Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Literatur der Jahrhundertwende
2.1. Von der frühen zur klassischen Moderne
2.2. Das Subjekt in der Krise
3. Die Wiener Moderne
3.1. Hermann Bahr und der Beginn der Wiener Moderne
3.2. Hugo von Hofmannsthal und der Kreis des Jungen Wien
3.3. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief - Die Sprachkrise des Lord Chandos
4. DasdeutscheKunstmärchen
4.1. Das Kunstmärchen in der Romantik
4.2. Orientalische Tradition: Geschichten aus TausendundeinerNacht
4.3. Die Wiederbelebung des Kunstmärchens in der Wiener Moderne
5. Das Märchen der 672. Nacht und Die Frau ohne Schatten: Zwei moderne Märchen?
6. Hugo von Hofmannsthals Das Märchen der 672. Nacht
6.1. Intertextuelle Bezüge
6.2. TypischeMärchenelemente
6.3. Atypische Märchenelemente
7. Die Frau ohne Schatten
7.1. Intertextuelle Bezüge
7.2. Typische Märchenelemente
7.3. Atypische Märchenelemente
8. Das Kunstmärchen am Ende
9. Fazit
10. Literaturverzeichnis
1. Einleitung:
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es nur noch wenige Erzählungen, die in ihrem Anspruch und Umfang den bekannten Märchen der Romantik gleich kamen. Deshalb scheint es nicht zu verwundern, dass es nur wenige nennenswerte literaturwissenschaftliche Untersuchungen über das Kunstmärchen zur Zeit der Moderne gibt. Einige Märchenforscher wie Max Lüthi datieren das Ende des Kunstmärchens sogar gerade auf die Zeit der Jahrhundertwende.
Gegen diese Behauptung sprichtjedoch, dass auch noch in der Moderne Erzählungen veröffentlicht wurden, die in ihrer Form und Symbolik, wenn nicht als reines Kunstmärchen, dann doch als eine Art Mischform gewertet werden könnten. Zu diesen Erzählungen gehört Hugo von Hofmannsthals Das Märchen der 672. Nacht, welches er selbst als Märchen betitelte. Und auch das spätere Werk Die Frau ohne Schatten weist märchenhafte Züge auf und erinnert stellenweise an die Vorbilder der Romantik und den orientalischen Märchenzyklus Geschichten aus tausendundeiner Nacht. Warum hat Hugo von Hofmannsthal in einer Zeit literarischer, kultureller und sozialer Umbrüche auf diese alte Form zurückgegriffen? Handelt es sich bei diesen Erzählungen überhaupt um richtige Märchen? Wie definiert sich die Literatur der Jahrhundertwende und welche Rolle spielte das Kunstmärchen zu dieser Zeit? Wie entwickelte sich dieses seit der Hochzeit der Romantik bis zur Moderne? Welche märchentypische Motive und welche Symbole und Elemente der Moderne lassen sich in den Erzählungen Das Märchen der 672. Nacht und Die Frau ohne Schatten finden?
Um diese Leitfragen beantworten zu können, müssen zunächst einige Grundlagen geklärt werden. Schon alleine der Terminus 'Moderne' bereitet in der genauen Definition Schwierigkeiten. Für den grob festgelegten Zeitraum von 1885/90 bis 1910 existieren zum Teil konkurrierende oder auch komplementäre Bezeichnungen wie Impressionismus, Symbolismus, Neuromantik, Décadence oder Wiener Moderne.[1] Sie setzen unterschiedliche Schwerpunkte und betonen die Komplexität dieser Epoche. Um den Begriff genauer definieren zu können und ihn von der vorherigen Epoche abzugrenzen, soll in einem ersten Schritt die Entwicklung zur Moderne nachverfolgt werden. Anschließend soll die Entwicklung von der frühen zur klassischen Moderne nachgezeichnet werden, da somit das Lebensgefühl und der Zeitgeist dieser Epoche klarer herausgestellt werden kann. Ein wichtiges Thema dieser Zeit ist die aufkommende Krise des Subjekts in der modernen Welt. Das „unrettbare Ich“[2] reflektiert die Stimmung der neuen Generation von Autoren. Dieses Leitmotiv soll, schon im Bezug auf Hugo von Hofmannsthals literarisches Schaffen und die beiden zu analysierenden Erzählungen, genauer definiert werden.
Im zweiten Teil der Arbeit steht die Wiener Moderne im Vordergrund, da sie sich als eigenständige Strömung in Österreich zur Zeit der Jahrhundertwende entwickelte. Anknüpfend an die Entwicklung von der frühen zur klassischen Moderne stehen zunächst die Essays von Hermann Bahr im Fokus der Arbeit, in denen er die „aktive Kreation einer Moderne“[3] forderte und somit auch den Entwicklungsprozess zur Wiener Moderne voran trieb. Seine Schriften waren vor allem für die Gruppierung des 'Jungen Wien' ein wichtiger Leitfaden. Auch Hugo von Hofmannsthal gehörte dieser Gruppierung an. Deshalb wird anschließend die Bedeutung dieser Gruppe in der Wiener Moderne geklärt und welche Verbindung Hofmannsthal zu ihnen hatte. Als ein erstes Beispiel für Hugo von Hofmannsthals Schaffen in der Wiener Moderne soll sein Text Ein Brief stehen. Der fiktive Brief des Lord Chandos gilt als Schlüsseltext der Jahrhundertwende, da er zum Verständnis der Haltung der Modernen gegenüber der neuen Literatur beiträgt.
Der darauf folgende Teil der Arbeit thematisiert das Märchen und insbesondere die Entwicklung des Kunstmärchens. Im Vordergrund steht zunächst das Volksmärchen, da es als Vorlage des Kunstmärchens gilt. Es existieren bisher nur Annäherungen an eine Definition, deshalb sollen nur die wichtigsten Kernmerkmale herausgestellt werden. Auch der Zyklus Geschichten aus tausendundeiner Nacht gilt als ein Vorbild für die beiden Erzählungen von Hugo von Hofmannsthal, da dieser sich sehr für die orientalische Märchentradition interessierte. Deshalb steht dieses Vorbild im Fokus dieser Arbeit, insbesondere im Hinblick auf die Unterschiede zum romantischen Kunstmärchen. Im darauffolgenden Kapitel wird diskutiert, ob das Kunstmärchen wirklich noch einmal in der Zeit der Moderne neu aufgegriffen wurde oder ob allenfalls die bereits erwähnten Mischformen entstanden.
Nachdem die theoretischen Grundlagen geklärt sind, wird im Analyseteil auf die beiden Erzählungen Das Märchen der 672. Nacht und Die Frau ohne Schatten genauer eingegangen. Dabei werden die auffälligsten Merkmale der Erzählungen in den Kontext der Literatur der Jahrhundertwende gesetzt und überprüft, welche wichtigen Motive dieser Zeit in beiden Geschichten zu finden sind. Nacheinander stehen dabei die Intertextualität, traditionelle Märchenelemente und moderne Märchenelemente im Vordergrund. Das Ziel ist es herauszufinden, wie einerseits die Welterfahrung Hofmannsthals in der Moderne die beiden Texte beeinflusst hat und wie andererseits die Vorbilder traditioneller Märchen in seine Erzählungen mit einflossen.
Im letzten Kapitel soll die anfängliche These, dass das Kunstmärchen wirklich zur Zeit der Jahrhundertwende sein Ende fand, kurz überprüft werden. Das Fazit bietet schließlich die wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit und liefert einen möglichen Ausblick auf die weitere Märchenforschung.
2. Die Literatur der Jahrhundertwende
Den Zeitraum der Jahrhundertwende um 1900 zu bestimmen und zu definieren ist nicht einfach, da es sich um eine vielschichtige Epoche handelt. Viele Stile und Strömungen kamen zusammen und formten das, was als Moderne bezeichnet wird. Aufgrund dieser Vielfältigkeit ist es in der vorliegenden Arbeit nicht möglich, einen umfassenden Überblick über die Moderne zu geben; deshalb sollen nur die wichtigsten Merkmale kurz dargestellt werden.
Der Beginn der Moderne wird auf die Jahre 1885/1890 datiert. Gründe für ein Umdenken in der Literatur lassen sich weniger in der Geschichte, als in einem neu aufkommenden ästhetischen Bewusstsein finden. Die Modernen distanzierten sich von der Antike und forderten einen Wandel „ästhetischer Kategorien [...]“[4] und standen für „[...] die Evolution des Geschmacks und für die Historisierung der Kunst.“[5] Das Ende der modernen Epoche steht mit dem Ende des ersten Weltkriegs in Verbindung und wird deshalb auf die Zeit um 1918 verortet. Die Gründung der Weimarer
Republik und die Neuordnung Deutschlands wirkte auf viele Schriftsteller prägend und sie wandten sich neuen Themen zu. In der Literaturgeschichte wird das Ende dieser Epoche jedoch um 1910 angesetzt, da zu dieser Zeit der Expressionismus beginnt und ein weiterer ästhetischer Umbruch in Gang gesetzt wird.[6]
2.1. Von der frühen zur klassischen Moderne
Der Beginn der Moderne wird also mit einem neuen Denken und einem bewussten Abgrenzen von der Antike begründet. Schon um 1800 tauchte der Begriff'Moderne' in Friedrich Schlegels Fragmenten zur Literatur und Poesie auf.[7] Zwar lässt sich auf Grund weggelassener Buchstaben nicht genau bestimmen, in welchem Zusammenhang er den Begriff nutzte, jedoch kann man eine deutliche Distanzierung zur Antike herauslesen.
Die Entwicklung der Moderne wurde vor allem durch die europäischen Metropolen Paris, Berlin und Wien vorangetrieben. Dort bildeten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts neue Gruppierungen, die über den Stand der Literatur diskutierten, Ideen austauschten und eigene Zeitschriften und Programme veröffentlichten.[8] Auch Hugo von Hofmannsthal bewegte sich im Kreis des „Jungen Wien“ oder „Jung-Wien“[9], genauso wie Hermann Bahr, welcher in einem 1893 publizierten Aufsatz die wichtigsten Schriftsteller der Gruppierung vorstellte.[10]
Die Konfrontation mit der Großstadt als neuen Lebensraum hatte einen großen Einfluss auf die Welterfahrung der Schriftsteller. Die Stadt ist wandelbar, vergänglich, schnelllebig und unübersichtlich - tradierte narrative Modelle von Kontinuität und Kohärenz wurden außer Kraft gesetzt und an ihre Stelle trat eine skizzenhafte, diskontinuierliche Schreibweise.[11] Als Flaneur beobachtet der Schriftsteller die Welt und beschreibt sie dabei in Form von Momentaufnahmen und vertritt weniger einen vollständigen, objektiven Standpunkt, wie es noch die Naturalisten taten.
Durch diese grundlegenden Umwälzungen in der Welterfahrung und - beschreibung fühlte sich das Individuum nicht mehr im Stande, diese Eindrücke richtig zu verarbeiten und auszudrücken. Diese Unfähigkeit des Ausdrucks wird in der Literatur als 'Sprachkrise' oder 'Subjektkrise' bezeichnet.
2.2. Das Subjekt in der Krise
Durch die neue Weltanschauung der Moderne wurde erstmals die Stellung des 'Ich' in der Literatur in Frage gestellt. Besonders in erzählenden und dramatischen Texten der Jahrhundertwende werden die Prozesse des Selbst- und Identitätsverlusts thematisiert, so zum Beispiel in Hugo von Hofmannsthals Ein Brief}2 Diese Krise offenbart sich als Sinnkrise und Suche nach einem neuen Verständnis des Menschen auf der Welt.[12] [13] „Dieser Absicht zu entsprechen, löst er zunächst das Individuum zu völliger Unabhängigkeit von aller Umwelt los, entgliedert es jeder Verbindung, stellt es [...] blos auf sich selbst.“[14], schreibt Hermann Bahr dazu in seinem Essay Zur Kritik der Moderne.
Doch die Auflösung des Ichs wird nicht nur thematisch verarbeitet, sondern zeigt sich auch in der Form der Texte. Die Realität kann nicht mehr durch die traditionellen Formen verarbeitet werden, deshalb suchten die Autoren nach neuen Konzepten, in denen Momentaufnahmen, Diskontinuität und ein freier dramatischer Ablauf vorherrschten.[15] Die Autoren der Moderne griffen zu diesem Zwecke auf kürzere Prosaformen - wie das Märchen - zurück und entwickelten eine deutliche Abgrenzung zu dem bürgerlichen Roman. Entgegen der traditionellen Formen, in denen die Figuren eine stabile Identität vorweisen, wurde dieses Modell von den Autoren der Moderne als überholt angesehen.[16] Hugo von Hofmannsthals Protagonist in Das Märchen der 672. Nacht durchläuft keine Entwicklung, sondern wird durch „Ziellosigkeit, Ich- Spaltung und impressionistischen Selbstverlust“[17] geprägt. Eine umfassende Darstellung der Lebensgeschichte ist nicht mehr möglich. Auch die Erzählperspektive ändert sich. Die bis dahin vorherrschende 'Nullfokalisierung' wurde als nicht mehr ausreichend empfunden, da sie sich zu sehr von der Figur distanziere. Deshalb soll die Figur selbst zum Sprechen kommen. Dies passiert in einer Form von 'erlebter Rede', die dem Leser Zugang zu den Empfindungen gewährt.[18]
3. Die Wiener Moderne
Der Beginn der Wiener Moderne wird auf das Jahr 1889 datiert und als spezielle Strömung innerhalb der Moderne verstanden. Die ersten Anzeichen zu einem Wandel in der Literatur Wiens zeigten sich in der Monatszeitschrift Moderne Dichtung, welche von E.M. Kafka gegründet wurde. Dort klangen die ersten Veränderungen in Österreich an, welche er schon vorher von Hermann Bahr in einem Briefwechsel verlangte:[19] Er forderte eine neue österreichische Literatur, ein neues Programm, während Bahr eine eher pluralistische Auffassung der neuen Dichtung vertrat.
Die Gründung der Zeitschrift Moderne Dichtung kann also als eine Art „Auftakt“ zur Wiener Moderne angesehen werden. Genauso wichtig istjedoch Hermann Bahr, welcher in seinen Essays die wichtigsten Fragen der neuen Literatur diskutierte. Die Suche nach dem „Ganzen“[20] und das Thema „Niedergang und Zerfall“[21] lassen sich auch geschichtlich und politisch begründen: Der Zerfall des Habsburger Reiches nach dem Krieg gegen Preußen und das Streben der Kleinstaaten nach Unabhängigkeit zerstörte Österreich als ganzen Staat brachten die Frage nach dem Ich im Zusammenhang der Welt in den Fokus.[22] Diese Fragen sollten auch durch die Naturwissenschaften und Philosophie beantwortet werden. Ernst Mach, welcher als „letzter Universalgelehrter“[23] der Epoche gilt, stand schließlich als Vorbild für Hermann Bahrs Überlegungen und seiner revolutionären These vom „unrettbaren Ich.“[24] Und auch Hugo von Hofmannsthal beschäftigte sich mit Machs Analyse der Empfindungen, besuchte Vorlesungen des Naturwissenschaftlers und erwähnte ihn als Lehrer seiner Dissertation.[25]
3.1. Hermann Bahr und der Beginn der Wiener Moderne
Nachdem sich Hermann Bahr im Jahr 1890 in Wien niedergelassen hatte, veröffentlichte er verschiedene Aufsätze mit theoretischen Überlegungen zur Literatur. Er wollte mit seinen Publikationen die literarischen Tendenzen Frankreichs, die er bei seinem Aufenthalt in Paris kennengelernt hatte, auch in Deutschland bekannt machen.[26]
Die Grundgedanken seiner Thesen übernahm Bahr aus der impressionistischen Malerei. Der subjektive Eindruck soll in der unmittelbaren Empfindung abgebildet werden. Für ihn brachte sie „eine Anschauung der Welt mit sich [...] die in den letzten hundert Jahren erst möglich geworden ist.“[27] Seine Anschauung ist subjektiv und sinnesbetont, die Wahrheit wird durch individuelle Empfindungen relativiert. Der Akzent rückt von dem Gegenstand selbst auf den Prozess der Rezeption.[28] Ein Jahr nach der Publikation seines Moderne Aufsatzes im Jahr 1890 veröffentlichte Hermann Bahr einen Sammelband mit dem Titel Zur Überwindung des Naturalismus.[29] Darin schildert er eine Art Entwicklung von der naturalistischen Phase über eine psychologische Gestaltung zu einem neuen Programm, welches das „Neue im Nervösen“[30] sucht. Die Schlagworte 'Stimmung' und 'Empfindung' sollen zu Schlagwörtern der Wiener Moderne und vor allem für die Jung-Wiener werden.
Hermann Bahr hat mit seinen Publikationen den Anstoß zu einer Moderne in Österreich gegeben und gilt als Propagandist für die Jung-Wiener, zu denen auch Hugo von Hofmannsthal gehörte.
Hugo von Hofmannsthal und der Kreis des Jungen Wien
Hugo von Hofmannsthal gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Wiener Moderne. Auch andere namhafte Autoren wie Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann und Felix Salten gehörten dem Kreis der Jung Wiener an.[31] Im Gegensatz zu anderen Gruppierungen (wie dem George-Kreis) waren die Jungen Wiener keine festgelegte Gruppe. Ihr Zugehörigkeitsempfinden beruhte vor allem auf dem gemeinsamen Bewusstsein, dass sie den Erscheinungen der zeitgenössischen Literatur ausgesetzt waren und sich mit einer moderneren Einstellung gegen das Alte, Rückständige wenden mussten.[32] Damit waren sie jedoch im literarischen Umfeld im Österreich Anfang 1890 isoliert.[33]
Insbesondere sahen sich die Autoren durch die „Dekadenzproblematik“[34] miteinander verbunden, in der sich die Erfahrungen mit der zivilisatorischen Moderne und der Entwicklungskrise derjungen Heranwachsenden zu einer umfassenden Existenzkrise verflochten. Die Bindung an die Eltern, welche in Zeiten der Unsicherheit eigentlich Kontinuität und Sicherheit verspricht, förderte die Fremdheit gegen den profanen Alltag. So entstand eine Wechselwirkung, welche die Literatur des Jungen Wiens entscheidend prägte.[35] Dieses Problem prägt Hofmannsthal und seine Werke. Gedanken der 'Präexistenz' und das Gefühl der Bindungslosigkeit erstreckten sich bis in seine späteren Lebensphasen. Die Reaktion darauf ist ein Rückzug in ein „ästhetisch-kontemplativen Weltverhältnis“[36], das mit dem praktischen Leben in einen Konflikt gerät. Dass sich Hofmannsthal für seine Erzählungen das Märchen zum Vorbild nahm ist also nicht verwunderlich - es markiert eine Art Rückzug in eine Traumwelt, eine künstlich erschaffene Welt.
Gleichzeitig wandten sich die jungen Wiener Autoren, insbesondere Hofmannsthal, gegen die Reduktion der Dekadenz zum Klischee von 'l'art pour l'art'. Die reine weltenthobene Künstlichkeit reflektiert nicht die ambivalente Problematik der Dekadenz. Zwei entgegen strömende Kräfte, der Konflikt zwischen dem „ästhetisch-her- meneutischen Weltzugang der Dekadenz [...] und der Tendenz zur Befreiung aus ihrer lebensabgewandten Sterilität“[37] waren zwei wichtige Punkt in der Sichtweise der Jung-Wiener.
Ein weiteres bezeichnendes Stichwort in dem Wiener Literatenkreis war das 'Nervöse', eine Nerven-Hypochondrie, die umfassende Leiden an der Moderne selbst kennzeichnet.[38] In der Rede Der Dichter und diese Zeit fragt Hugo von Hofmannsthal: „Geht nicht von diesen dichterischen Seelen noch größere fieberhafte Unruhe aus, anstatt Beruhigung?“[39]
Diese Existenzkrise und die Suche nach einer neuen Ausdrucksform der Wiener Autoren spiegelt sich auch in Hugo von Hofmannsthals Text Ein Brief wider.
3.3. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief - Die Sprachkrise des Lord Chandos
Neben Hermann Bahrs Essays gehört der fiktive Brief von Hugo von Hofmannsthal zu einem der wichtigsten Texte der Wiener Moderne oder der modernen Literatur überhaupt. Er beschreibt die Krise des Lord Chandos, sich auszudrücken, seine Sprachlosigkeit und die Schwierigkeit, seinem Freund Francis Bacon diesen neuen Zustand begreifbar zu machen.[40] Er schreibt: „Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabeijene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen.“[41] Ihm ist es nicht mehr möglich, die Dinge in ihrer Allgemeinheit zu erfassen, sondern es zerfällt „alles in Teile, die Teile wieder in Teile“ (CB 181). Damit spiegelt Lord Chandos den Zeitgeist der Modernen Literaturproduktion wieder und reflektiert die fragmentarisierende Welterfahrung der Autoren der Jahrhundertwende.
[...]
[1] vgl. Dorothee Kimmich u. Tobias Wilke: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende. Darmstadt: 2006. S. 3.
[2] Kimmich,Wilke: (wieAnm. 1) S. 26.
[3] DagmarLorenz: WienerModerne. Stuttgart2007. S. 58.
[4] Kimmich/Wifke: (wieAnm. 1) S. 10.
[5] ebd.
[6] vgl. Kimmich/Wilke: (wie Anm. 1) S. 26.
[7] vgl. Helmuth Kiesel: Geschichte der literatischen Moderne. Sprache Ästhetik Dichtung im zwanzigstenJahrhundert. München2004. S. 124.
[8] vgl. Kimmich/Wilke: (wieAnm. 1) S. 48.
[9] Lorenz (wie Anm. 3) S. 91.
[10] vgl. ebd. S. 92.
[11] vgl. Kimmich/Wilke: (wieAnm. 1) S. 50.
[12] vgl. Kimmich/Wilke: (wie Anm. 1) S. 26.
[13] vgl. Lorenz: (wie Anm. 3) S. 165.
[14] Hermann Bahr: „Zur Kritik der Moderne.“ (Hrsg. v. Claus Pias) Weimar 2004. S. 46.
[15] vgl. Kimmich/Wilke: (wieAnm. 1) S. 71.
[16] vgl. ebd.
[17] ebd.
[18] vgl. Kimmich/Wilke: (wie Anm. 1) S. 73.
[19] vgl. Jens Rieckmann: Aufbruch in die Moderne. Die Anfänge des Jungen Wien. Österreichische Literatur und Kritik im Fin de Siècle. Königsstein/Ts. 1985. S. 43.
[20] Anna - Katharina Gisbertz: Stimmung Leib Sprache. Eine Konfiguration in der Wiener Moderne. München 2009. S.51.
[21] ebd.
[22] vgl. ebd. S. 52.
[23] Gisbertz (wie Anm. 20) S. 54.
[24] ebd.
[25] vgl. Corinna Jäger-Trees: Aspekte derDekadenz in Hofmannsthals Dramen und Erzählungen des Frühwerkes. Zürich 1988. S. 25.
[26] vgl. ebd. S. 24.
[27] Hermann Bahr: „Zur Überwindung des Naturalismus.“ (Hrsg. v. Gotthart Wunberg) Stuttgart u.a. 1968. S. 196.
[28] vgl. Lorenz: (wieAnm. 3). S. 55.
[29] vgl. ebd. S. 58.
[30] Bahr: (wieAnm. 27.) S. 160f.
[31] vgl. Rieckmann (wie Anm. 19): S. 69.
[32] vgl. Lorenz: (wie Anm. 3) S. 94.
[33] vgl. Rieckmann (wie Anm. 19) S. 69.
[34] Barz (wie Anm. 32) S. 214.
[35] vgl. ebd.
[36] ebd.
[37] Barz (wie Anm. 32) S. 214.
[38] vgl. Lorenz: (wie Anm. 3) S. 104.
[39] Hugo von Hofmannsthal: Der Dichter und diese Zeit. In: Hugo von Hofmannsthal. Sämtliche Werke. Reden und Aufsätze. Hrsg. v. Konrad Heumann und Ellen Ritter. Frankfurt a. M.: 1974. S. 141.
[40] vgl. Peter Küpper: Hugo von Hofmannsthal - Der Chandos Brief. In: Jan Aler (Hrsg.) und Jattie Enklaar (Hrsg.): Zur Wende desJahrhunderts. Amsterdam 1987. S. 75.
[41] Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke III. Berlin 1934. S. 1. Im folgenden markiert mit der Sigle CB.