ICD und ICF: Kombination der Ergebnisse aus Symptom- und Ressourcendiagnostik zur Entwicklung adäquater sonderpädagogischer Förderansätze für Kinder und Jugendliche


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

23 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Klassifikatorische Diagnosesysteme zwischen Pathogenese und Salutogenese
2.1 ICD-10: symptomorientierte Diagnostik auf Basis des biomedizinischen Krankheitsmodells
2.2 ICF: ressourcenorientierte Diagnostik auf Basis des bio-psycho-sozialen Modells
2.3 Zwischenfazit

3. Das Konzept der Lebensweltorientierung

4. WOWW – Working-On-What-Works

5. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In der vorliegenden Hausarbeit möchte ich die folgende Forschungsfrage diskutieren: Kann eine zusätzliche Erfassung der Ressourcen eines Kindes oder Jugendlichen, als Grundlage für die Entwicklung individueller sonderpädagogischer Förderangebote, gegenüber einer rein symptomorientierten Störungsdiagnostik eine wirksamere Förderung erzielen?

Den Hintergrund dieser Frage bildet die Kritik an der, von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenen, „Internationalen statistischen Klassifikation von Krankheiten und verwandten Gesundheitsproblemen“ (ICD) aus breiten Kreisen der (Sonder-)Pädagogik, Psychiatrie und Psychotherapie. Die Kritik bezieht sich auf das fünfte Kapitel, welches „Psychische und Verhaltensstörungen“ kodiert und die zur jeweiligen Diagnose gehörigen Symptome, eventuelle Komorbiditäten und Ausschlussdiagnosen auflistet. Auch in ihrer zehnten Revision wird der ICD Stigmatisierung und Ungenauigkeit in der Abbildung von Krankheitsbildern vorgeworfen (Meiser-Storck 2012). Die von der ICD-10 ausgehende Diagnostik ist störungsspezifisch, d. h. sie identifiziert die Symptome, die für eine bestimmte Diagnose entscheidend sind (Klemenz 2009).

Zur Beantwortung der Forschungsfrage bespreche ich im Folgenden, inwieweit die Ressourcendiagnostik eine besser an den Bedürfnissen des Kindes ausgerichtete Förderung ermöglichen kann. Für eine solche Diagnostik steht dem Psychiater die ebenfalls international anerkannte „Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) zur Verfügung, auf die ich im Folgenden noch näher eingehen werde.

Erhält man durch eine zusätzliche Ressourcendiagnostik per ICF neue Informationen über den Patienten, die die ICD-10 allein nicht vermitteln kann? Ich werde auf Vor- und Nachteile des zusätzlichen Einsatzes der ICF eingehen. Außerdem stelle ich den Ansatz der Lebensweltorientierung als zentrales sonderpädagogisches Konzept vor und bringe den Working-On-What-Works-Ansatz in die Diskussion ein. Beide Ansätze lassen dem Kind gegenüber eine andere Haltung zu, die durch die bloße psychiatrische Diagnose vermutlich nicht einnehmbar wäre.

2. Klassifikatorische Diagnosesysteme zwischen Pathogenese und Salutogenese

Ich möchte zunächst in einem kurzen Überblick grundlegende Informationen über die ICD-10 und ICF geben. Ich werde dabei näher auf den Aufbau, die Vor- und Nachteile für die Klienten sowie die unterschiedlichen Ansätze im Umgang mit „Krankheit“ eingehen.

2.1 ICD-10: symptomorientierte Diagnostik auf Basis des biomedizinischen Krankheitsmodells

Die ICD-10 gilt in Deutschland als obligatorisches Klassifikations- bzw. Diagnosesystem für den gesamten medizinischen Bereich, so auch für die psychiatrische und psychotherapeutische Praxis. „Die Kinder- und Jugendpsychiatrie erweiterte diese Grundlage auf empirischer Basis zu einem sechsachsigen System“ (Remschmidt 2002, Einband). Die erste Achse umfasst das klinisch-psychiatrische Syndrom, die zweite bezieht sich auf umschriebene Entwicklungsstörungen, die dritte auf das Intelligenzniveau, die vierte auf die körperliche Symptomatik, die fünfte auf aktuell assoziierte abnorme psychosoziale Umstände und die sechste Achse auf die Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung. Will man im deutschen Gesundheitssystem Gesundheitsleistungen abrechnen, müssen Diagnosen in kodierter Form bereitgestellt werden. Die ICD-10 bildet damit die (unumgängliche) Abrechnungsgrundlage sowohl im ambulanten als auch im teil- und stationären Bereich.

Die Hauptkritikpunkte an der ICD-10 sind dabei:

a) Ungenaues Kodieren, aufgrund unzureichender Erfahrung in der Handhabung der ICD-10,
b) Die Vergabe der Diagnose liegt allein in Verantwortung des Arztes (hohes Risiko an Fehldiagnosen, auch aufgrund fehlender Zeit, Kostendrucks und ggf. unzureichender Qualifikation[1]),
c) Nicht jede Symptomatik entspricht hundertprozentig einem Krankheitsbild nach ICD-10. Der Arzt kann dann keine klaren Diagnosen stellen. Ohne einen eindeutigen Diagnoseschlüssel, kann der Arzt jedoch keine Behandlungskosten beim Kostenträger geltend machen. Er muss sich also fragen, welche Diagnose er seinem Patienten „zukodieren“ kann, ohne dass dieser dadurch Nachteile erfährt (Blessing 2006; Remschmidt 2002).

Es ist zwingend notwendig, dass die Diagnostik psychischer Störungen sorgfältig und fachkundig durchgeführt wird. In der Praxis vermisst man beides des Öfteren. Stattdessen erfährt man von einer Zunahme vorschneller und ungenauer Diagnosen (Weber 2004: 3, Esser 2012).

Zum diagnostischen Prozess gehören nicht nur standardisierte Tests, sondern auch Verhaltensbeobachtungen, das Anamnesegespräch, Fremdbeurteilungen (Eltern-, Lehrerfragebögen), Selbstbeurteilungsbögen, strukturierte Interviews und andere Instrumente, um eine verlässliche Diagnose über eine Störung zu generieren. Die Störungsdiagnostik, so Klemenz (2003: 306), sei gut ausgearbeitet, kind- und familienzentriert und könne sich auf ein breites Fundament empirisch gesicherter Erkenntnisse, auf standardisierte störungsdiagnostische Verfahren, multiaxiale Klassifikationsschemata für psychische Störungen und jahrzehntelange Erfahrung aus der klinischen Praxis stützen.

Auffallend ist jedoch, dass eine Diagnostik im Sinne der ICD-10 ausschließlich defizitorientiert bzw. störungsspezifisch ist. Es geht darum, genaue Angaben darüber zu machen, wo das untersuchte Kind aktuell nicht der Norm entspricht, wo es Schwierigkeiten hat und die Kriterien einer Auffälligkeit oder Störung in seinem Verhalten, seiner kognitiven Leistung oder auch seiner psychomotorischen Entwicklung erfüllt. Erst mit diesen Daten ist es möglich, eine Diagnose gemäß den ICD-10 Kriterien zu kodieren.

Remschmidt hält dieser Kritik allerdings entgegen, dass sich die Kodierungen nicht auf die Persönlichkeit des Kindes bezögen,

„[s]ie machen auch keine Aussagen über Fortdauer und Irreversibilität einer Störung und sind deshalb gänzlich ungeeignet, um den Einzelnen im Sinne eines Labeling-Approach zu diskriminieren. Im Übrigen werden ja nicht Patienten klassifiziert, sondern deren Störungen“ (Remschmidt 2002: 10).

Diagnostik wird als Momentaufnahme dargestellt, was prinzipiell richtig ist. Dass weder Aussagen zur Fortdauer noch zur Reversibilität gemacht werden und nicht Patienten, sondern Störungen untersucht werden, bestätigt jedoch die Kritiker.

Eltern erleben die Diagnose ihres Kindes als determinierend und schicksalhaft, gerade weil keine Aussage zur Fortdauer und Reversibilität getroffen wird (Palmowski 2011). Therapeutische und Fördermöglichkeiten zur Emendation der Symptomatik werden ungenügend transparent gemacht. Die Formulierung „deren Störungen“ im Zitat zeigt, dass „Störung“ als personenbezogene Eigenschaft gedacht wird und nicht als vor allem kontextabhängiges, situationsspezifisches Merkmal einer Person (ebd.).

Ausgehend von der gefällten psychiatrischen Diagnose, wird das Kind oder der Jugendliche zur Weiterbehandlung möglicherweise an einen Therapeuten oder Sonderpädagogen überwiesen werden. Zur individuellen Interventionsplanung in der Therapie oder Förderung, muss auf Basis des diagnostischen Gutachtens des überweisenden Psychiaters gearbeitet werden. Darin wird jedoch nur mitgeteilt, wo der Junge/das Mädchen eine kodierte Störung oder eine Auffälligkeit im Verhalten hat, die von der Norm abweicht sowie alle damit verbundenen negativen Begleitumstände (vgl. Theunissen 2011). Von den Interessen und Stärken, aber auch von den positiven Rahmenbedingungen in der Umwelt des Kindes oder Jugendlichen erfährt man nichts. Für diese Informationen müsste in der ICD-10 erst eine zusätzliche siebte Achse „Person- und Umweltressourcen von Kindern und Jugendlichen“ geschaffen werden (vgl. Klemenz 2003; 2009). Gerade diese Informationen über persönliche Ressourcen, also Kraftquellen, Resilienzfaktoren und dem „was gut läuft“, scheinen in Ergänzung der psychiatrischen Diagnose für die therapeutische oder sonderpädagogische Intervention von zentraler Bedeutung. Sie ermöglichen die Planung von maßgeschneiderten Therapie- oder Förderangeboten und erleichtern die Beziehungsgestaltung zum Kind.[2]

Für die Kodierung

„psychische[r] Stärken, umschriebene[r] Entwicklungspotenziale, weitere[r] Begabungsressourcen (neben Intelligenz), körperliche[r] Ressourcen, positive[r] psychosoziale[r] Umstände, wie z. B. stabile[r] intrafamiliäre[r] Beziehungen oder entwicklungsfördernde[r] Erziehungsbedingungen, sowie verschiedene[r] Merkmale guter Adaptation eines Klienten“ (Klemenz 2003: 308),

müsste sich das, der ICD-10 zugrundeliegende, biomedizinische Krankheitsmodell in ein ganzheitlich betrachtendes Modell verwandeln. Erst dann können neben den Defiziten auch die Ressourcen eines Kindes berücksichtigt werden. Die von Dosen et al. 2010 veröffentlichten Praxisleitlinien für Mediziner (zusammenfassend in: Theunissen 2011: 57f.) können als Tendenz für ein fortschrittliches Denken im Lager der Psychiatrie (ebd.) angesehen werden. Monokausale Erklärungsmodelle von Verhaltensauffälligkeiten und –störungen, weichen zunehmend sozialwissenschaftlichen und systemökologischen Sichtweisen zur Erweiterung des traditionellen psychiatrischen Horizonts hin zu einem multiprofessionellen Team und der Befürwortung multimodaler Therapiekonzepte.

Bei allem Optimismus muss jedoch dokumentiert werden, dass man einer Erweiterung des bestehenden multiaxialen Klassifikationsschemas gänzlich abgeneigt ist. Aus persönlichem E-Mail-Kontakt mit Dr. Klemenz wurde deutlich, dass Prof. Dr. Remschmidt an keinem Artikel über die Aufnahme von Ressourcenkategorien in die Klassifikation interessiert ist. Eine ausführlichen Zusammenfassung der, bisher noch unveröffentlichten, Publikation Klemenz‘, findet sich in seinem Buch „Ressourcenorientierte Psychologie, Band 1“ (2009, 505f.). Sehr anschaulich stellt er hier seine Argumente für die Aufnahme von Ressourcenkategorien und der Modifizierung der multiaxialen Klassifikation psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter (Remschmidt) dar.

Ich möchte mich im nächsten Unterkapitel mit der Darstellung der ICF befassen, die die Voraussetzungen an eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen erfüllt. Meines Erachtens wäre eine Ergänzung der Informationen aus der ICD-Diagnostik mit den Daten aus der ICF eine Möglichkeit, Störungs- und Ressourcendiagnostik für den Zweck der anschließenden individuellen Interventionsplanung von Therapie- oder Förderangeboten zu verbinden.

2.2 ICF: ressourcenorientierte Diagnostik auf Basis des bio-psycho-sozialen Modells

Die ICF als weiteres multiaxiales Klassifikationssystem der WHO, liegt seit 2011 auch in einer deutschsprachigen Version als ICF-CY (ICF - Children & Youth) vor. In dieser spezifischen Version für das Kindes- und Jugendalter, wird besondere Rücksicht auf die in Entwicklung befindlichen Funktionen und die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen genommen.[3] Während die ICD-10 pathogenetisch die Frage „Was macht krank?“ zu beantworten versucht, setzt die ICF auch salutogenetisch bei der Frage „Was erhält gesund?“ an (vgl. Klemenz 2009).

Die mit Hilfe der ICF erarbeiteten Informationen werden in zwei Teile gegliedert: 1) Funktionsfähigkeit und Behinderung und 2) Kontextfaktoren. Der erste Teil umfasst die beiden Skalen „Körper“ und „Aktivitäten und Partizipation [Teilhabe]“. Es werden die „Funktionen von Körpersystemen“ und die „Körperstruktur“ klassifiziert. Der Bereich der Körperfunktionen berücksichtigt nicht nur physiologische, sondern auch psychologische Funktionen. Als Aktivitäten und Partizipation wird „[…] die gesamte Bandbreite von Domänen, die Aspekte der Funktionsfähigkeit aus individueller und gesellschaftlicher Perspektive beschreiben“ (ICF 2005: 13), abgebildet.

Im zweiten Teil finden sich die Skalen „Umweltfaktoren“ und „Personbezogene Faktoren“. Die Umweltfaktoren beeinflussen alle Komponenten der Funktionsfähigkeit und Behinderung und werden in der Reihenfolge vom Nahbereich bis zur allgemeinen Umwelt eines Menschen angeordnet. Diese Ordnung erinnert an das ökosystemische Gesellschaftsmodell Urie Bronfenbrenners (Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosystem in einem alles umspannenden Chronosystem).

[...]


[1] Für Kinder und Jugendliche sollte die erste Wahl zur Diagnostik von Psychopathologien ein Kinder- und Jugendpsychiater und –psychotherapeut sein. Meist ist es aber ein Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin oder sogar „nur“ der Kinderarzt. Die beiden letztgenannten sind allerdings fachlich weitaus weniger in der Diagnostik psychischer Erkrankungen ausgebildet, was zu vorschnellen bzw. ungenauen Diagnosen führen kann (vgl. Hamburger Arbeitskreis ADS/ADHS 2008).

[2] Die Beziehungsgestaltung im klinischen Setting Arzt – Kind wird z. B. durch strukturierte und standardisierte Diagnoseinstrumente erschwert. Ein strukturierter Rahmen sieht zur Gewährleistung der allgemeinen Gütekriterien, geringe Beziehungsangebote des Therapeuten oder Arztes vor (vgl. Meiser-Storck 2012: 8). Insgesamt würde daher ein ressourcenorientierter Ansatz m.E. mehr zum Vertrauensaufbau beitragen.

[3] Zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Hausarbeit war es nicht möglich, ein Exemplar der ICF-CY auszuleihen, weshalb ich mich in den weiteren Ausführungen auf die ICF beziehe. ICF und ICF-CY sind jedoch von Grund auf gleich konstruiert. Das ließ sich der englischsprachigen Online-Version der ICF-CY (http://apps.who.int/classifications/icfbrowser/Default.aspx, Zugriff am: 27.06.12) entnehmen.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
ICD und ICF: Kombination der Ergebnisse aus Symptom- und Ressourcendiagnostik zur Entwicklung adäquater sonderpädagogischer Förderansätze für Kinder und Jugendliche
Hochschule
Universität Erfurt  (Sonder- und Integrationspädagogik)
Veranstaltung
Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen und die Entwicklung von Förderansätzen
Note
1,7
Autor
Jahr
2012
Seiten
23
Katalognummer
V203336
ISBN (eBook)
9783656299141
Dateigröße
1104 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kombination, ergebnisse, symptom-, ressourcendiagnostik, entwicklung, förderansätze, kinder, jugendliche
Arbeit zitieren
B.A. Johannes Ilse (Autor:in), 2012, ICD und ICF: Kombination der Ergebnisse aus Symptom- und Ressourcendiagnostik zur Entwicklung adäquater sonderpädagogischer Förderansätze für Kinder und Jugendliche, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203336

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