bezeichnung von Menschen mit psychischer Erkrankung hat sich in der Geschichtsschreibung, dem Gesellschaftsverständnis folgend, verändert. In den nachfolgenden Ausführungen werden daher die in der jeweiligen Epoche gebräuch­lichen Begrifflichkeiten von mir übernommen. Bis heute finden Diskussionen statt, wie Betroffene bezeichnet werden wollen, ohne sich diskriminiert fühlen zu müssen. Bis in die heutige Gegenwart haben Menschen, die von psychischer Erkrankung bzw. von Behinderung betroffen sind, mit Stigmatisierung und deren Auswirkungen zu kämpfen.

1.1 Zeit vor Christus

Bis Ende des 18. Jahrhundert gab es die Psychiatrie als Wissenschaft nicht. Einzig die Chirurgie existierte als medizinischer Fachbereich. Erst ab dem 19. Jahrhundert entwickelte sich eine medizinische Spezialisierung bis hin zu der heutigen akademischen Wissenschaft.

Erste Hinweise auf Geisteskrankheit, ohne darin jedoch als wissenschaftliche Disziplin erkennbar zu sein, finden sich in alten Schriften und medizinischen Handbüchern der Griechen. Geisteskrankheiten hielt man damals in Griechenland für natürlich entstandene Phänomene, die griechische Ärzte in Abhandlungen beschrieben. Diese Schriften waren rein beschreibender Natur, ohne Erkennbarkeit von Vorurteilen. Geisteskrankheit wird in damaligen Schriften als Erkrankung des Gehirns beschrieben, wobei unklar ist, ob von Hippokrates oder einem seiner Schüler verfasst. Lange Zeit wurde angenommen, dass das Herz, das Zwerchfell, aber auch andere Organe der Sitz der Seele seien.[1]

Im 5. Jahrhundert v. Chr. verbanden sich im so genannten Asklepios-Kult ärztliche Kunst und Tempelmedizin. Die für den Heilgott Asklepios errichteten Tempel übernahmen als Wallfahrtsstätten eine Funktion von Kirche und Spital. In einem so genannten Tempelschlaf mit vorangegangenen Bädern und Gebeten fand durch die Erscheinung und der Anweisungen der Gottheit die Heilung statt. Heilung durch Schlaf war über Jahrhunderte hinweg ein Zeichen für die Genesung von Kranken.[2]

Im Altertum bildeten Philosophie und Medizin als Wissenschaft eine Einheit. Aristoteles (384-322 v. Chr.), ein Schüler Platons, hielt das Herz für das Zentrum der Psyche. Durch seine Theorie legte er später das Fundament für die so genannte „Vier-Säfte Lehre“, „die besagte, dass die Gesundheit vom richtigen Verhältnis zwischen Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle abhängig sei. Die schwarze Galle, die „melaina chole“, wurde in Zusammenhang mit der Melancholie gebracht. Man verstand darunter eine ruhig verlaufende Form von Geisteskrankheit im Gegensatz zur Manie, die mit Erregung einherging. Weiter unterschied man die Phrenitis” (Phren ist gleich Zwerchfell), und man verstand darunter Fieberdelir.“[3]

Im 1. Jahrhundert v.Chr. gab es im damaligen Rom keine eigene römische Medizin­wissenschaft. Die bedeutenden Ärzte waren Griechen. Veröffentlichungen über Geisteskrankheiten sind nur spärlich überliefert. Lediglich der römische Enzyklopädist Aulus Cornelius Celsus äußerte sich in seinen Schriften darüber und vertrat die Ansicht, „(…) dass ein Irrer, der etwas Verkehrtes tut, durch Hunger und Schläge gebändigt werden müsse.“[4]

Soranos, zur gleichen Zeit etwa, vertrat den Ansatz einer „Ganzheitsbehandlung“ und war der Ansicht, alle müssten mit einbezogen werden: der Kranke, der Arzt, die Angehörigen und Freunde. Er verordnete nach dem Fasten einen Aderlass, um manische Phasen zu beruhigen, um dann, nach der akuten Phase, durch kräftiges Essen, Spaziergänge und durch Diskutieren sowie geistige Tätigkeiten eine Verbesserung zu erreichen. Auch er war der Ansicht, dass Geisteskrankheiten durch Erkrankungen im Gehirn hervorgerufen werden.

Psychisch Kranke wurden im alten Rom durch Massagen, Diäten, Aderlässe, Schröpfen und Ölumschläge am Kopf geheilt. Durch Brettspiele, Diskutieren, Reisen oder auch Theaterspielen wollte man Anreize schaffen, um die Patienten zu mehr Aktivität zu motivieren.

Geisteskrankheiten galten damals oftmals als unheilbar, was die Mediziner zu einer Ablehnung der Behandlung moralisch legitimierte. Diese Haltung hielt sich bis ins 18. Jahrhundert.

1.2 Die Zeit nach Christus bis ins Mittelalter

Im frühen Christentum wurden die Kranken als Geschöpfe Gottes gesehen und dementsprechend fürsorglich behandelt. Durch Handauflegen eines Gottesmannes sollten sie von ihrer Besessenheit geheilt werden.

Die Gründung der ersten Spitäler erfolgte im frühen Mittelalter.

Im 12. Jahrhundert entstanden in Kairo, Damaskus und auch Granada die ersten Spezialanstalten für Geisteskranke, in denen von einer wohlwollenden Haltung gegenüber den Patienten berichtet wird.[5]

In Deutschland jedoch wurden die Geisteskranken in Häusern wie der Frankfurter „Stocke“ oder den Lübecker „Dorenkisten“, verwahrt. In England wurde das Bethlehem Hospital „Bedlam“ in London 1377 gegründet. Eine andere Vorgehens­weise war, die Irren vor der Stadt in Holzkisten zu stecken oder in die Stadttore einzusperren. Diese beherbergten bis ins 19. Jahrhundert nicht nur Kranke, sondern auch Greise, Bettler, Findelkinder, Pilger und Straffällige.

Die Araber haben als erstes im 8. Jahrhundert in ihren Spitälern gesonderte Abteilungen für psychisch Kranke errichtet. Im Westen gab es erst ab dem 13. Jahrhundert eigene Irrenabteilungen in den Allgemeinspitälern, wie beispielsweise in Paris, London, München, Zürich und Basel.

Die psychisch Kranken wurden anfänglich im Mittelalter als „Kinder Gottes“ angesehen, durften in der Dorfgemeinschaft verbleiben und wurden dort auch respektiert. Spitäler standen allen Hilfsbedürftigen offen, jedoch ohne ärztliche Versorgung.

Im späten Mittelalter entwickelte sich der Glaube, Besessene seien Opfer des Teufels, den es mit Exorzismus, unter Qualen für die Betroffenen, auszutreiben galt. Hexen wurden besonders grausam behandelt, denn diese wurden mit dem Teufel im Bunde gesehen. Seelisch Kranke wurden nicht im Rahmen wissenschaftlicher Schriften abgehandelt, sondern in Pamphleten von Hexenverbrennern, z. B. dem Hexenhammer 1486, dem Handbuch zur Hexenverfolgung. Tausende von psychisch Kranken wurden durch die Inquisition verfolgt, gefoltert und verbrannt. Durch Foltermethoden, die in der Regel die geistige Verwirrung der Opfer zur Folge hatten, wollte man die Besessenheit durch den Teufel beweisen.

Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts ging der Hexenglaube zurück. Es dauerte aber bis 1782, bis in der Schweiz der letzte Hexenprozess stattfand. Einige Ärzte der Renaissance aber erkannten, dass so genannte Hexen oder Besessene nicht vom Teufel oder Dämonen besessen waren, sondern ärztliche Behandlung benötigten.[6] „Johannes Weyer (1515-1588) nahm als einer der ersten Ärzte Stellung gegenüber Dämonologie und Besessenheit.“[7]

1.3 Aufklärung

In der Renaissance wurden so genannte Narrentürme errichtet, die sich in der Nähe der Stadtmauern befanden. Psychisch Kranke wurden als störend empfunden. In einer Kultur, in der die Städte besonders schön und sauber sein sollten, wurden Auffällige, vagabundierende Personen und asoziale Menschen aus den Städten vertrieben. Man glaubte damals, psychisch kranke Menschen seien vom Mond beeinflusst und peitschte diese in Vollmondnächten aus, um dadurch präventiv Gewalttaten zu verhindern. Die Medizin war geprägt von Alchemie, Astrologie und natürlicher Magie.[8]

„Es zeigte sich, dass zwischen religiösen und dämonologischen Vorstellungen einerseits und empirisch-rationalen Theorien der Medizin andererseits in vormodernen Zeiten kein klarer Trennungsstrich gezogen werden kann.“[9]

In dieser Zeit tauchte der berühmte Arzt Paracelsus (1493-1541) auf, der glaubte, dass Geisteskrankheiten auf astrale Einflüsse zurückzuführen seien. Er unterschied zwar in seinen Werken zwischen verschiedenen Krankheiten, begründete aber ihr Vorkommen in den Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde sowie in der Konstellation der Gestirne.[10]

Im 17. Jahrhundert, als die Ursache von psychischer Krankheit nicht mehr allein auf die Dämonologie und auf die Besessenheit durch den Teufel zurückgeführt wurde, wurden die Kranken, Armen, Geschlechtskranken, die Waisen und Prostituierten, aber auch die Geisteskranken kurzerhand eingesperrt und kriminalisiert.

In der Zeit der Aufklärung war die „Vernunft“ der Begriff, der das Menschenbild prägte. Dies hatte zur Folge, dass Erziehungsanstalten errichtet wurden, um das Unvernünftige zu bekämpfen, bzw. um die „Unvernünftigen“ und Unangepassten umzuerziehen. In diesem Fall waren es die „Narren“ bzw. die „Irren“, die zur Vernunft zu bringen waren. „Da der Mensch an sich“ vernünftig sei, müssen solche, die es (noch) nicht sind, erzogen werden, so lautete die damalige Ansicht. In Europa wurden Erziehungsanstalten errichtet, die in England „Workhouse“, in Frankreich „Hôpital général“ und in Deutschland „Zucht-, Arbeits-, Toll- oder Versorgungshäuser“ genannt wurden.“[11]

In dieser Zeit entstand ein neues Krankheitsverständnis, demnach das Irresein heilbar sei. Die Aufgabe des Staates war es, für die Rahmenbedingungen zu sorgen, um die erstmals als eigene Krankheitsgruppe Wahrgenommenen in Irrenanstalten zu behandeln. Frankreich bzw. Paris übernahm die Vorreiterrolle und etablierte die „Irrenheilkunde“.

Die Therapiemaßnahmen im 18. Jahrhundert waren beherrscht von der Idee, man müsse eine vernünftige Norm herstellen. Die Erziehung und Korrekturen im moralischen wie auch im physischen Sinne wurden mit Züchtigungsmitteln wie Verprügeln, Auspeitschen bei der Kinderaufzucht, bei der Disziplinierung von Soldaten, aber auch dem Gefügigmachen von Zuchthäuslern durchgesetzt. In den Irrenhäusern bekam der Arzt dadurch die Rolle des Erziehers und die eines Mediziners, der mit mechanischen und biologischen Korrekturmaßnahmen eingreifen und regulieren sollte. Ein als wirkungsvoll angesehenes Mittel war der „Zwangsstuhl“, ein Heilapparat, eingesetzt durch den amerikanischen Psychiater Benjamin Rush, der als Beruhigungsmittel fungieren sollte.[12] „Die psychiatrische Begründung des Zwangsstuhls als Heilapparat illustriert eindringlich das Bestreben der aufgeklärten Ärzte, Philanthropie, Medizin und Pädagogik bzw. ‚Moral‘ miteinander zu verknüpfen.“[13]

Es entstand ein therapeutischer Ansatz, der sich als moralische Behandlung verstand, und den Pinel (1745-1826) als „régime moral“ oder „traitement moral“ bezeichnete. In England sprach Willis (1718-1807) vom „moral management“, in Italien Chiarugi (1759-1820) von der „cura moral“. Der Arzt war demnach eine Autoritätsperson, der der Patient sich zu unterwerfen hatte, um durch ihn zur Vernunft zurückgeführt zu werden.[14]

Bereits im 17. Jahrhundert begannen Ärzte, genauere Beschreibungen von Verhaltensstörungen anzustellen. Diese wurden allmählich aus medizinischer Sicht betrachtet.

Trotzdem sahen die so genannten Psychiker Geisteskrankheit als eine Erkrankung, die durch Sünden hervorgerufen wird. Mit ihren brutalen Therapiemethoden wollten sie die „Seele erschüttern“. Die Patienten wurden mit Auspeitschen, Schockkuren, dem Eintauchen in eiskaltes Wasser und Schneebäder, durch Zwangsstehen, das Einnehmen von Brechmitteln, durch Abführmittel und Hungerkuren, die zu extremer körperlicher Erschöpfung führten, „behandelt“. Besonders brutal waren das Drehen der Patienten auf einem Drehstuhl, der so lange gedreht wurde, bis das Blut aus der Nase der Betroffenen lief oder das Foltern mit glühenden Eisen und Elektrizitäts­strom.[15]

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden geringfügigere Krankheiten wie Angst, Zwangsneurosen und Depressionen als Nervenkrankheiten bezeichnet, deren Behandlung nicht im Rahmen der Psychiatrie, sondern der Allgemeinmedizin, häufig durch Kurärzte, erfolgte. Der schottische Arzt George Cheyne (1671-1743) beschrieb die so genannte „Englische Krankheit“ (English Malady), die durch hysterische, neurasthenische und hypochondrische Symptome definiert war.[16] „Die Irrenärzte des 18. Jahrhunderts beschäftigten sich nur mit einem winzigen Ausschnitt des breiten Spektrums jener Leiden, die heutzutage unter dem Begriff ‚Psychiatrie‘ zusammen­gefaßt werden. Der gesamte Rest wurde von Allgemeinmedizinern übernommen, die im öffentlichen Bewußtsein möglichst nicht mit Geisteskrankheiten in Verbindung gebracht werden wollten und als Kur- oder Gesellschaftsärzte firmierten.“[17]

Im späten 18. Jahrhundert begannen sich die Mediziner in den Anstalten weiteren Methoden zuzuwenden, die sich auf das methodische Mittel, die Arzt- Patienten-Beziehung, bezogen. Es fand dadurch eine Erweiterung des Behandlungsspektrums über die Verabreichung von Arzneimitteln und körperlichen Prozeduren hinaus statt.

Die ersten Ansätze der Psychotherapie entstanden, nämlich die Erkenntnis, man könne die besondere Beziehung zwischen Arzt und Patienten für den Genesungs­prozess nutzen. Beispielsweise formulierte Pinel die moralische Therapie (1801) „traîtement moral“, im Sinne einer mentalen Therapie. Philippe Pinel leitete die Irrenhäuser „Bicêtre“ und „Salpêtrière“ und befreite die Patienten von ihren Ketten. Er galt damit als Befreier der Irren. Pinel unterscheidet in seinem „Trâité médico-philosophique sur l‘aliénation mentale“ (1801) vier Arten von Geisteskrankheit, nämlich Manie, Melancholie, Demenz und Idiotie. Seine Behandlung erfolgte durch Duschen und Bäder. Zudem praktizierte er nach einem humaneren und thera­peutisch orientierten Ansatz mit den Kranken, z. B. führte er die Arbeitstherapie ein. Obwohl er, wie viele andere auch, nun für eine freiheitlichere Behandlung der psychi­atrischen Patienten eintrat, lehnte er die Zwangsjacke jedoch nicht gänzlich ab.[18]

International entstand ein therapeutischer Optimismus, in Fachzeitschriften wurden Erkenntnisse diskutiert und übersetzt, die Mediziner reisten in andere Länder, um zu sehen, was dort vor sich ging.

Der Mediziner William Battie verfasste 1758 die „Treatise of Madness“, in der er der Anstalt eine therapeutische Funktion zuschrieb, deren Aufgabe die Führung der Patienten, die Absonderung von ihrem gewohnten Umfeld und die Isolationstherapie, in der keine Besuche von außen empfangen werden durften, waren. Battie war der Überzeugung, dass „Irrsein“, wie andere Krankheiten auch, behandelbar sei. Nachdem er im berüchtigten Bedlam acht Jahre lang seine Beobachtungen zu Irren anstellte, gründete er mit dem St. Luke’s Hospital einen Gegenentwurf, in dem er anstelle vom bisherigen „care“ (Aufbewahrung) von „cure“ (Behandlung) sprach. Durch besondere Qualifizierung und ein spezielles Studium wollte er eine bessere Versorgung der Patienten sichern. Erstmals konnten auch Studenten zu Lehr­zwecken und zur Förderung der medizinischen Wissenschaft in den Häusern hospitieren. Battie gilt bis heute als einer der ersten Psychiater.[19]

In Italien erklärte Chiarugi in seinem Werk „Über den Irrsinn“ (1793- 1794), dass die Aufgabe der Asyle nicht die Absonderung von psychisch Kranken sei, sondern deren Heilung.[20]

Jean-Etienne-Dominique Esquirol, ein Schüler Pinels, formulierte und setzte die therapeutischen Ansätze von Pinel um. Unter anderem dessen Idee der Heil­kommune, in der Patienten und Ärzte eine Gemeinschaft bilden. Dies zeigte sich unter anderem auch im Alltag, indem die Ärzte und deren Familie gemeinsam mit den Patienten speisten. Auch Esquirol war von der Wirksamkeit der Isolation überzeugt, die Patienten von ungesunden Einflüssen ihres bisherigen Lebens­umfeldes abzuschotten und damit zur Heilung beizutragen.[21]

In Deutschland war Johann Christian Reil entsetzt über die Zustände innerhalb der Anstalten. Entsprechend dem Kulturgedanken der Aufklärung fragte er nach den Werten der Nächstenliebe, der Bürgerrechte und nach dem Gemeinschaftssinn, der in seinen Augen dort nicht zu finden war. Er forderte die Mediziner auf, etwas dagegen zu unternehmen, und war ebenfalls der Ansicht, dass den Kranken tatsächlich nur innerhalb der Heilanstalten durch physische und psychische Therapien geholfen werden könne. Dabei unterschied er die Patienten in heilbare und unheilbare Fälle und trennte diese auch innerhalb der Anstalt. Reil stand damals für die liberale Strömung der Psychiatrie.[22]

Im Gegensatz dazu stand Ernst Horns, der in der Berliner Charité Stabsärzte ausbildete. Hier herrschten Grundsätze von preußischer Zucht und Ordnung, die sich durch ihren straff geregelten Tagesablauf durchaus auch positiv auf die Genesung der Patienten auswirkte.[23]

In Amerika schrieb Rush, damals Oberarzt im Pennsylvania Hospital und als Vater der amerikanischen Psychiatrie angesehen, die Ursachen für das Irrsein in erster Linie den Blutbahnen des Gehirns zu. Allerdings hatten seine Betrachtungen zu psychologischen Therapien und deren sittlichen und moralischen Kriterien mit der praktizierten Realität in seiner Klinik nichts zu tun. Im Gegenteil, die Kranken waren in kleinen Zellen im Untergeschoß der Anstalt eingesperrt, schliefen auf Stroh und bekamen ihre Mahlzeiten durch ein Loch in der Tür verabreicht. Rush führte den Begriff der Sucht ein und erklärte diese zu einer Form von Krankheit, die man – entgegen der bisherigen Annahme – nicht alleine durch Willen heilen konnte. Ihm zufolge war Abstinenz das einzige Mittel zur Heilung.[24]

Im Zusammenhang mit der industriellen Revolution kann man den Beginn einer selbständigen Psychiatrie sehen. Dieser Begriff der Psychiatrie, den Reil 1816 prägte, bildete eine neue Disziplin.[25] „Irrenärzte beanspruchten für sich das Recht auf den Status einer Gilde, da die Leitung einer Heilanstalt ihrer Meinung nach als Kunst und Wissenschaft der Chemie oder Anatomie gleichzustellen war.“[26]

Vor dem 19. Jahrhundert, einer Zeit, in der es noch keine speziellen Heilanstalten für psychisch Kranke gab oder diese erst langsam im Entstehen waren, oblag es der Familie, sich um die psychisch kranken Angehörigen zu kümmern.

„Auch wenn der ‚Narr‘ mit seinen Begleitern in nahezu allen Volksmärchen oder Bildergeschichten vorkam, bedarf die Vorstellung vom Irren, der schon immer in unserer Mitte gelebt hat, einer Differenzierung. Denn außerhalb Englands hatten die meisten psychisch Kranken das Recht, im Haus ihrer Geburt versorgt zu werden, das heißt, man konnte sie nicht einfach hinauswerfen.“[27]

Trotz allem waren die Lebensumstände für die psychisch Kranken in der familiären Gemeinschaft häufig äußerst gesundheitsgefährdend und menschenverachtend. Bis ins 19. Jahrhundert lebten die Menschen in sehr autoritären und streng organisierten Lebensgemeinschaften. Ererbte Rollen, traditionelle Werte und Traditionen, strenge Sitten und ein an die Jahreszeiten angepasstes Leben bestimmten das Zusammen­leben der Menschen. Diejenigen, die sich an diesen Rhythmus nicht anpassen konnten und als andersartig galten, wurden brutal behandelt und unter schlimmsten Bedingungen im Haus gehalten. Anton Müller, 1798 Leiter der Irrenanstalt im königlichen Julius-Hospital zu Würzburg, hinterließ schaurige Berichte über frisch eingelieferte Patienten. „Ein 16-jähriger Junge zum Beispiel, der jahrelang im Schweinestall seines Vaters angekettet gewesen war, hatte den Gebrauch seiner Glieder und seines Geistes so vollständig verlernt, dass er Nahrung nur noch wie ein Tier aus dem Napf lecken konnte.“ (…) „Ein Mann war von seiner Frau fünf Jahre lang an die Hauswand gekettet worden, bis er seine Beine nicht mehr bewegen konnte. Kehrten diese Menschen nach ihrer Entlassung aus der Anstalt ins Dorf zurück, mussten sie sich darauf gefasst machen, dass ihnen sogar die Kinder nachliefen und Spottverse hinterherriefen.“[28] Wurden sie aus den häuslichen Dorfgemeinschaften vertrieben, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich den damals durch die Straßen Europas ziehenden Bettlern anzuschließen.

In England und auch in Amerika gab es für die Kranken so genannte Arbeits- oder Armenhäuser, in denen diese dann an Pflöcke gefesselt wurden, wenn sie nicht sogar zu Hause in Ställen oder in Kellern eingesperrt waren.[29] „In der Welt ohne Psychiatrie wurden Geisteskranke nicht toleriert oder gar gehätschelt, sondern mit roher Gefühllosigkeit behandelt. Vor dem Aufkommen der Heilanstalten gab es kein Goldenes Zeitalter, kein idyllisches Refugium für alle, die nicht den herrschenden Normen entsprachen.“[30]

Seit dem Mittelalter gab es Asyle in den Städten, als Gefängnisse, Arbeits- oder Armenhäuser oder als Hospize für Kranke, Kriminelle und Obdachlose konzipiert, und Häuser speziell für Geisteskranke, in denen die Menschen in reinen Verwahranstalten unter schrecklichsten Bedingungen interniert wurden.

Im 18. Jahrhundert gab es in England neben den Asylen und Wohlfahrts­einrichtungen auch zahlreiche Privatanstalten. Diese entweder mit einer geringen Anzahl von Patienten in den Privathäusern von Ärzten oder aber auch als Anstalten, mit teilweise vier- bis fünfhundert Patienten, jedoch unter kaum besseren Bedingungen als in den öffentlichen Anstalten. Auch hier gab es für die Patienten keinerlei Therapieangebote. Es ging lediglich darum, diese Menschen zu verwahren, weil die Angehörigen es als Zumutung empfanden und sich der kranken Familienmitglieder schämten.

In Frankreich verfügte Ludwig XIV. in einer Verwaltungsreform die Errichtung von zwei großen Hospizen für „Kranke, Kriminelle, Obdachlose und Irre“. Männer und Frauen waren getrennt untergebracht, die Männer im so genannten Bicêtre und die Frauen im Salpêtrière. Bis zum 19. Jahrhundert fand keine Umgestaltung in eine Heilanstalt statt, die Insassen wurden angekettet, ausgepeitscht und lebten in Schmutz und unter äußerst unhygienischen Bedingungen. Der Anteil an psychisch kranken Menschen in diesen Hospizen war jedoch verhältnismäßig gering. Neben geistig Zurückgebliebenen und Epileptikern wurden diese hauptsächlich in Armenhäusern untergebracht. Die öffentliche Hand übernahm hier die Aufgabe, sich um die psychisch Kranken zu kümmern.

Im übrigen Mitteleuropa teilten sich Staat, Kirche und die Gemeinden diese Aufgabe in der Unterhaltung von Asylen, Spitälern, Armenhäusern und Gefängnissen. Auch hier waren die Zustände keineswegs besser.

In Amerika war es anfänglich auch ein „Problem“, welches die Familien, lediglich mit finanzieller Hilfe unterstützt, selbst zu lösen hatten, bis dann 1729 das neu gegründete Bostoner Armenhaus eine erste psychiatrische Abteilung, abgetrennt von den anderen Bereichen, einrichtete. Im 18. Jahrhundert gab es in ganz Amerika nur zwei Hospitäler: das Pennsylvania Hospital und das 1791 gegründete New York Hospital.

Die Menschen mit psychischer Erkrankung wurden damals unter den unwürdigsten Bedingungen verwahrt. Als Gefahr und Last für die Gesellschaft gesehen, wurden sie weggesperrt.[31]

Die Psychiatrie als eigene Disziplin entstand erst mit dem Aufkommen erster Entwicklungen und Bestrebungen innerhalb der Anstalten, nach therapeutischen Mitteln zu suchen, um diesen Menschen zu helfen. Den durch die französische Schule um Pinel und Esquirol um 1800 begründeten Anfängen der Psychiatrie folgte Wilhelm Griesinger (1817-1868), der eine Verfassung der Psychiatrie, die „Magna Charta“, entwarf. Er entwickelte einen Reformplan der psychiatrischen Versorgung und legte die Psychiatrie als klinisches Fach der Medizin als Wissenschaft fest. Dabei verband er Wissenschaft und Praxis und zeigte psychische Störungen sehr anschaulich und unvoreingenommen hinsichtlich einer Polarisierung somatisch versus psychisch auf. Darüber hinaus entwickelte er biologisch-psychiatrische Thesen und legte die Ursache von psychischen Erkrankungen als Erkrankungen des Gehirns fest.[32] „Griesinger gilt als Vater der Neuropsychiatrie, d.h. er betonte die Zusammengehörigkeit von Neurologie und Psychiatrie. Psychische Krankheiten waren für ihn immer Erkrankungen des Gehirns.“[33] Dadurch wollte er erreichen, dass psychisch Kranke allen anderen Kranken gleichgesetzt wurden und ebenso ein Recht auf ärztliche Behandlung hatten. Zur Behandlung forderte er kleine Stadtasyle mit kleineren Einheiten und kürzerer Aufenthaltsdauer. Für eine längere Bleibedauer empfahl er Aufenthalte auf dem Land, was der damaligen Auffassung, Isolation und Abstand von der bisherigen Umgebung führe zur Genesung, folgte. Er war Gegner von Zwangsmaßnahmen und von dem „non-restraint-System“ überzeugt.[34]

Bis ins ca. 18. Jahrhundert waren Medizin und Philosophie miteinander verbunden, so dass die Vorstellung herrschte, Krankheiten würden durch körperliche, seelische und soziale Faktoren verursacht. Durch die Ansicht, psychische Krankheiten seien Krankheiten des Gehirns, erhielten die Betroffenen zwar das Anrecht auf medizinische Behandlung, die psychosozialen Bedingungen verloren allerdings dadurch an Bedeutung.

Ausgehend von England kam es im 19. Jahrhundert zu ersten sozialpsychiatrischen Strömungen. Es entstand die non-restraint-Bewegung, als deren Auslöser ein Todesfall eines Patienten durch die Zwangsjacke galt. Diese Bewegung lehnte Zwang jeglicher Art als Bestandteil der Behandlung ab. Robert Gardiner Hill (1811-1878) galt als Begründer dieser Bewegung, die aber durch John Conolly (1794-1866) vorangetrieben wurde.[35] „ Immer wieder betonte Conolly, dass der Zuwendung zum Kranken und der liebevollen Pflege größte Bedeutung zukommt. Als einzigen „Zwang“ ließ Conolly eine vorübergehende Isolierung in einem Polsterzimmer gelten.“[36]

Die Psychiatrie erfuhr von jeher eine Spaltung ihrer Disziplin. Die Erklärungsmodelle über die Entstehung von psychischen Erkrankungen basierten entweder auf biologischen, neurowissenschaftlichen Grundlagen oder wurden auf die Einwirkung von ungünstigen psychosozialen Faktoren zurückgeführt. Dies führte später zu der Zweiteilung in Somatiker einerseits und Psychiker andererseits, später als Romantiker bezeichnet. „Die Spannungen in der Psychiatrie entwickelten sich also nicht zuletzt aus den grundlegenden Unterschieden zwischen der auf die Vernunft setzenden sozialen und intellektuellen Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts einerseits und in der Romantik des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts andererseits, die das Gefühl in den Vordergrund stellte.“[37]

Ein bedeutender Vertreter der Romantiker war der Leipziger Professor Johann Christian Heinroth (1773-1843), der die Leidenschaften des Menschen verantwortlich für die Erkrankung der Seele machte. In seinem „Lehrbuch der Seelengesundheits­kunde“ beschreibt er 1823 seine psychosoziale Haltung aus einer Ausrichtung von Moral und Sünde heraus.[38]

1.4 Jahrhundertwende

Bis zu der Zeit von Kraepelin jedoch dominierte der biologische, genetische Ansatz der Psychiatrie. Für Emil Kraepelin (1856-1926) „(…) stand die klinische Beob­achtung des Gesamtverlaufs einer Krankheit im Vordergrund. Er schuf die psychiatrische Nosologie, die noch heute weitgehend Gültigkeit hat.“[39] Kraepelin entwickelte die Begriffe „Dementia Praecox“ und das „manisch-depressive Irresein“ (heute als affektive Störungen bezeichnet). Nach seiner Forschungsreise nach Java galt er auch als Vater der transkulturellen Psychiatrie. 1917 gründete er in München das Kaiser-Wilhelm-Institut, das heutige Max-Planck-Institut. Kraepelin ist aufgrund seiner in seinen Schriften zur Degenerationslehre 1918 „Zur Entartungsfrage“ und 1918 „Geschlechtliche Verirrungen und Volksvermehrung“ geäußerten Einstellung bis heute umstritten.

Kraepelin gehörte wie Auguste Forel (1848-1931) und Eugen Bleuler (1857-1939) auch zu den bekanntesten Gegnern des Alkoholismus als Krankheit; ebenso Karl Bonhoeffer (1868-1948), der sich mit den Folgen und Problemen des Alkoholismus befasste.

Pierre Janet (1859-1947) aus Paris prägte den Ausdruck „unterbewusst“. Er entdeckte, dass traumatische Erinnerungen neurotische Symptome hervorrufen können, und dass diese durch Hypnose und das dadurch wieder Bewusst-Werden, eine Heilung eingeleitet werden konnte. In seiner Arbeit „Les Médications Psychologiques“ beschrieb er damit eine Systematik der Psychotherapie.

Siegmund Freud (1856-1939) galt als Begründer der Psychoanalyse. Auch er versuchte durch Hypnose, später dann auch durch freies Assoziieren, an das Unterbewusste zu gelangen, um damit „ arbeiten“ zu können. Ihm als Gründer der Psychoanalyse folgten später eminente Schüler wie Alfred Adler (1870-1937) und Carl Gustav Jung (1875-1961).

Das Verbot der Psychoanalyse in Deutschland und Österreich 1933 durch den Nationalsozialismus bewirkte zunächst eine jähe Unterbrechung der Entwicklung der Psychoanalyse. Viele jüdische Psychoanalytiker mussten emigrieren, was zur Folge hatte, dass diese Methode sich in den Vereinigten Staaten weiterentwickeln konnte. Dort erlangte sie nun auch für die Psychiatrie einen hohen wissenschaftlichen Stellenwert. In Deutschland hingegen gewann die Psychoanalyse erst wieder im Zuge der Studentenbewegung 1968 an Bedeutung; dies vor allem hinsichtlich gesellschaftskritischer Betrachtungen. Nun wurde sie sogar an den Lehrstühlen der Universitäten und in den Kliniken etabliert und gewann bis in die 1980er Jahre weiter an Stellenwert.

Anfang 1900 legten Freud, Bleuler und Kraepelin durch die Überwindung der Grenzen zwischen Psychoanalyse und klinischer Psychiatrie die Grundlagen für die moderne Psychiatrie. Bleuler berücksichtigte dabei die Aspekte der Psychodynamik und belegte die Synthese in seiner Schizophrenie-Lehre. Er beobachtete über einen längeren Zeitraum in engem Kontakt Schizophrenie-Kranke, beschrieb deren Symptome und stellte einen Zusammenhang zu psychologischen Erklärungen und Ursachen her. Dabei prägte er die Begriffe „Autismus“ und „Ambivalenz“, wie sie auch heute noch geläufig sind. Freud und Bleuler gaben zusammen mehrere Bände des „Jahrbuches für Psychoanalyse“ heraus. Trotz Bleulers später eher kritischen Haltung gegenüber Freuds Theorien verteidigte dieser die Bedeutung der Psycho­analyse für die Psychiatrie und war der Überzeugung, dass durch die Psychoanalyse ein Verständnis für psychotische und schizophrene Symptome entstehen kann und damit ein verständnisvollerer Umgang mit den Kranken erreicht wurde. Er verband damit Psychoanalyse und Psychiatrie.[40]

Die Wurzeln der durch die Nationalsozialisten propagierten Entartungs- und Rassenlehre gehen zurück bis in die Zeit des 18. Jahrhunderts, in der Schwache oder Kriminelle als „entartet“ bezeichnet wurden und funktionelle Gesundheits­störungen auf erbliche Grundlagen zurückgeführt wurden; unter anderem auch durch Pinel und Equirol. Im 19. Jahrhundert entstanden die Theorien der genetischen und biologischen Sichtweisen der Neurowissenschaften, die später im Dritten Reich zu den dramatischen Folgen führten. Die um 1900 aufkommende Erbforschung bestärkte die bereits bestehende Degenerationslehre noch und legitimierte im Zusammenhang mit dem Sozialdarwinismus und der Rassenlehre die massenhafte Vernichtung von psychisch Kranken, behinderten Menschen, Juden, Homosexuellen, Sinti und Roma durch Euthanasie, Zwangssterilisationen und Ermordung. Aus der Zoologie und der Tierzucht leitete man den Begriff des „Ausmerzens“ ab, der aus der Sprache der Schäfer stammte und das Töten der schwachen Schafe im März bezeichnete.[41] Ein Vertreter dieser Theorie war Benedicte-Augustine Morel (1809-1873), der erklärte, dass sich die immer weiter ansteigende Kriminalität und die zunehmenden Krankheiten wie Tuberkulose, Alkoholismus, Epilepsie nicht nur durch Vererbung weiterverbreiten, sondern auch noch innerhalb eines Stammbaums verstärken sollten. Er war der Ansicht, dass dieser Teil der Gesellschaft den Fortschritt der gesunden Bevölkerung behindere und erklärte diese Theorie nicht nur auf biologischer Grundlage, sondern auch aus theologischer Sicht. „Es handele sich um Abweichungen vom gottgewollten Menschenbild (‚type primitive‘), nämlich infolge des Sündenfalles. Durch Häufung solcher progressiver Familienniedergänge, so Morel, komme es zu einer Degeneration des Menschengeschlechtes.“[42]

Krafft-Ebing griff 1860 diese Theorie auf, indem er die Degeneration als Ursache für Kriminalität ansah, und bezeichnete in seinem 1886 erschienenen Lehrbuch über die Degenerationstheorie, die „Psychopathia Sexualis“, unter anderem die Homo­sexualität als degeneriert.

In Frankreich vertrat Valentin Magnan, ein Sozialdarwinist, ebensolche Sichtweisen. Er meinte, das Überleben einer Gesellschaft müsse dadurch gesichert werden, dass man solch degenerierte Erblasten vernichte, und war der Ansicht, die Gesellschaft müsse sich im Sinne der Selbstverteidigung sozialhygienisch verhalten.

Auch in England verbreiteten Sankey und 1870 Maudsley diese Theorien.

In der deutschen Psychiatrie machte sich Paul Julius Möbius (1853-1907) einen Namen, indem er den Begriff „endogen“ einführte und dadurch das Endogenitäts­denken aus der Degenerationslehre ableitete.

Die Verknüpfung der Degenerationslehre, des Sozialdarwinismus und der Eugenik gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Westeuropa, aber auch in Nordamerika basierten auf biologischen Untergangsängsten und Kulturpessimismus. In der Zeit des Imperialismus und später des Nationalismus bestimmte das Degenerations­denken durch Rassenhygiene und einer dadurch begründeten Ungleichheit der Rassen den damaligen Zeitgeist.[43]

Der englische Arzt James Cowles Prichard (1786-1848) war der Meinung, „Verbrecher seien Degenerierte, das heißt hinter dem entwicklungsgeschichtlichen Stand des Menschengeschlechtes zurückgebliebene Individuen. Sie seien demnach in einem zweifachen Sinne degeneriert: als psychisch gestörte und als sozial auffällig gewordenen Menschen. Diese Stigmata haften den psychisch kranken Tätern bis heute an.“[44]

Der Darwinismus, unabhängig von der Degenerationslehre entstanden, beruft sich auf den Biologen Charles Robert Darwin (1809-1882). Darwin formulierte die Thesen, den Kampf ums Dasein „struggle for existence“ und die Zuchtwahl „natural selection“. Diese Prinzipien, die auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge übertragen wurden, führten zu einer Entwicklung des Sozialdarwinismus, der durch Ernst Haeckel, einen Zoologen und Naturphilosophen (1834-1919), verbreitet wurde und sich später zur Eugenik weiterentwickelte.

Im Zuge der Industrialisierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts verbreitete sich das eugenische Denken, welches besonders unter Ärzten Anklang fand. Daraus entwickelten sich auch die Ideen zur Rassenhygiene, die für die Nationalsozialisten die politische Handlungsgrundlage bildeten.[45] Als einer der Begründer der modernen Eugenik gilt Francis Galton (1822-1911), der in seinem Standardwerk „Hereditary genius“ die Auffassung vertrat „(...) die menschliche Rasse könne durch Steuerung der Zeugung höher gezüchtet werden: insbesondere sei die Fortpflanzung geistiger Eliten zu fördern, die Fortpflanzung ‚Ungeeigneter‘ (engl. unfit) dagegen sei zu verhindern.“[46] In England gründete 1908 Galtons die „Eugenics Education Society“; in Deutschland gab Alfred Ploetz (1860-1949) das „Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie“ heraus, und der Schweizer August Forel hielt 1910 einen Vortrag über „menschliche Zuchtwahl“. Zahlreiche Psychiater hingen in dieser Zeit bereits Rassenideologien nach.

1.5 Nationalsozialismus

Der Freiburger Professor Alfred Hoche, der mit an einer Rechtfertigung für Rassenhygiene beteiligt war, und Ernst Rüdin (1874-1952) als Beisitzer des Erbgesundheitsgerichts (1934) und Vorsitzender der Vereinigung der ursprünglichen „Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie“, der „Deutschen Gesellschaft für Neurologie“ und der „Gesellschaft für Rassenhygiene“, trugen wesentlich zu der Entwicklung im Nationalsozialismus bei.[47] Rüdin war zudem maßgeblich an dem Ausbau des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses beteiligt: „Erbkrank im Sinne des Gesetzes war, wer an folgenden Krankheiten litt: 1. an angeborenem Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. zirkulärem Irresein (manisch-depressiv), 4. erblicher Fallsucht, 5. erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), 6. erblicher Blindheit, 7. erheblicher Taubheit, 8. schwerer erblicher, körperlicher Missbildung und 9. schwerem Alkoholismus.“[48] „Die schicksalhafte Idee der Degeneration wurde nach und nach von Eugenikern aufgegriffen: von Sozialhygienikern, die entschlossen waren, ‚Schwachsinn‘ durch Sterilisation auszurotten, und von faschistischen politischen Kräften, die darin eine Chance sahen, ihren gewalttätigen Haß gegen ‚entartete‘ Gruppen wie Juden und Homosexuelle auszuleben. Für diese Entwicklung trägt die Psychiatrie Verantwortung.“[49]

Eine weitere verhängnisvolle und ethisch-moralisch fragwürdige Situation für die Psychiatrie stellte sich bereits vor und während des Ersten Weltkrieges durch die Verarmung der Bevölkerung, insbesondere der Unterschichten, infolge der Industrialisierung ein. „Die Weltwirtschaftskrise ließ wenig Hoffnung aufkommen. Es wurde allgemein gespart, und man rechnete aus, wie viel ein über Jahrzehnte hospitalisierter Behinderter die Allgemeinheit koste. Viele Gesunde sahen daher die psychisch Kranken und Behinderten als unnütze Esser, wenn nicht als Parasiten an.“[50] Im ersten Weltkrieg führte das zu dem Einstellen der Lebensmittellieferungen in die Anstalten. Unzählige Patienten verhungerten. „Schätzungsweise sind im Ersten Weltkrieg 70 000 psychisch Kranke an Hunger gestorben, die Anstalten leerten sich sichtlich.“[51]

Die Verbreitung der Degenerationstheorien hatte noch eine weitere Konsequenz: Der Staat fühlte sich mehr und mehr verpflichtet, so genannte degenerierte minder­wertige Personenkreise in Anstalten zu separieren, um die übrige Bevölkerung zu schützen und eine weitere Ausbreitung von vermeintlicher Minderwertigkeit zu verhindern. Die Zahl der Insassen der Anstalten erhöhte sich dadurch drastisch, was zu steigenden Kosten für den Staat führte und die Frage nach der ökonomischen Vertretbarkeit dieser in der Gesellschaft aufwarf. Es wurden Vergleiche angestellt, welche Kosten die Behinderten, Waisen, Zuchthäusler, Geisteskranken, Armen und sämtliche Einrichtungen der Privatwohltätigkeiten verursachten. In diesem Kontext entstand 1920 die Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form.“ des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche. Auch Hoche stellte Berechnungen an, was diese „Ballastexistenzen“ für Kosten verursachen und begründete die Legitimation zu diesen Überlegungen mit dem stark geschwundenen Wohlstand durch den 1. Weltkrieg, der neue Mittel legitimiere, um Kosten zu senken.

Einen weiterführenden Ansatz entwickelte Hermann Simon (1867-1947), deutscher Psychiater, der als Direktor der Provinzheil- und Pflegeanstalt Warstein 1905 und später 1919 der Provinzheil- und Pflegeanstalt Gütersloh (heute LWL-Klinik Gütersloh) die moderne Arbeitstherapie begründete. Er organisierte innerhalb der Anstalten geregelte Arbeitseinsätze. Diese sollten seiner Auffassung nach einen günstigen Einfluss im Sinne einer aktivierenden Krankheitsbehandlung auf die Kranken haben. Dabei unterschied er drei Arten der menschlichen Gesellschaft: Diejenigen, die die tragende Grundlage der Gesellschaft bildeten und sich engagiert um die Schaffung eines Mehrwertes der Gesellschaft bemühten; jene, die keinen Mehrwert herstellten und daher nutzlos waren, und jene wie Kranke, Krüppel, Arbeitslose und Kriminelle, die darüber hinaus auch noch mehr Kosten für die Gesellschaft verursachten. Durch seine Haltung als überzeugter Sozialdarwinist und Erbbiologe befürwortete er Zwangssterilisation bis hin zur Beseitigung von „Ballastexistenzen“ und begrüßte daher die Machtübernahme Hitlers. Durch die Definition des „Personenkreises Minderwertiger“ legte er mit vielen anderen die Grundlage für die Euthanasie-Programme im Nationalsozialismus.[52] Nur zwei Monate nach der Machtergreifung Hitlers 1933 wurde das Erbgesundheitsgesetz eingeführt, welches die Zwangssterilisation legitimierte. In diesem entschied ein Erbgesundheitsrichter über die Durchführung von Sterilisationen, die bei Verweige­rungen der Betroffenen bis hin zu Zwangseinweisungen in die Psychiatrie führten.

Es fand eine Kartierung der gesamten Bevölkerung statt, bei der ein spezielles Team aus „Sippenärzten“ alle Auffälligkeiten bis zurück in die vierte oder fünfte Generation aufzuspüren hatte.

1939 ermächtigte Hitler seinen Reichsarzt Karl Brandt zu der Aktion T4, benannt nach der in der Tiergartenstraße 4 in Berlin gelegen Zentraldienststelle T-4. Alle Anstaltsleiter wurden nach Berlin geladen, um den Euthanasieerlass zu hören. Die Anstaltsleiter wurden dazu aufgefordert, Fragebögen für jeden Patienten nach drei Kriterien auszufüllen: 1. Nicht in der Lage zu arbeiten; 2. Nicht Arier; 3. Forensischer Patient.

Vierzig so genannte T4-Gutachter in der Zentrale waren verantwortlich für die Umsetzung. Sie teilten bei der Auswertung der Karteikarten in „Weiterleben“ (blaues Kreuz) oder „Töten“ (rotes Kreuz) ein. Ein wichtiges Kriterium bei der Beurteilung war die Heilbarkeit und die Arbeitsfähigkeit der Betreffenden.[53] Anstalten wurden daraufhin geräumt, um sie zwischen 1939 und 1941 als Euthanasie-Tötungs­anstalten umzufunktionieren. Die Patienten wurden über gezielte Mangelernährung und Medikamentenüberdosierungen geschwächt und dann durch Vergiftung, Vergasung und Folter ermordet. Zur Vertuschung wurden in den angeschlossenen Standesämtern dann Totenscheine mit natürlichen Todesursachen ausgestellt. Bis zur Mitteilung des Todes an die Angehörigen wurden die Kosten für Pflege und Unterkunft weiter eingefordert, obwohl die Betreffenden schon lange getötet waren. Durch diese Inrechnungstellung von angeblich angefallenen Kosten fand so eine Bereicherung der Anstalten statt.[54] „Unter den Betroffenen waren außer den psychisch Kranken und geistig Behinderten auch „Asoziale” und „Landstreicher”, (…). Im Laufe der T4 Aktion wurde die Abgrenzung immer durchlässiger.“[55] So waren bald auch Alte, Tuberkulosekranke, Fremdarbeiter, Juden und Homosexuelle betroffen und wurden systematisch getötet. Die Euthanasie erfolgte nach folgendem Ablaufplan: Erfassung – Begutachtung – Abtransport – Tötung – Verbrennung – Irreführung und Bereicherung.

Nach August 1941 wurde das Massenmorden in diesen Anstalten eingestellt. Die Aktion T4 wurde zwar offiziell beendet. In den Anstalten jedoch wurde die Euthanasie durch Injektionen mit Scopolamin oder Luminal oder durch die so genannte E-Ernährung (eine besondere Diät, die zum Tode führte) fortgesetzt.

In der Zeit des Nationalsozialismus kamen die ersten wirkungsvollen biologischen Behandlungstherapien auf: Sakel 1933 mit seiner Insulinkomatherapie, Meduna 1935 mit der Cardiazolkrampftherapie und Bini sowie Cerletti 1937 mit der Elektro­krampftherapie. Diese Therapien dienten unter anderem auch als Erklärungs- und Rechtfertigungsgrundlage, dass man alles unternehme, um Heilung zu erzielen, diese aber aufgrund ungünstiger erblicher Vorbelastungen nicht greifen könnten.[56]

1.6 Entwicklungen in der Nachkriegszeit

In den 1945 beginnenden Nürnberger Ärzteprozessen sollte eine Aufarbeitung der Gräueltaten erfolgen. 1946-1947 fanden mehr als 40 Euthanasieprozesse statt, in deren Folge einige Todesurteile, unter anderem auch über Dr. Brandt, ergingen. Allerdings dauerte es bis 1965, bis die wesentlichen Fakten der Vernichtungs­aktionen bekannt wurden. Viele der Täter verblieben jedoch an ihren Tatorten. Insgesamt aber war die Psychiatrie bei der Aufarbeitung der Vergangenheit von der Gesellschaft ausgenommen. Das Personal in den Anstalten war knapp, daher ermöglichte man Heimatvertriebenen durch das Angebot von Schnellkursen, dort bei guter Bezahlung zu arbeiten.

Die Situation psychisch Kranker war in Politik und Öffentlichkeit bis in die 70er Jahre hinein kaum von Interesse.

In den 1950er Jahren gewannen die Menschenrechte mehr und mehr an Bedeutung. Strömungen des Existenzialismus (Jean-Paul Sartre) nahmen vermehrt Einfluss auf die Gesellschaft, die individuelle Verantwortung des Einzelnen wurde hervor­gehoben. Dadurch entstand eine Enthierarchisierung innerhalb der Gesellschaft: Jeder dürfe so handeln, wie er es für richtig halte, solange er andere nicht einschränke. Die Rechte des Einzelnen traten in den Vordergrund. Die Demokrati­sierung und die Deinstitutionalisierung der Gesellschaft standen nun im Fokus und waren Themen zentraler Diskussionen.

Die Psychiatrie der Nachkriegszeit stagnierte in ihrer Entwicklung in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. In den Nachbarländern entstanden während­dessen die ersten halbstationären Einrichtungen und ambulanten Betreuungs­stationen.[57]

Durch die Entwicklung von ersten Neuroleptika und Antidepressiva fand eine tief­greifende Veränderung der Therapieansätze in der Psychiatrie statt. 1948 wurde das Lithium mit seiner therapeutischen Wirkung entdeckt und seit den 50er Jahren in den Kliniken eingesetzt, 1974 das erste atypische Neuroleptika Clozapin. In den 90er Jahren folgten dann die Synthese neuer Neuroleptika und weiterer Antidepressiva. „Doch letztendlich war die Tatsache, daß Irrsinn am Ende des 20. Jahrhundert nicht mehr so erschreckend empfunden wurde wie früher, vor allem der Psychopharma­kologie zu verdanken. Die Menschen waren keineswegs verständnisvoller oder toleranter geworden, vielmehr hatte es die Medikamentenrevolution ermöglicht, daß die Symptome psychischer Krankheiten abgebaut oder ganz zum Verschwinden gebracht werden konnten und man sich deshalb vor psychisch Kranken nicht stärker zu fürchten brauchte als vor einer Person, die sich den Arm gebrochen oder eine Beule am Kopf zugezogen hatte.“[58]

[...]


[1] Haenel, 1982, vgl. S. 18

[2] Haenel, 1982, vgl. S. 18

[3] Haenel, 1982, S. 19

[4] Haenel, 1982, S. 20

[5] Haenel, 1982, vgl. S. 20 f.

[6] Haenel, 1982, vgl. S. 20 ff.

[7] Haenel, 1982, S. 22

[8] Haenel, 1982, vgl. S. 23

[9] Schott, Tölle, 2006, S. 26

[10] Schott, Tölle, 2006, vgl. S. 26

[11] Haenel, 1982, S. 25

[12] Schott, Tölle, 2006, vgl. S. 48 ff.

[13] Schott, Tölle, 2006, S. 51

[14] Schott, Tölle, 2006, vgl. S. 51

[15] Haenel, 1982, vgl. S. 26

[16] Schott, Tölle, 2006, vgl. S. 48

[17] Schott, Tölle, 2006, S. 49

[18] Schott, Tölle, 2006, S. 59 ff.

[19] Shorter, 1999, vgl. S. 25

[20] Shorter, 1999, vgl. S. 26

[21] Schott, Tölle, 2006, vgl. S. 62 f.

[22] Shorter, 1999, vgl. S. 31

[23] Shorter, 1999, vgl. S. 32 f.

[24] Shorter, 1999, vgl. S. 33 ff.

[25] Shorter, 1999; vgl. S. 36

[26] Shorter, 1999, vgl. S. 37

[27] Shorter, 1999, S. 15

[28] Shorter, 1999, S. 15

[29] Shorter, 1999, vgl. S. 13 ff.

[30] Shorter, 1999, S. 17

[31] Shorter, 1999, vgl. S. 15 ff.

[32] Schott, Tölle, 2006, vgl. S. 59 ff.

[33] Haenel, 1982, S. 28

[34] Schott, Tölle, 2006, vgl. S. 76 ff.

[35] Haenel, 1982, vgl. S .29 f.

[36] Haenel, 1982, S. 29

[37] Shorter, 1999, S. 55

[38] Shorter, 1999, vgl. S. 55 ff.

[39] Haenel, 1982, S. 31

[40] Haenel, 1982, vgl. S. 26 ff.

[41] vgl. v.Cranach, 2008, Vorlesungsmitschrift

[42] Schott, Tölle, 2006, S. 102

[43] Schott, Tölle, 2006, S. 100 ff.

[44] Schott, Tölle, 2006, S. 106

[45] Schott, Tölle, 2006, vgl. S. 107 f.

[46] Schott, Tölle, 2006, S. 109

[47] Schott, Tölle, 2006, vgl. S.110

[48] Haenel, 1982, S. 164

[49] Shorter, 1999, S. 155

[50] Schott, Tölle, 2006, S. 170

[51] Schott, Tölle, 2006, S. 174

[52] Schott, Tölle, 2006, vgl. S. 174

[53] vgl. v.Cranach, 2008, Vorlesungsmitschrift

[54] Schott, Tölle, 2006, vgl. S. 99-178

[55] Schott, Tölle, 2006, S. 178

[56] Shorter, 1999, vgl. S. 326 f.

[57] v.Cranach, 2008, vgl. Vorlesungsmitschrift

[58] Shorter, 1999, S. 485

Ende der Leseprobe aus 371 Seiten

Details

Titel
Ist geschlossene Unterbringung zeitgemäß?
Untertitel
Eine explorative Studie zur Untersuchung von geschlossenen Einrichtungen der Psychiatrie in Oberbayern
Hochschule
Hochschule München
Veranstaltung
Sozialpädagogik, Mental Health
Note
"-"
Autor
Jahr
2012
Seiten
371
Katalognummer
V202753
ISBN (eBook)
9783656321255
ISBN (Buch)
9783656322320
Dateigröße
7087 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
geschlossene Unterbringung, geschlossene Heime, Psychiatrie
Arbeit zitieren
Monika Lynn Berger (Autor:in), 2012, Ist geschlossene Unterbringung zeitgemäß?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/202753

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