Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
0 Einleitung
1 Theoretische Begrifflichkeiten ihrer Theorie
1.1 Macht und Gewalt im Allgemeinen
1.2 Macht und Gewalt in Bezug auf Revolutionen
2 Anwendung auf zwei praktische Beispiele: Revolution in Ägypten
2.1 Räumung des Tahrir-Platzes in Kairo
2.2 Die Rolle der Anhänger und Unterstützer des Staates und der Herrschenden
3 Fazit
Literaturverzeichnis
0 Einleitung
„Macht gehört in der Tat zum Wesen aller staatlichen Gemeinwesen, ja aller irgendwie organisierten Gruppen, Gewalt jedoch nicht“ (Arendt 1970: 52).
Hannah Arendt, eine zentrale Denkerin des 20. Jahrhunderts, die selbst durch den Zweiten Weltkrieg und die Studentenbewegung geprägt wurde, differenziert folglich zwischen den Begriffen Macht und Gewalt. Diese Unterscheidung und ihre Definition von Macht sind in der Politischen Theorie jedoch nicht unumstritten:
Unter den Begriffen, mit denen Basisphänomene unserer Gesellschaft bezeichnet werden, ist der Begriff der Macht besonders unklar und kontrovers. Die Vielzahl von Versuchen, Macht genauer und möglichst ultimativ zu bestimmen, hat zu immer neuen Anläufen geführt und bleibt im Ergebnis so unabgeschlossen wie eh und je. (Göhler 2011: 224)
Dieses Zitat deckt sich mit den im Seminar gewonnen Erkenntnissen: Es existieren diverse unterschiedliche Auffassungen von Macht – von repressiven über produktive und kommunikative Interpretationen. In dieser Hausarbeit soll versucht werden, das theoretische Machtkonzept von Hannah Arendt zu beschreiben und zu analysieren. Diese normative Theorie ist besonders interessant, weil Arendt von einem produktiven und kommunikativen Machtbegriff ausgeht sowie Macht und Gewalt unterscheidet und sie sich damit gegen bereits existierende, repressive Machtbegriffe beispielsweise von Max Weber stellt. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, was passiert, wenn Macht und Gewalt im Rahmen von Revolutionen direkt aufeinandertreffen, wenn HerrscherMachtum jeden Preis, mit allerGewalt, erhalten wollen – ist die Arendt’sche Theorie in diesem Fall noch anwendbar? Reichen ihre Überlegungen für die Erklärung von zwei praktischen Beispielen aus diesem Kontext aus?
Um diese Fragen zu beantworten, werden in dieser Hausarbeit zunächst die theoretischen Ideen von Hannah Arendt zu den zentralen Begriffen Macht und Gewalt untersucht sowie mit den Auffassungen von anderen bedeutenden Denkern wie Voltaire und Weber verglichen. Anschließend werden diese theoretischen Erkenntnisse auf zwei reelle Beispiele aus dem aktuellen Konflikt in Ägypten, der Teil desArabischen Frühlingsist und es mittlerweile ausreichend zuverlässige Dokumentationen der Geschehnisse vor Ort gibt, anzuwenden. Anhand dieser Analyse kann kritisch geprüft werden, inwiefern Arendts Überlegungen zutreffen und in welchen Fällen Lücken oder Widersprüche in ihrer Argumentation auftreten. Schließlich werden alle zentralen Erkenntnisse in einem Fazit zusammengefasst, eine abschließende Bewertung des Arendtschen Machtbegriffs vorgenommen und ein Ausblick über offen gebliebene Fragen gegeben.
1 Theoretische Begrifflichkeiten ihrer Theorie
In diesem Kapitel werden die zentralen Begriffe Macht und Gewalt im Theoriegerüst von Hannah Arendt beschrieben, untersucht und gegeneinander abgegrenzt.
1.1 Macht und Gewalt im Allgemeinen
Hannah Arendt geht von einem normativen Machtbegriff aus und bezeichnetMachtals eine Möglichkeit, „sich in zwangloser Kommunikation auf ein gemeinschaftliches Handeln zu einigen“ (Habermas 1984: 203):
Machtentspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfolgt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält.
(Arendt 1970: 45)
Folglich habe Macht eine produktive Funktion und Arendt postuliert, dass sie erst durch kollektives, gemeinschaftliches Handeln entstünde, denn Macht selbst sei keine Basis, sondern benötige ein gesellschaftliches Fundament: „Macht aber besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen“ (Arendt 2007: 252). Wenn ein Individuum folglich umgangssprachlich Macht hat, sei dies für sie nur möglich, weil „er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln [...]potestas in populo– ohne ein ‚Volk’ oder eine Gruppe gibt es keine Macht“ (Arendt 1970: 45). Arendt verweist dabei auch auf die Polis im antiken Griechenland und die civitas in der römischen res publica, die auf einem anderen Verständnis von Macht und Gesetz basierten als das „Verhältnis zwischen Befehlenden und Gehorchenden“ (ebd.: 40), weil Macht und Herrschaft beziehungsweise Gesetz und Befehl nicht das gleiche zu jener Zeit bedeuteten, denn die zentrale Annahme laute: „Was den Institutionen und Gesetzen eines Landes Macht verleiht, ist die Unterstützung des Volkes“ (ebd.: 42). Demnach regiere per definitionem in jedem Rechtsstaat das Volk über die Herrschenden: „Alle politischen Institutionen sind Manifestationen und Materialisationen von Macht; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt“ (ebd.). Diese Art der Macht sei als produktiv und positiv zu bewerten: „Was einen politischen Körper zusammenhält, ist sein jeweiliges Machtpotenzial, und woran politische Gemeinschaften zugrunde gehen, ist Machtverlust und schließlich Ohnmacht“ (Arendt 2007: 252).
Damit entwirft sie ein theoretisches Modell, das sich von den Gedanken ihrer Vorgänger deutlich unterscheidet. Beispielsweise schreib Voltaire: „Macht besteht darin, andere zu veranlassen, so zu handeln, wie es mir beliebt“ (zit. nach Arendt 1970: 37). Auch Max Weber ging in seinem teleologischen Handlungsmodell von einem instrumentellen Machtbegriff aus: Mit Hilfe von Macht könnten persönlichen Absichten und Interessen verwirklicht werden, auch gegen den Widerstand von anderen Individuen. Er sieht Macht folglich als „eine Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (Weber 1980: 28). Demnach sei sie eine Art „Verfügungsgewalt über Mittel, die die Einflußnahme (sic!) auf den Willen eines anderen gestatten“ (Habermas 1984: 229) – Disziplinierungs- und Sanktionsmaßnahmen, Täuschungen oder physische Kraft seien Beispiele dafür, seine eigenen Ziele erreichen zu können (vgl. ebd.). Dieses Phänomen bezeichnete Arendt hingegen alsGewalt. Sie bemängelt, dass in der Vergangenheit dieser Begriff noch nicht ausreichend wissenschaftlich untersucht worden ist, was darauf zuzuführen sei, dass die meisten AutorenMachtmitGewaltgleichsetzen würden beziehungsweise, laut Mills, Gewalt die „eklatanteste Manifestation von Macht“ (Arendt 1970: 36) darstelle. Sie bezweifelte diesen Zusammenhang, denn „politische Macht“ (ebd.) entspricht nur dann auch der „organisierten Staatsgewalt“ (ebd.), wenn der Staat wie bei Marx als Mittel zur Unterdrückung durch die Herrschenden gesehen wird.
Arendt schlägt deswegen eine sorgfältige Trennung von Macht und Gewalt vor und entwirft idealtypische Begriffserklärungen. Dabei hänge Macht immer von Zahlen ab, „während die Gewalt bis zu einem gewissen Grade von Zahlen unabhängig ist, weil sie sich auf Werkzeuge verlässt“ (ebd.: 43). Einerseits könnten dadurch in einer Mehrheitsherrschaft Minderheiten, die eben quantitativ unterrepräsentiert sind, leicht unterdrückt werden, und dies ohne jede Gewalt. Diese „ungeteilte und unkontrollierte Macht erzeug[t] eine Meinungsuniformität, die kaum weniger ‚zwingend’ ist als gewalttätige Unterdrückung“ (ebd.). Diese Konstellation „Alle gegen einen“ (ebd.) ist daher für Arendt ein „Extremfall der Macht“ (ebd.).
Andererseits schließt Arendt daraus, dass die Meinung der Mehrheit dadurch nicht nur in einer Demokratie, sondern in jeder Staatsform entscheidend sei und verweist dabei auf Jouvenel: „[D]er Monarch, gerade weil er ein Einzelner ist, bedarf der allgemeinen Unterstützung durch die Gesellschaft mehr als irgendeine andere Staatsform“ (Jouvenel 1947: 135). Auch ein Tyrann könne somit nicht alleine über andere herrschen, wenn er nicht von Sympathisanten oder anderen Gehilfen unterstützt würde. Die „eigentliche Macht der Regierung“ (Arendt 1970: 42) hänge also von der Anzahl der Menschen ab, der ihr folgt und sie unterstützt: „[S]ie ist proportional der Zahl derjenigen, mit denen sie im Bunde ist“ (ebd.). Insbesondere die Tyrannis sei daher ein „Extremfall der Gewalt“ (ebd.: 43), in der „Einer gegen Alle“ (ebd.) herrscht. Dies sei aber auf Grund der geringen Zahl der Unterstützer nur mit „Werkzeugen“ (ebd.), also „Gewaltmitteln“ (ebd.), möglich. Mit dieser Argumentation entkräftet Arendt die Aussage, dass „eine Handvoll unbewaffneter Extremisten imstande sei [...] durch Geschrei, Spektakel, Krawall“ (ebd.), ohne Gewaltmittel, eine bestehende soziale Ordnung zu verändern.
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