Der Gesellschaftliche Wertewandel als Voraussetzung für Lean Production


Hausarbeit, 2003

52 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Grundlegung

2. Gesellschaftlicher Wertewandel
2.1. Theoretische Grundlagen des Gesellschaftlichen Wertewandels
2.1.1. Geschichtliche Entwicklung
2.1.2. Ingleharts Theorie der politischen Konsequenzen von materialistischen und Postmaterialistischen Prioritäten
2.2. Aktuelle empirische Beobachtungen bezüglich des Wertewandels
2.3. Auswirkungen des gesellschaftlichen Wertewandels auf das
Bedürfnis nach Organisationsentwicklung

3. „Lean Production“
3.1. Taylor’s Ansatz des „Scientific Management“
3.2. Die Entwicklung der „Lean Production“
3.3. „Lean Production“ – Das Ende der Arbeitsteilung?

4. Gesellschaftlicher Wertewandel als Voraussetzung für
„Lean Production“
5. Ausblick auf die Zukunft des gesellschaftlichen Wertewandels

Quellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen im Vergleich.

Abbildung 2: Schulbesuch der 13-Jährigen an ausgewählten Schularten
1960 und 2000 in Prozent.

Abbildung 3: Bedeutung von acht verschiedenen Werten für die Lebensgestaltung Jugendlicher. Vergleich von 1987 zu 2002.

Abbildung 4: Erziehungsziele in der Bundesrepublik Deutschland und
den alten Ländern 1951 – 1995.

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Bedürfnishierarchie nach Maslow.

Tabelle 2: Items zur Messung von Wertprioritäten und die Bedürfnisse,
die sie abdecken sollen.

Tabelle 3: Bundestagswahlergebnis, Zweitstimme
[*Sonntagsfrage vom 23.05.03 durch infratest dimap].

Tabelle 4: Die Merkmale der Lean Production.

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Grundlegung

„Die Generation Golf gibt es wirklich – Ein soziologischer Nachweis“[1], „Einmal im Leben zählt nicht mehr – Geburtenrückgang bringt Wertewandel“[2], „Neue Gestalt der Arbeit - Welt im Wandel“[3], „Gesellschaft - Rückkehr der Biedermeier?“[4], „Jugendliche wollen aufsteigen statt aussteigen“[5].

Die Frage drängt sich auf, was will Ihnen der Autor mit dieser Aneinanderreihung von Schlagzeilen sagen? Welchen gemeinsamen Inhalt haben diese Schlagzeilen? Was verbindet sie, was unterscheidet sie?

Festzustellen bleibt zunächst, dass diese Reihe von Schlagzeilen großer überregionaler deutscher Tageszeitungen nahezu beliebig fortgesetzt werden könnte. Doch auch diese fünf exemplarischen Schlagzeilen machen schon deutlich, wie sehr uns ein gesellschaftliches, soziologisches Phänomenen alle beeinflusst – der Wandel.

Die einen bemühen sich darum aufgrund von Zeitreihenanalyse das geflügelte Wort der „Generation Golf“ wissenschaftlich zu beweisen, indem Werte und Einstellungen der zwischen 1965 und 1975 Geborenen untersucht werden und aufgezeigt wird, dass diese Geburtskohorte sich mit einem spezifischen Wertprofil klar von anderen Generationseinheiten abgrenzt (beispielsweise von der „Apo-Generation“, 1946 bis 1953, und der „Generation der Neuen Sozialen Bewegungen“, 1954 - 1964). Ja, dass es sogar zu einem Wandel des Wertewandels kommen soll, demgemäß sich die „Generation Golf“ einer Umkehr des Wertewandels hingibt.[6]

Die anderen stellen fest, dass die Immobile einen Wertewandel erlebt, da die Maxime „Einmal im Leben“ vor dem Hintergrund der demographischen Veränderung an Bedeutung verlöre. Das gar die vormals stark ausgeprägten emotionalen Bindungen an Haus, Garten, Nachbarn oder soziales Umfeld bei der jüngeren Generation an Bedeutung verlören.[7]

Wieder andere beschäftigen sich mit dem Phänomen des Wandels vor dem Hintergrund der neuen Gestalt der Arbeit im Sinne eines vermeintlich steigenden intellektuellen Gehaltes der (verbleibenden) Arbeit durch Automatisierung der Routinetätigkeiten.[8]

Man erkennt leicht, dass das Phänomenen des gesellschaftlichen, sozialen wie strukturellen Wandels sich durch alle Ebenen hindurch zieht, unser aller Alltag prägt.

So verwundert es nicht, dass sich die sozialwissenschaftliche Theorie schon seit langer Zeit mit diesem Phänomenen beschäftigt.

Die Ursprünge der wissenschaftlichen Entwicklung der empirisch-sozialwissenschaftlichen Wertewandelforschung lassen sich nach Oesterdiekhoff und Jegelka bereits in der in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts betriebenen Wertphilosophie Friedrich Nietzsches sehen.[9]

Als Definition soll hier Parsons Begriff des sozialen Wandels herangezogen werden. Demnach ist sozialer Wandel der "Wandel in der Struktur eines Systems als Wandel seiner normativen Kultur"[10] zu sehen. Einfach ausgedrückt bezeichnet der Wertewandel die Veränderung von soziokulturellen Werten und Wertsystemen sowie von individuellen Wertorientierungen. Da Werte eine große Bedeutung für die Entwicklung von Gesellschaften haben, sind durch den Wertewandel bedingte Prozesse stets folgenreich und lösen oftmals erhebliche Anpassungskrisen bei den Individuen und gesellschaftlichen Institutionen aus.[11] Ein Wert in diesem Sinne sei „[...] eine Auffassung vom Wünschenswerten, die explizit oder implizit sowie für ein Individuum oder für eine Gruppe kennzeichnend ist und welche die Auswahl der zugänglichen Weisen, Mittel und Ziele des Handelns beeinflusst.“[12]

Folglich fragt die Soziologie des sozialen Wandels nach den Ursachen, dem Verlauf und dem prognostizierbaren, d.h. auf wissenschaftlicher Grundlage voraussagbaren Wandel der Sozialstrukturen von Gesellschaften oder einzelnen sozialen Systemen.[13]

Zu diesem Phänomenen des Wertewandels stößt noch der durch die Drei-Sektoren-Theorie beschriebene sozioökonomische Wandel hinzu. Dieser beschreibt und erklärt wiederum grundlegende langfristige Änderungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Da die Erwerbstätigkeit oft mehr als nur „Sicherung des Lebensunterhalts“ ist und im menschlichen Leben einen zentralen Platz einnimmt[14], kommt es hier also zu einer Wechselwirkung. Nach der Drei-Sektor-Theorie soll sich in allen Gesellschaften der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit zunächst vom primären Sektor der Produktgewinnung (Insb. Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Fischerei) auf den sekundären Sektor der Produktverarbeitung (Industrie, Handwerk) und anschließend auf den tertiären Sektor der Dienstleistung (Handel, Verkehr, Kommunikation, Verwaltung, Bildung, Wissenschaft, Beratung, Sozial- und Gesundheitswesen, u.a.) verlagern. Es findet also eine Verwandlung von der Agrargesellschaft über eine Industriegesellschaft hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft statt. Die Abbildung 1 veranschaulicht wie sich in Deutschland dieser Wandel vollzog.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen im Vergleich.

1 Ergebnisse der Berufszählung im Reichsgebiet – Erwerbspersonen.
2 Ergebnisse der Berufszählung im früheren Bundesgebiet.
3 Ergebnisse des Mikrozensus April 1970 im früheren Bundesgebiet.
4 Ergebnisse des Mikrozensus April 2001 in Deutschland.

Die jeweiligen Sprünge zwischen den Gesellschaften gehen mit wichtigen Veränderungen in der Sozialstruktur, im Schichtgefüge und in den Lebens- und Arbeitsbedingungen einher. Eine immense Produktivitätssteigerung führte zu einer Kräftefreisetzung in produktgewinnendem und -verarbeitendem Gewerbe und einer Zunahme im Dienstleistungssektor.[15]

Die Produktivitätssteigerung, die den westlichen Gesellschaften schon früh den Sprung von der Industrie- in die Dienstleistungsgesellschaft ermöglichte basierte auf einem revolutionären Konzept: dem „Scientific Management“ (zu Deutsch: arbeitswissenschaftlicher Ansatz). Dieser von Frederick W. Taylor (1856 – 1915) 1911 erdachte organisationstheoretische Ansatz mit den Prinzipien der Trennung von hand- und Kopfarbeit, Leistungslohn und Personalauswahl führte im Gefolge von Erfindungen wie dem Fließband durch Henry Ford zu einer Revolution in der industriellen Arbeitswelt.[16] Praktisch dominiert dieser wissenschaftliche Ansatz noch heute die industrielle Arbeitswelt. Jedoch warf in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts die Konkurrenz auf dem globalen Markt der Automobilindustrie die Frage auf, warum japanische Automobilproduzenten einen immer größeren Markanteil eroberten. Diese Phänomenen wurde von drei Forschern des Massachusetts Institute of Technology Mitte der 1980er Jahre untersucht. Mit dem 1990 veröffentlichten Ergebnis wurde von den Autoren James P. Womack, Daniel T. Jones und Daniel Roos eine zweite Revolution in der (Auto-)Industrie postuliert.[17] Diese hieß „Lean Production“ (zu Deutsch: schlanke Produktion) und zeichnet sich vor allem durch flache Hierarchien, Gruppenarbeit und Entscheidungsdezentralisation aus – das Ende der Arbeitsteilung?

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Schulbesuch der 13-Jährigen an ausgewählten Schularten 1960 und 2000 in Prozent.

1 Einschließlich Freier Waldorfschulen.
2 Schulartunabhängige Orientierungsstufe sowie Sonderschulen.

In den letzten 150 Jahren wurde der Bildung immer mehr Bedeutung beigemessen, so dass sich nach dem zweiten Weltkrieg die weiterführende Bildung zu einer Massenbildung entwickelte. Immer größere Anteile der heranwachsenden Schülerjahrgänge erreichten mittlere und höhere Abschlüsse, wie die Abbildung 2 nahe legt. Die Hauptschule geriet zur Schule der Minderheit. Für mehr als ein Viertel der Jüngeren wurde Universitätsbildung möglich.[18]

Hier drängt sich die Frage auf, ob bei einer derartig starken Entwicklung der Bildung gleichzeitig ein etwa 90 Jahre altes Produktionssystem noch zeitgemäß sein kann und ob „Lean Production“ die durch gesellschaftlichen Wandel bestimmte zeitgemäße Form des klassischen „Taylor ismus“ sein kann. Inwiefern dient der gesellschaftliche Wandel also als Voraussetzung für die „Lean Production“ ?

Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden. Hierbei wird sich der Autor in dem sich an diese Grundlegung anschließenden Kapitel zunächst einer Betrachtung des gesellschaftlichen Wandels in Theorie und Empirie widmen, bevor die Auseinandersetzung mit der Entwicklung und Ausprägung von „Lean Production“ erfolgt. Im vierten Kapitel wird schließlich versucht, in einer Synthese die gestellte Frage – die gleichzeitig Titel dieser Arbeit ist - zu beantworten. Abschließend soll betrachtet werden, an welche Grenzen die „Lean Production“ und der Taylor ismus vor dem Hintergrund des künftigen gesellschaftlichen Wertewandels wohl stoßen könnte und was dies für die Organisationsentwicklung bedeuten mag.

2. Gesellschaftlicher Wertewandel

– Materialismus, Postmaterialismus, Neomaterialismus? -

Das folgende Kapitel soll sich zunächst mit den theoretischen Grundlagen des Wertewandels beschäftigen. Diesbezüglich sollen einige bekannte soziologische Ansätze genannt und insbesondere auf Ingleharts Ansatz eingegangen werden. In einem zweiten Punkt soll auf aktuelle empirische Daten und Beobachtungen Bezug genommen werden, die uns vielleicht Aufschluss über die Möglichkeiten und Wege der zukünftigen Entwicklung geben werden. Abschließen soll dieses Kapitel einen Ausblick liefern, inwiefern das Beschriebene Auswirkungen auf das Bedürfnis nach bzw. die Organisationsentwicklung allgemein haben kann.

2.1. Theoretische Grundlagen des Gesellschaftlichen Wertewandels

2.1.1. Geschichtliche Entwicklung

„Eine wirklich grundlegende Theorie des Wertewandels ist gegenwärtig noch nicht in Sicht.“[19] Dieses Zitat, zeigt die eigentliche Problematik des Wertewandels auf: Zwar sind die Datenmengen, die heute erhoben werden können, eine gute Möglichkeit den Wandel zu belegen, doch braucht man auch genug Zeit, um diese Informationsflut zu bewältigen. Und ist dies gelungen, so stellt sich dann immer noch die Frage, wie soll man das Gefundene erklären und die noch viel schwerere Frage, ob man aus den gewonnenen Erkenntnissen ein Modell fertigen kann, mit dem Vorhersagen über den Wertewandel getroffen werden können, was die eigentliche Intention der Wertewandelforschung ist. Trotzdem die Forschung über Werte und Wertewandel in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (wieder) ein gewaltiges Wachstum erfahren hat,[20] ist es aufgrund der hintergründigen und komplexen sozialen und mentalen Entwicklungen innerhalb des Wertewandels immer noch nicht gelungen diese durch eine umfassende Theorie zu erklären.[21]

Dementsprechend ist die Anzahl an verfügbarer Literatur bezüglich dieser Problematik sehr umfangreich. Die Frage ist vor allem wann man mit der Betrachtung der unterschiedlichen Ansätze beginnen will. So hatte in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts – wie bereits oben erwähnt – Nietzsche mit seinem wertphilosophischen Ansatz einen Beitrag zur Theorie des sozialen Wandels geliefert. Über Max Webers handlungstheoretischen Ansatz, der auf die Erkenntnisse Nietzsches zurückgreift, kommt man dann in der Betrachtung der wohl bedeutendsten theoretischen Ansätze zu Talcott Parsons strukturell-funktionaler Theorie. Bei Parsons bilden Werte den Kern der Kultur. Sie sind von grundlegender Bedeutung für die Stabilität und Leistungsfähigkeit der Gesellschaft.[22] In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zeichnete sich zunächst ab, dass dieser Ansatz wohl zur beherrschenden Theorie in der Allgemeinen Wertewandeltheorie und auch darüber hinaus werden würde. Jedoch konnte sie sich dann doch nicht durchsetzen und der große Durchbruch zu einer umfassenden sozialwissenschaftlichen Wert- und Wertewandelforschung erfolgte in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts unter anderem durch Milton Rokeach, Peter Kmieciak, Ronald Inglehart und Helmut Klages.[23] Für den deutschsprachigen Raum sind außer den empirischen Studien von Kmieciak[24], Inglehart[25] und Klages[26] ferner die Arbeiten von Noelle-Neumann[27] und Schmidtchen[28] von hervorzuhebender Bedeutung,[29] wenngleich dies kein Anspruch auf Vollständigkeit sein soll.

So wurden denn auch die letzten 30 Jahre in erster Linie durch Arbeiten der genannten Forscher geprägt, die sich zum größten Teil auch heute noch mit dem Problem des Wertewandels aktiv auseinander setzen.

2.1.2. Ingleharts Theorie der politischen Konsequenzen von materialistischen und Postmaterialistischen Prioritäten

Im Folgenden soll nun jedoch näher auf Inglehart eingegangen werden, der in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einem international bekannten und zugleich häufig kritisierten Forscher der Wertewandelforschung wurde. Mit seiner Studie „The Silent Revolution“ von 1977 begründete er einen Ansatz, der bis heute äußerst kontrovers diskutiert wird. Gerade dieser Umstand aber zeugt davon, wie grundlegend seine Arbeit war und bis heute ist – schwerlich hätte er wohl sonst so viele Kritiker. Außerdem hat er maßgeblich am Zustandekommen einer empirischen, international vergleichenden Wertewandelforschung beigetragen, die über möglichst lange Zeiträume hinweg mit zuverlässigen Daten Wertewandlungen zum Ausdruck bringen kann.[30]

Das von Helmut Klages und Peter Kmieciak 1979 erstmalig herausgegebene Buch „Wertewandel und gesellschaftlicher Wandel“[31] enthält einen Beitrag Ingleharts, in dem er seinen eigenen Ansatz komprimiert zusammenfasst. „Wertewandel in den westlichen Gesellschaften: Politische Konsequenten von materialistischen und postmaterialistischen Prioritäten“[32] liefert einen Überblick über Ingleharts Erkenntnisse und dient im Folgenden zur kurzen Darstellung seiner Theorie.

Inglehart beobachtet in den 1970er Jahren, dass „Die Werte der westlichen Gesellschaften [...] sich von einer beinahe ausschließlichen Betonung der materiellen und physischen Sicherheit in Richtung auf eine höhere Bewertung von immateriellen Aspekten des Lebens verlagert zu haben [scheinen], [...]“[33] und spricht hierbei von einer stillen Revolution.[34] Sind doch die Agrar- und die Industriegesellschaft vom Grundsatz her äußerst verschieden, so teilen sie sich aber die Gemeinsamkeit, dass in beiden ein gewisser materieller Mangel vorherrscht. Jedoch hat sich in den westlichen Industrienationen und Japan nach dem zweiten Weltkrieg eine Periode starken wirtschaftlichen Wachstums ereignet, der diesen Gesellschaften ein geschichtlich ungeahntes Maß an Wohlstand beschert hat. In der Folge haben die nach dem zweiten Weltkrieg geborenen Generationen eine Neigung entwickelt, nichtmateriellen Zielen eine relativ hohe Priorität einzuräumen. Die Eltern und Großeltern dieser Generation hingegen waren durch eine Gesellschaft in der Hunger und politische Instabilität verbreitet war geprägt, so dass diese ökonomische und physische Sicherheit höher einschätzen.[35]

Diese Annahmen eines Wertewandels gründen sich nach Inglehart auf zwei Haupthypothesen:

„ [...]

1. Eine Mangelhypothese:

Die Prioritäten eines Individuums reflektieren seine sozioökonomische Umwelt. Man schätzt jene Dinge subjektiv am höchsten ein, die verhältnismäßig knapp sind.

2. Eine Sozialisationshypothese:

Das Verhältnis zwischen sozioökonomischer Umwelt und Wertprioritäten ist nicht eines der unmittelbaren Anpassung. Eine beträchtliche zeitliche Verzögerung spielt hierbei eine Rolle, da die Grundwerte einer Person zum größten Teil jene Bedingungen reflektieren, die während der Jugendzeit vorherrschten.

[...].“[36]

Anstelle der Mangelhypothese kann auch der wirtschaftstheoretische Begriff des sich vermindernden Grenznutzens (1. Gossensches Gesetz) herangezogen werden, demzufolge nach dem Gesetz der Bedürfnisbefriedigung der Grenznutzen eines Gutes mit wachsender verfügbarer Menge abnimmt. Ferner hat Inglehart die Theorie Maslows über die der menschlichen Motivation zugrunde liegenden Bedürfnishierarchie als anthropologisch-psychologische Erklärung seiner Mangelhypothese angenommen und dementsprechend bei dem Aufbau des Fragebogens berücksichtigt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Bedürfnishierarchie nach Maslow.[37]

Jedoch wurde von einer Rangordnung abstrahiert und nur zwischen materiellen Zielen (physiologische und Sicherheitsbedürfnisse) und nichtmateriellen Bedürfnissen (Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Achtung und Selbstverwirklichung) unterschieden.

Auf diesen Überlegungen gestützt erwartete Inglehart einen allmählichen Wandel in den Wert- und Zielvorstellungen durch das Prinzip des sich verändernden Grenznutzens, sofern eine Gesellschaft sich einem Zustand weitgehenden Überflusses nähert.[38]

Er erwartete somit eine Tendenz, dass „materialistische“ Zielpräferenzen hauptsächlich bei älteren Befragten auftreten würden, während „postmaterialistische“ Typen umso häufiger auftreten sollten, je jünger die untersuchten Personen seien.

Zur Überprüfung der oben genannten Hypothesen Ingleharts musste man sich in die Lage versetzen, die relative Priorität, die materialistischen bzw. postmaterialistischen Werten eingeräumt wird, zu messen. Dies geschah mittels eines Fragekatalogs, der erstmalig 1974 eingesetzt wurde. Zunächst musste das erst- und das zweitwichtigste politische Ziel aus einer Liste mit 4 Zielen gewählt werden. Diese Ziele sind:

„[...]

A. Aufrechterhaltung der Ordnung in der Nation;

B. Verstärktes Mitspracherecht der Menschen bei wichtigen Regierungsentscheidungen;

C. Kampf gegen steigende Preise;

D. Schutz der freien Meinungsäußerung.

[...].“[39]

Nachfolgend mussten aus einer acht Ziele umfassenden Liste die drei ausgesucht werden, die in den nächsten Jahren Ziele der Bundesrepublik Deutschland sein sollten. Diese sollten ebenfalls in eine persönliche Reihenfolge gebracht werden. zur Auswahl standen die Ziele:

„[...]

A. Erhaltung eines hohen Grades von wirtschaftlichem Wachstum;

B. Sicherung von starken Verteidigungskräften für dieses Land;

C. Verstärktes Mitspracherecht der Menschen an ihrem Arbeitsplatz und in ihren Gemeinden;

D. Versuche unsere Städte und ländlichen Gebieten zu verschönern;

E. Eine stabile Wirtschaft;

F. Kampf gegen Verbrechen;

G. Fortschritt auf eine humanere, weniger unpersönliche Gesellschaft hin;

H. Fortschritt auf eine Gesellschaft hin in der Ideen mehr zählen als Geld.

[...].“[40]

In der Tabelle 2 ist nun aufgeführt, welchen Typ von Bedürfnis das jeweilige Ziel anspricht. Hierbei ist der Übergang entsprechend der Bedürfnishierarchie Maslows zugrunde zulegen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2: Items zur Messung von Wertprioritäten und die Bedürfnisse, die sie abdecken sollen.[41]

Inglehart überprüfte durch unterschiedliche Untersuchungen seine Theorie und stellte starke Übereinstimmungen zwischen den nationalen Ergebnissen (EU-Mitglieder von 1973 und Vereinigte Staaten von Amerika) fest. Dies spricht für eine entsprechende Validität seiner Items bezüglich der Dimension postmaterialistisch bzw. materialistisch.

Dementsprechend sah Inglehart seine aufgestellten Hypothesen über das Verhältnis zwischen Lebensalter und Werten als tatsächlich existent und durch die Ergebnisse seiner Umfragen bestätigt an.[42] Gleichwohl sollte in den folgenden Jahren immer wieder die kritische Auseinandersetzung mit Inglehart mehr im Mittelpunkt stehen, als die Wertewandelforschung an sich.[43] Vorgeworfen wurde ihm ein zu eingeengtes Erklärungskonzept und Messinstrumente.[44] Des Weiteren sei zu bemängeln, dass Inglehart die Maslowsche Motivationstheorie zwar vollständig übernähme, dennoch aber nur kurz auf sie eingehe, eine ausführliche Kritik, über Stärken und Schwächen dieses Ansatzes suche man bei ihm vergeblich. Ferner kenne Inglehart nur eine Form von Wandel, den vom Materialismus zum Postmaterialismus, wie er in den westlichen Ländern seit 1965 stattfände. Dies wiederum würde bedeuten, es habe in der Menschheitsgeschichte eigentlich nur einen Wertewandel gegeben – und es werde auch keine weiteren mehr in der Menschheitsgeschichte geben. Dies scheine nun zunächst für eine umfassende Theorie des Wertewandels, mit der diese Prozesse nicht nur diagnostiziert und gedeutet, sondern auch zuverlässig vorhergesagt werden können, ein wenig zu undifferenziert.

Hierfür sei abschließend ein Beispiel gebracht: Inglehart schreibt 1979[45] der Kritik von Franz Lehners zustimmend, dass durch die Erhöhung des Anteils der Postmaterialisten das Wachstum der Unterstützung der Umweltschutzbewegung durch die breite Öffentlichkeit begünstigt werde, jedoch die politische Wirkung wahrscheinlich recht bescheiden ausfallen würde, da sie nur über schwache Organisationsstruktur und eine begrenzte Gesamtpolitische Kompetenz verfüge.

„Obwohl sie Sympathie für die grünen Parteien zum Ausdruck bringen, werden die meisten Deutschen wahrscheinlich weiterhin für die drei großen politischen Parteien stimmen. (...) Im Laufe der Jahre haben die SPD, CDU/CSU, und die FDP stabile Organisationsstrukturen und tiefverwurzelte Parteiloyalitäten unter ihren Wählern geschaffen. Die Fünfprozentklausel in der westdeutschen Verfassung stellt ein weiteres Handikap für eine kleine neue Partei dar. Allein durch die Unterstützung breiter Teile der Öffentlichkeit für Umweltschutzmaßnahmen werden diese Faktoren nicht aufgehoben. Dieser Umstand mag zwar die etablierten Parteien dazu bewegen, diesen Problemen mehr Beachtung als in der Vergangenheit zu schenken, aber Erfolg für eine Umweltschutzpartei wird hierdurch nicht garantiert.“[46]

[...]


[1] Alfons Kaiser, FAZ.NET, 24.04.2003.

[2] Reinhard Wagner, Die WELT, 26.10.2002.

[3] Ralf Reichwald, Süddeutsche Zeitung, 10.05.2003.

[4] Holger Christmann, FAZ.NET, 06.11.2001.

[5] Jowe, FAZ.NET, 19.08.2002.

[6] Alfons Kaiser, FAZ.NET, 24.04.2003.

[7] Reinhard Wagner, Die WELT, 26.10.2002.

[8] Ralf Reichwald, Süddeutsche Zeitung, 10.05.2003.

[9] Vgl. Oesterdiekhoff/Jegelka 2001, S. 16f.

[10] Parsons 1964.

[11] Vgl. Klages 1998, S. 698.

[12] Meyers Lexikonredaktion 2001, Bd. 25, S.17f.

[13] Vgl. Schäfers 1995, S. 8f.

[14] Vgl. Statistisches Bundesamt 2002, S. 85.

[15] Vgl. Geißler 2000, S. 19.

[16] Vgl. Schreyögg 1999, S. 39.

[17] Vgl. Womack 1992, S. 3.

[18] Vgl. Hradil 2001, S. 151.

[19] Oesterdiekhoff/Jegelka 2001, S. 10.

[20] Vgl. Oesterdiekhoff/Jegelka 2001, S. 15.

[21] Vgl. Oesterdiekhoff/Jegelka 2001, S. 10.

[22] Vgl. Oesterdiekhoff/Jegelka 2001, S. 17.

[23] Vgl. Oesterdiekhoff/Jegelka 2001, S. 21.

[24] Kmieciak: Wertstrukturen und Wertwandel in der Bundesrepublik Deutschland: Grundlagen einer interdisziplinären empirischen Wertforschung mit einer Sekundäranalyse von Umfragedaten, Göttingen 1977.

[25] Inglehart: The silent revolution: changing values and political styles among western publics, Princeton 1977.

[26] Klages: Wertorientierungen im Wandel: Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen; Frankfurt/Main 1984.

[27] Noelle-Neumann: Werden wir alle Proletarier?: Wertewandel in unserer Gesellschaft, Zürich 1978.

[28] Schmidtchen: Neue Technik, neue Arbeitsmoral: sozialpsychologische Untersuchung über Motivation in der Metallindustrie, Köln 1984.

[29] Vgl. Holleis 1987, S. 63.

[30] Vgl. Oesterdiekhoff/Jegelka 2001, S. 22.

[31] Klages, Helmut und Kmieciak, Peter: Wertewandel und gesellschaftlicher Wandel, 2. Aufl., Frankfurt am Main, New York 1981.

[32] Vgl. Inglehart 1981, S. 279 – 316.

[33] Inglehart 1981, S. 279.

[34] Vgl. Inglehart 1981, S. 279.

[35] Vgl. Inglehart 1981, S. 279f.

[36] Inglehart 1981, S. 280.

[37] Vgl. Maslow 1977, S. 74ff.

[38] Vgl. Inglehart 1981, S. 281.

[39] Inglehart 1981, S. 285.

[40] Inglehart 1981, S. 285.

[41] Inglehart 1981, S. 286.

[42] Vgl. Inglehart 1981, S. 297.

[43] Vgl. Oesterdiekhoff/Jegelka 2001, S. 22.

[44] Vgl. Oesterdiekhoff/Jegelka 2001, S. 22.

[45] Vgl. Inglehart 1981, S. 314.

[46] Inglehart 1981, S. 314.

Ende der Leseprobe aus 52 Seiten

Details

Titel
Der Gesellschaftliche Wertewandel als Voraussetzung für Lean Production
Hochschule
Helmut-Schmidt-Universität - Universität der Bundeswehr Hamburg  (Institut für Gesellschaftswissenschaften)
Veranstaltung
Geplanter Wandel in Organisationen
Note
1,3
Autor
Jahr
2003
Seiten
52
Katalognummer
V20323
ISBN (eBook)
9783638242318
Dateigröße
824 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Geplanter Wandel, Organisationen, Wertewandel, Lean Management
Schlagworte
Gesellschaftliche, Wertewandel, Voraussetzung, Lean, Production, Geplanter, Wandel, Organisationen
Arbeit zitieren
Marc Behring (Autor:in), 2003, Der Gesellschaftliche Wertewandel als Voraussetzung für Lean Production, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/20323

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