Das Kunstmärchen zur Zeit der Jahrhundertwende – Tradition und Moderne in Hugo von Hofmannsthals Erzählungen 'Das Märchen der 672. Nacht' und 'Die Frau ohne Schatten'


Bachelorarbeit, 2011

37 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Literatur der Jahrhundertwende
2.1. Von der frühen zur klassischen Moderne
2.2. Das Subjekt in der Krise

3. Die Wiener Moderne
3.1. Hermann Bahr und der Beginn der Wiener Moderne
3.2. Hugo von Hofmannsthal und der Kreis des Jungen Wien
3.3. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief - Die Sprachkrise des Lord Chandos

4. DasdeutscheKunstmärchen
4.1. Das Kunstmärchen in der Romantik
4.2. Orientalische Tradition: Geschichten aus TausendundeinerNacht
4.3. Die Wiederbelebung des Kunstmärchens in der Wiener Moderne

5. Das Märchen der 672. Nacht und Die Frau ohne Schatten: Zwei moderne Märchen?

6. Hugo von Hofmannsthals Das Märchen der 672. Nacht
6.1. Intertextuelle Bezüge
6.2. TypischeMärchenelemente
6.3. Atypische Märchenelemente

7. Die Frau ohne Schatten
7.1. Intertextuelle Bezüge
7.2. Typische Märchenelemente
7.3. Atypische Märchenelemente

8. Das Kunstmärchen am Ende

9. Fazit

10. Literaturverzeichnis

1. Einleitung:

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es nur noch wenige Erzählungen, die in ihrem Anspruch und Umfang den bekannten Märchen der Romantik gleich kamen. Deshalb scheint es nicht zu verwundern, dass es nur wenige nennenswerte literaturwissen­schaftliche Untersuchungen über das Kunstmärchen zur Zeit der Moderne gibt. Eini­ge Märchenforscher wie Max Lüthi datieren das Ende des Kunstmärchens sogar ge­rade auf die Zeit der Jahrhundertwende.

Gegen diese Behauptung sprichtjedoch, dass auch noch in der Moderne Erzählungen veröffentlicht wurden, die in ihrer Form und Symbolik, wenn nicht als reines Kunst­märchen, dann doch als eine Art Mischform gewertet werden könnten. Zu diesen Er­zählungen gehört Hugo von Hofmannsthals Das Märchen der 672. Nacht, welches er selbst als Märchen betitelte. Und auch das spätere Werk Die Frau ohne Schatten weist märchenhafte Züge auf und erinnert stellenweise an die Vorbilder der Roman­tik und den orientalischen Märchenzyklus Geschichten aus tausendundeiner Nacht. Warum hat Hugo von Hofmannsthal in einer Zeit literarischer, kultureller und sozia­ler Umbrüche auf diese alte Form zurückgegriffen? Handelt es sich bei diesen Erzäh­lungen überhaupt um richtige Märchen? Wie definiert sich die Literatur der Jahrhun­dertwende und welche Rolle spielte das Kunstmärchen zu dieser Zeit? Wie entwi­ckelte sich dieses seit der Hochzeit der Romantik bis zur Moderne? Welche märchen­typische Motive und welche Symbole und Elemente der Moderne lassen sich in den Erzählungen Das Märchen der 672. Nacht und Die Frau ohne Schatten finden?

Um diese Leitfragen beantworten zu können, müssen zunächst einige Grundlagen ge­klärt werden. Schon alleine der Terminus 'Moderne' bereitet in der genauen Definiti­on Schwierigkeiten. Für den grob festgelegten Zeitraum von 1885/90 bis 1910 exis­tieren zum Teil konkurrierende oder auch komplementäre Bezeichnungen wie Im­pressionismus, Symbolismus, Neuromantik, Décadence oder Wiener Moderne.[1] Sie setzen unterschiedliche Schwerpunkte und betonen die Komplexität dieser Epoche. Um den Begriff genauer definieren zu können und ihn von der vorherigen Epoche abzugrenzen, soll in einem ersten Schritt die Entwicklung zur Moderne nachverfolgt werden. Anschließend soll die Entwicklung von der frühen zur klassischen Moderne nachgezeichnet werden, da somit das Lebensgefühl und der Zeitgeist dieser Epoche klarer herausgestellt werden kann. Ein wichtiges Thema dieser Zeit ist die aufkommende Krise des Subjekts in der modernen Welt. Das „unrettbare Ich“[2] reflektiert die Stimmung der neuen Generation von Autoren. Dieses Leitmotiv soll, schon im Bezug auf Hugo von Hofmannsthals literarisches Schaffen und die beiden zu analysierenden Erzählungen, genauer definiert werden.

Im zweiten Teil der Arbeit steht die Wiener Moderne im Vordergrund, da sie sich als eigenständige Strömung in Österreich zur Zeit der Jahrhundertwende entwickelte. Anknüpfend an die Entwicklung von der frühen zur klassischen Moderne stehen zu­nächst die Essays von Hermann Bahr im Fokus der Arbeit, in denen er die „aktive Kreation einer Moderne“[3] forderte und somit auch den Entwicklungsprozess zur Wiener Moderne voran trieb. Seine Schriften waren vor allem für die Gruppierung des 'Jungen Wien' ein wichtiger Leitfaden. Auch Hugo von Hofmannsthal gehörte dieser Gruppierung an. Deshalb wird anschließend die Bedeutung dieser Gruppe in der Wiener Moderne geklärt und welche Verbindung Hofmannsthal zu ihnen hatte. Als ein erstes Beispiel für Hugo von Hofmannsthals Schaffen in der Wiener Moderne soll sein Text Ein Brief stehen. Der fiktive Brief des Lord Chandos gilt als Schlüssel­text der Jahrhundertwende, da er zum Verständnis der Haltung der Modernen gegen­über der neuen Literatur beiträgt.

Der darauf folgende Teil der Arbeit thematisiert das Märchen und insbesondere die Entwicklung des Kunstmärchens. Im Vordergrund steht zunächst das Volksmärchen, da es als Vorlage des Kunstmärchens gilt. Es existieren bisher nur Annäherungen an eine Definition, deshalb sollen nur die wichtigsten Kernmerkmale herausgestellt wer­den. Auch der Zyklus Geschichten aus tausendundeiner Nacht gilt als ein Vorbild für die beiden Erzählungen von Hugo von Hofmannsthal, da dieser sich sehr für die ori­entalische Märchentradition interessierte. Deshalb steht dieses Vorbild im Fokus die­ser Arbeit, insbesondere im Hinblick auf die Unterschiede zum romantischen Kunst­märchen. Im darauffolgenden Kapitel wird diskutiert, ob das Kunstmärchen wirklich noch einmal in der Zeit der Moderne neu aufgegriffen wurde oder ob allenfalls die bereits erwähnten Mischformen entstanden.

Nachdem die theoretischen Grundlagen geklärt sind, wird im Analyseteil auf die bei­den Erzählungen Das Märchen der 672. Nacht und Die Frau ohne Schatten genauer eingegangen. Dabei werden die auffälligsten Merkmale der Erzählungen in den Kon­text der Literatur der Jahrhundertwende gesetzt und überprüft, welche wichtigen Mo­tive dieser Zeit in beiden Geschichten zu finden sind. Nacheinander stehen dabei die Intertextualität, traditionelle Märchenelemente und moderne Märchenelemente im Vordergrund. Das Ziel ist es herauszufinden, wie einerseits die Welterfahrung Hof­mannsthals in der Moderne die beiden Texte beeinflusst hat und wie andererseits die Vorbilder traditioneller Märchen in seine Erzählungen mit einflossen.

Im letzten Kapitel soll die anfängliche These, dass das Kunstmärchen wirklich zur Zeit der Jahrhundertwende sein Ende fand, kurz überprüft werden. Das Fazit bietet schließlich die wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit und liefert einen möglichen Aus­blick auf die weitere Märchenforschung.

2. Die Literatur der Jahrhundertwende

Den Zeitraum der Jahrhundertwende um 1900 zu bestimmen und zu definieren ist nicht einfach, da es sich um eine vielschichtige Epoche handelt. Viele Stile und Strö­mungen kamen zusammen und formten das, was als Moderne bezeichnet wird. Auf­grund dieser Vielfältigkeit ist es in der vorliegenden Arbeit nicht möglich, einen um­fassenden Überblick über die Moderne zu geben; deshalb sollen nur die wichtigsten Merkmale kurz dargestellt werden.

Der Beginn der Moderne wird auf die Jahre 1885/1890 datiert. Gründe für ein Um­denken in der Literatur lassen sich weniger in der Geschichte, als in einem neu auf­kommenden ästhetischen Bewusstsein finden. Die Modernen distanzierten sich von der Antike und forderten einen Wandel „ästhetischer Kategorien [...]“[4] und standen für „[...] die Evolution des Geschmacks und für die Historisierung der Kunst.“[5] Das Ende der modernen Epoche steht mit dem Ende des ersten Weltkriegs in Verbindung und wird deshalb auf die Zeit um 1918 verortet. Die Gründung der Weimarer

Republik und die Neuordnung Deutschlands wirkte auf viele Schriftsteller prägend und sie wandten sich neuen Themen zu. In der Literaturgeschichte wird das Ende dieser Epoche jedoch um 1910 angesetzt, da zu dieser Zeit der Expressionismus beginnt und ein weiterer ästhetischer Umbruch in Gang gesetzt wird.[6]

2.1. Von der frühen zur klassischen Moderne

Der Beginn der Moderne wird also mit einem neuen Denken und einem bewussten Abgrenzen von der Antike begründet. Schon um 1800 tauchte der Begriff'Moderne' in Friedrich Schlegels Fragmenten zur Literatur und Poesie auf.[7] Zwar lässt sich auf Grund weggelassener Buchstaben nicht genau bestimmen, in welchem Zusammen­hang er den Begriff nutzte, jedoch kann man eine deutliche Distanzierung zur Antike herauslesen.

Die Entwicklung der Moderne wurde vor allem durch die europäischen Metropolen Paris, Berlin und Wien vorangetrieben. Dort bildeten sich zu Beginn des 20. Jahrhun­derts neue Gruppierungen, die über den Stand der Literatur diskutierten, Ideen aus­tauschten und eigene Zeitschriften und Programme veröffentlichten.[8] Auch Hugo von Hofmannsthal bewegte sich im Kreis des „Jungen Wien“ oder „Jung-Wien“[9], genau­so wie Hermann Bahr, welcher in einem 1893 publizierten Aufsatz die wichtigsten Schriftsteller der Gruppierung vorstellte.[10]

Die Konfrontation mit der Großstadt als neuen Lebensraum hatte einen großen Ein­fluss auf die Welterfahrung der Schriftsteller. Die Stadt ist wandelbar, vergänglich, schnelllebig und unübersichtlich - tradierte narrative Modelle von Kontinuität und Kohärenz wurden außer Kraft gesetzt und an ihre Stelle trat eine skizzenhafte, dis­kontinuierliche Schreibweise.[11] Als Flaneur beobachtet der Schriftsteller die Welt und beschreibt sie dabei in Form von Momentaufnahmen und vertritt weniger einen voll­ständigen, objektiven Standpunkt, wie es noch die Naturalisten taten.

Durch diese grundlegenden Umwälzungen in der Welterfahrung und - beschreibung fühlte sich das Individuum nicht mehr im Stande, diese Eindrücke richtig zu verar­beiten und auszudrücken. Diese Unfähigkeit des Ausdrucks wird in der Literatur als 'Sprachkrise' oder 'Subjektkrise' bezeichnet.

2.2. Das Subjekt in der Krise

Durch die neue Weltanschauung der Moderne wurde erstmals die Stellung des 'Ich' in der Literatur in Frage gestellt. Besonders in erzählenden und dramatischen Texten der Jahrhundertwende werden die Prozesse des Selbst- und Identitätsverlusts thema­tisiert, so zum Beispiel in Hugo von Hofmannsthals Ein Brief}2 Diese Krise offen­bart sich als Sinnkrise und Suche nach einem neuen Verständnis des Menschen auf der Welt.[12] [13] „Dieser Absicht zu entsprechen, löst er zunächst das Individuum zu völli­ger Unabhängigkeit von aller Umwelt los, entgliedert es jeder Verbindung, stellt es [...] blos auf sich selbst.“[14], schreibt Hermann Bahr dazu in seinem Essay Zur Kritik der Moderne.

Doch die Auflösung des Ichs wird nicht nur thematisch verarbeitet, sondern zeigt sich auch in der Form der Texte. Die Realität kann nicht mehr durch die traditionel­len Formen verarbeitet werden, deshalb suchten die Autoren nach neuen Konzepten, in denen Momentaufnahmen, Diskontinuität und ein freier dramatischer Ablauf vor­herrschten.[15] Die Autoren der Moderne griffen zu diesem Zwecke auf kürzere Prosa­formen - wie das Märchen - zurück und entwickelten eine deutliche Abgrenzung zu dem bürgerlichen Roman. Entgegen der traditionellen Formen, in denen die Figuren eine stabile Identität vorweisen, wurde dieses Modell von den Autoren der Moderne als überholt angesehen.[16] Hugo von Hofmannsthals Protagonist in Das Märchen der 672. Nacht durchläuft keine Entwicklung, sondern wird durch „Ziellosigkeit, Ich- Spaltung und impressionistischen Selbstverlust“[17] geprägt. Eine umfassende Darstel­lung der Lebensgeschichte ist nicht mehr möglich. Auch die Erzählperspektive ändert sich. Die bis dahin vorherrschende 'Nullfokalisierung' wurde als nicht mehr ausrei­chend empfunden, da sie sich zu sehr von der Figur distanziere. Deshalb soll die Fi­gur selbst zum Sprechen kommen. Dies passiert in einer Form von 'erlebter Rede', die dem Leser Zugang zu den Empfindungen gewährt.[18]

3. Die Wiener Moderne

Der Beginn der Wiener Moderne wird auf das Jahr 1889 datiert und als spezielle Strömung innerhalb der Moderne verstanden. Die ersten Anzeichen zu einem Wandel in der Literatur Wiens zeigten sich in der Monatszeitschrift Moderne Dichtung, wel­che von E.M. Kafka gegründet wurde. Dort klangen die ersten Veränderungen in Ös­terreich an, welche er schon vorher von Hermann Bahr in einem Briefwechsel ver­langte:[19] Er forderte eine neue österreichische Literatur, ein neues Programm, wäh­rend Bahr eine eher pluralistische Auffassung der neuen Dichtung vertrat.

Die Gründung der Zeitschrift Moderne Dichtung kann also als eine Art „Auftakt“ zur Wiener Moderne angesehen werden. Genauso wichtig istjedoch Hermann Bahr, wel­cher in seinen Essays die wichtigsten Fragen der neuen Literatur diskutierte. Die Su­che nach dem „Ganzen“[20] und das Thema „Niedergang und Zerfall“[21] lassen sich auch geschichtlich und politisch begründen: Der Zerfall des Habsburger Reiches nach dem Krieg gegen Preußen und das Streben der Kleinstaaten nach Unabhängig­keit zerstörte Österreich als ganzen Staat brachten die Frage nach dem Ich im Zusam­menhang der Welt in den Fokus.[22] Diese Fragen sollten auch durch die Naturwissen­schaften und Philosophie beantwortet werden. Ernst Mach, welcher als „letzter Uni­versalgelehrter“[23] der Epoche gilt, stand schließlich als Vorbild für Hermann Bahrs Überlegungen und seiner revolutionären These vom „unrettbaren Ich.“[24] Und auch Hugo von Hofmannsthal beschäftigte sich mit Machs Analyse der Empfindungen, besuchte Vorlesungen des Naturwissenschaftlers und erwähnte ihn als Lehrer seiner Dissertation.[25]

3.1. Hermann Bahr und der Beginn der Wiener Moderne

Nachdem sich Hermann Bahr im Jahr 1890 in Wien niedergelassen hatte, veröffent­lichte er verschiedene Aufsätze mit theoretischen Überlegungen zur Literatur. Er wollte mit seinen Publikationen die literarischen Tendenzen Frankreichs, die er bei seinem Aufenthalt in Paris kennengelernt hatte, auch in Deutschland bekannt ma­chen.[26]

Die Grundgedanken seiner Thesen übernahm Bahr aus der impressionistischen Male­rei. Der subjektive Eindruck soll in der unmittelbaren Empfindung abgebildet wer­den. Für ihn brachte sie „eine Anschauung der Welt mit sich [...] die in den letzten hundert Jahren erst möglich geworden ist.“[27] Seine Anschauung ist subjektiv und sin­nesbetont, die Wahrheit wird durch individuelle Empfindungen relativiert. Der Ak­zent rückt von dem Gegenstand selbst auf den Prozess der Rezeption.[28] Ein Jahr nach der Publikation seines Moderne Aufsatzes im Jahr 1890 veröffentlichte Hermann Bahr einen Sammelband mit dem Titel Zur Überwindung des Naturalis­mus.[29] Darin schildert er eine Art Entwicklung von der naturalistischen Phase über eine psychologische Gestaltung zu einem neuen Programm, welches das „Neue im Nervösen“[30] sucht. Die Schlagworte 'Stimmung' und 'Empfindung' sollen zu Schlag­wörtern der Wiener Moderne und vor allem für die Jung-Wiener werden.

Hermann Bahr hat mit seinen Publikationen den Anstoß zu einer Moderne in Öster­reich gegeben und gilt als Propagandist für die Jung-Wiener, zu denen auch Hugo von Hofmannsthal gehörte.

Hugo von Hofmannsthal und der Kreis des Jungen Wien

Hugo von Hofmannsthal gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Wiener Moderne. Auch andere namhafte Autoren wie Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann und Felix Salten gehörten dem Kreis der Jung Wiener an.[31] Im Gegensatz zu anderen Gruppierungen (wie dem George-Kreis) waren die Jungen Wiener keine festgelegte Gruppe. Ihr Zugehörigkeitsempfinden beruhte vor allem auf dem gemeinsamen Be­wusstsein, dass sie den Erscheinungen der zeitgenössischen Literatur ausgesetzt wa­ren und sich mit einer moderneren Einstellung gegen das Alte, Rückständige wenden mussten.[32] Damit waren sie jedoch im literarischen Umfeld im Österreich Anfang 1890 isoliert.[33]

Insbesondere sahen sich die Autoren durch die „Dekadenzproblematik“[34] miteinander verbunden, in der sich die Erfahrungen mit der zivilisatorischen Moderne und der Entwicklungskrise derjungen Heranwachsenden zu einer umfassenden Existenzkrise verflochten. Die Bindung an die Eltern, welche in Zeiten der Unsicherheit eigentlich Kontinuität und Sicherheit verspricht, förderte die Fremdheit gegen den profanen Alltag. So entstand eine Wechselwirkung, welche die Literatur des Jungen Wiens ent­scheidend prägte.[35] Dieses Problem prägt Hofmannsthal und seine Werke. Gedanken der 'Präexistenz' und das Gefühl der Bindungslosigkeit erstreckten sich bis in seine späteren Lebensphasen. Die Reaktion darauf ist ein Rückzug in ein „ästhetisch-kon­templativen Weltverhältnis“[36], das mit dem praktischen Leben in einen Konflikt ge­rät. Dass sich Hofmannsthal für seine Erzählungen das Märchen zum Vorbild nahm ist also nicht verwunderlich - es markiert eine Art Rückzug in eine Traumwelt, eine künstlich erschaffene Welt.

Gleichzeitig wandten sich die jungen Wiener Autoren, insbesondere Hofmannsthal, gegen die Reduktion der Dekadenz zum Klischee von 'l'art pour l'art'. Die reine weltenthobene Künstlichkeit reflektiert nicht die ambivalente Problematik der Deka­denz. Zwei entgegen strömende Kräfte, der Konflikt zwischen dem „ästhetisch-her- meneutischen Weltzugang der Dekadenz [...] und der Tendenz zur Befreiung aus ih­rer lebensabgewandten Sterilität“[37] waren zwei wichtige Punkt in der Sichtweise der Jung-Wiener.

Ein weiteres bezeichnendes Stichwort in dem Wiener Literatenkreis war das 'Nervö­se', eine Nerven-Hypochondrie, die umfassende Leiden an der Moderne selbst kenn­zeichnet.[38] In der Rede Der Dichter und diese Zeit fragt Hugo von Hofmannsthal: „Geht nicht von diesen dichterischen Seelen noch größere fieberhafte Unruhe aus, anstatt Beruhigung?“[39]

Diese Existenzkrise und die Suche nach einer neuen Ausdrucksform der Wiener Au­toren spiegelt sich auch in Hugo von Hofmannsthals Text Ein Brief wider.

3.3. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief - Die Sprachkrise des Lord Chandos

Neben Hermann Bahrs Essays gehört der fiktive Brief von Hugo von Hofmannsthal zu einem der wichtigsten Texte der Wiener Moderne oder der modernen Literatur überhaupt. Er beschreibt die Krise des Lord Chandos, sich auszudrücken, seine Sprachlosigkeit und die Schwierigkeit, seinem Freund Francis Bacon diesen neuen Zustand begreifbar zu machen.[40] Er schreibt: „Zuerst wurde es mir allmählich un­möglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabeijene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen.“[41] Ihm ist es nicht mehr möglich, die Dinge in ihrer Allgemeinheit zu erfassen, sondern es zerfällt „alles in Teile, die Teile wieder in Teile“ (CB 181). Damit spiegelt Lord Chandos den Zeitgeist der Modernen Literaturproduktion wieder und reflektiert die fragmentarisierende Welterfahrung der Autoren der Jahrhundert­wende.

[...]


[1] vgl. Dorothee Kimmich u. Tobias Wilke: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende. Darmstadt: 2006. S. 3.

[2] Kimmich,Wilke: (wieAnm. 1) S. 26.

[3] DagmarLorenz: WienerModerne. Stuttgart2007. S. 58.

[4] Kimmich/Wifke: (wieAnm. 1) S. 10.

[5] ebd.

[6] vgl. Kimmich/Wilke: (wie Anm. 1) S. 26.

[7] vgl. Helmuth Kiesel: Geschichte der literatischen Moderne. Sprache Ästhetik Dichtung im zwanzigstenJahrhundert. München2004. S. 124.

[8] vgl. Kimmich/Wilke: (wieAnm. 1) S. 48.

[9] Lorenz (wie Anm. 3) S. 91.

[10] vgl. ebd. S. 92.

[11] vgl. Kimmich/Wilke: (wieAnm. 1) S. 50.

[12] vgl. Kimmich/Wilke: (wie Anm. 1) S. 26.

[13] vgl. Lorenz: (wie Anm. 3) S. 165.

[14] Hermann Bahr: „Zur Kritik der Moderne.“ (Hrsg. v. Claus Pias) Weimar 2004. S. 46.

[15] vgl. Kimmich/Wilke: (wieAnm. 1) S. 71.

[16] vgl. ebd.

[17] ebd.

[18] vgl. Kimmich/Wilke: (wie Anm. 1) S. 73.

[19] vgl. Jens Rieckmann: Aufbruch in die Moderne. Die Anfänge des Jungen Wien. Österreichische Literatur und Kritik im Fin de Siècle. Königsstein/Ts. 1985. S. 43.

[20] Anna - Katharina Gisbertz: Stimmung Leib Sprache. Eine Konfiguration in der Wiener Moderne. München 2009. S.51.

[21] ebd.

[22] vgl. ebd. S. 52.

[23] Gisbertz (wie Anm. 20) S. 54.

[24] ebd.

[25] vgl. Corinna Jäger-Trees: Aspekte derDekadenz in Hofmannsthals Dramen und Erzählungen des Frühwerkes. Zürich 1988. S. 25.

[26] vgl. ebd. S. 24.

[27] Hermann Bahr: „Zur Überwindung des Naturalismus.“ (Hrsg. v. Gotthart Wunberg) Stuttgart u.a. 1968. S. 196.

[28] vgl. Lorenz: (wieAnm. 3). S. 55.

[29] vgl. ebd. S. 58.

[30] Bahr: (wieAnm. 27.) S. 160f.

[31] vgl. Rieckmann (wie Anm. 19): S. 69.

[32] vgl. Lorenz: (wie Anm. 3) S. 94.

[33] vgl. Rieckmann (wie Anm. 19) S. 69.

[34] Barz (wie Anm. 32) S. 214.

[35] vgl. ebd.

[36] ebd.

[37] Barz (wie Anm. 32) S. 214.

[38] vgl. Lorenz: (wie Anm. 3) S. 104.

[39] Hugo von Hofmannsthal: Der Dichter und diese Zeit. In: Hugo von Hofmannsthal. Sämtliche Werke. Reden und Aufsätze. Hrsg. v. Konrad Heumann und Ellen Ritter. Frankfurt a. M.: 1974. S. 141.

[40] vgl. Peter Küpper: Hugo von Hofmannsthal - Der Chandos Brief. In: Jan Aler (Hrsg.) und Jattie Enklaar (Hrsg.): Zur Wende desJahrhunderts. Amsterdam 1987. S. 75.

[41] Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke III. Berlin 1934. S. 1. Im folgenden markiert mit der Sigle CB.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Das Kunstmärchen zur Zeit der Jahrhundertwende – Tradition und Moderne in Hugo von Hofmannsthals Erzählungen 'Das Märchen der 672. Nacht' und 'Die Frau ohne Schatten'
Hochschule
Bergische Universität Wuppertal
Note
2,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
37
Katalognummer
V203878
ISBN (eBook)
9783656305682
ISBN (Buch)
9783656306023
Dateigröße
580 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hugo von Hofmannsthal, Wiener Moderne, Das Märchen der 672. Nacht, Die Frau ohne Schatten, Moderne, Märchen, Kunstmärchen, Orient, Lord Chandos, Hermann Bahr, Romantik
Arbeit zitieren
Annika Bolten (Autor:in), 2011, Das Kunstmärchen zur Zeit der Jahrhundertwende – Tradition und Moderne in Hugo von Hofmannsthals Erzählungen 'Das Märchen der 672. Nacht' und 'Die Frau ohne Schatten', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203878

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